Kitabı oku: «Kafir», sayfa 4
DER KOPFSCHMERZ
In Arabisch bekam ich weiterhin Bestnoten, aber in allen anderen Prüfungen schnitt ich immer schlechter ab. In den ersten Klassen hatte ich mich irgendwie durch die Schule geschlängelt, jetzt verlor ich immer mehr den Überblick. Wenn ich eine Rechenaufgabe lösen sollte, war das kein Problem. Aber wenn ich einen ganzen Bogen mit Aufgaben bekam, wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte.
Meine neue Attitüde machte mich zudem bei den Lehrern unbeliebt. Nun zog ich zwar nicht mehr den Spott der anderen Kinder, dafür aber zunehmend den Zorn der Lehrkräfte auf mich. Und sie beschwerten sich bei meinen Eltern, dass ich ungezogen sei und weit unter meinen Möglichkeiten bliebe.
Meine Eltern hielten mich deshalb dazu an, zu Hause mehr zu üben. Wenn ich meiner Mutter zur Hand gehen wollte, schickte sie mich hoch zum Lernen. Aber die Texte und Zahlen verschwammen vor meinen Augen. Ich entfloh dem Druck wie gewohnt, indem ich das Viertel erkundete. Ich untersuchte jeden Winkel, kletterte über Bauzäune, schaute mir Baustellen und Gärten an.
»Bitte, Baba, schenk mir ein Fahrrad«, bettelte ich und stellte mir vor, wie ich durch die Nachbarschaft flitzen würde. Und eines Tages kam mein Vater tatsächlich mit Fahrrädern für mich und meinen kleinen Bruder nach Hause. Wir übten erst mit Stützrädern, dann ohne. Und bald erfüllte sich mein Traum, als wir um die Wette die Straße runtersausten.
»Ich bin viel schneller als du«, lachte mein kleiner Bruder mich aus. Er war zwei Jahre jünger, aber fast schon so groß wie ich und viel sportlicher. Ich strampelte mich hinter ihm ab und war so konzentriert darauf, ihn einzuholen, dass ich weder nach rechts noch links schaute. Im einen Moment war er noch vor mir, im nächsten lag ich im Krankenhaus.
Mich hatte ein Auto erwischt, mein Gesicht war geschwollen und mein Kopf tat weh. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung und musste auch zu Hause im Bett bleiben.
»Das arme Auto«, sagte unser Nachbar, als er bei uns vorbeischaute. »Was stimmt bloß mit dem Jungen nicht?« Ich lag im Bett, hörte ihn und fragte mich dasselbe.
Wenige Monate nach dem Autounfall rannte ich im Spiel hinter meinem kleinen Bruder her und rutschte dabei so heftig aus, dass ich wieder fiel, aufs Gesicht. Diesmal tat der Kopf nicht nur weh, mein Vorderzahn brach raus und ich kriegte eine Zahnprothese.
Irgendwie ging bei mir immer alles zu Bruch: Teller und Gläser und mein eigener Körper. Mein ältester Bruder war ernst und zielstrebig, meine Schwester brav und angepasst und mein kleiner Bruder geschickt und fleißig. Ich wollte auch gerne alles richtig machen, eckte aber ständig an.
Ich konnte die sorgenvollen Blicke meiner Mutter fühlen. Und mein Vater, der mich früher so viel angelächelt hatte, war nun oft wütend auf mich. Er konnte nicht verstehen, warum ich die Sachen nicht vernünftig hinkriegte, warum mein jüngerer Bruder schon vieles besser machte als ich. Und ich fand es ungerecht, dass ich für etwas bestraft werden sollte, was ich nicht mit Absicht falsch machte.
Eines Tages, als ich abends spät von einer Erkundung nach Hause kam, empfing mein Vater mich wütend am Eingang zu der Garage im Haus. »Ich hatte dir doch deutlich gesagt, wann du zu Hause sein solltest!«
»Ich wusste nicht, dass das wichtig ist, Baba.« Ich versuchte, an ihm vorbeizugehen.
»Du sollst deine Hausaufgaben machen, nicht durch die Gegend streunen!« Mein Vater tobte.
»Warum schreist du mich so an?« Damit machte ich die Situation nur schlimmer. Mein Vater zog die Augenbrauen zusammen und ich wusste, was kommen würde. Ohrfeigen gehörten für mich, wie für die meisten Kinder hier, zum Alltag. Aber diesmal traf mich der Schlag mit einer Wucht, dass ich aus dem Gleichgewicht geriet und rückwärts auf das Auto meines Vaters fiel. Völlig benommen griff ich mir an den Hinterkopf, hatte die Hand voller Blut und musste schon wieder ins Krankenhaus.
Meine Wunde am Kopf wurde genäht. Sie heilte schnell, der Bruch zwischen mir und meinem Vater aber nicht. Ich war offensichtlich nicht mehr sein kleiner Wildfang, sondern ein missratener Balg. Wir gerieten immer häufiger aneinander und die körperlichen Auseinandersetzungen wurden heftiger.
Mein großer Bruder ermahnte mich, nicht ständig den Zorn meines Vaters zu erregen, und meine anderen Geschwister bemühten sich, noch unauffälliger zu sein als sonst. Sie hielten Abstand zu mir, so als sei mein Zustand ansteckend. Nur meine Mutter stand mir bei. Wenn mein Vater zu sehr tobte, packte sie hastig unsere Sachen und verbrachte ein paar Tage mit mir bei ihren Eltern, bis mein Vater sich abgeregt hatte. Bevor wir wieder zurückgingen, ermahnte sie mich, mir mehr Mühe zu geben und meinem Vater besser zu gehorchen.
Ich guckte mir regelmäßig muslimische Cartoons und Kindersendungen an und versuchte, mir alle Ermahnungen und Ratschläge gut einzuprägen. Und bei jedem Gebet flehte ich Gott an, mir den richtigen Weg zu weisen. Doch er schien mir eine besondere Prüfung auferlegt zu haben. So sehr ich mir vornahm, mich zu bessern, ich konnte mich nicht in einen Alltag aus Schule und Lernen einfinden.
Aber so wenig die Schulbücher mich interessierten, so sehr fesselten mich muslimische Sachbücher und Jugendromane. Am liebsten las ich die Romane von Halit Ertuğrul. In seinen Erzählungen war die Hauptfigur immer eine verlorene Seele, die mit Hilfe des Glaubens wieder zurück auf den rechten Weg geleitet wurde. Der Prophet würde auch mir den Weg weisen.
DIE LIEBENDEN
Der kleine Gangster und ich kommen kichernd in der Wohnung an, die er zusammen mit seiner Cousine und ihrem Mann bewohnt.
Er ist als Kind von einem Querschläger erwischt worden und hat erlebt, wie sein Wohnort in Schutt und Asche gelegt worden ist. Er wirkt hart mit seiner coolen Attitüde und den vielen Narben im Gesicht. Aber wenn wir zusammen sind, ist er albern und kindlich.
Wir poltern kreischend in sein Zimmer, wo seine Freundin, die Schülerin, auf dem Sofa hockt und eine Serie guckt. Sie trägt ein weites T-Shirt und Jogginganzug und hat ihre langen blonden Haare auf ihrem Kopf zu einem Dutt hochgedreht.
»Moin, wie geht es dir?«
»Ich mache dir einen guten arabischen Tee«, sagt der kleine Gangster und verschwindet in der Küche.
Die Schülerin ist jung und klug. Ich mag sie gern und weiß, dass der kleine Gangster sie über alles liebt. »Geht es euch gut?«, frage ich sie.
»Ja, schon, solange wir alleine sind«, seufzt sie, stellt den Ton des Fernsehers runter und schüttet mir ihr Herz darüber aus, dass sie sich in Anwesenheit seiner arabischen Freunde oft wie ein Fremdkörper fühlt. »Immerhin kennen einige jetzt schon meinen Namen. Aber meistens bin ich nur ›die Deutsche‹.«
»Sie sind nur neidisch, dass er eine feste Freundin hat. Die können davon doch nur träumen.«
»Ach Quatsch«, sagt sie missmutig. »Für die bin ich doch eine Hure, mit der man nur zusammen ist, bis man eine ›richtige‹ Frau findet.«
Ich versichere ihr, dass er sie liebt.
»Das weiß ich. Aber wird er jemals wirklich zu mir stehen?«
»Er steht doch sogar zu mir!«
»Jaja, du bist zwar ein Kāfir, aber trotzdem ein Bruder.«
»Du bist doch auch eine Schwester«, sage ich.
»Na, glücklicherweise bin ich das nicht«, lacht sie. »Lieber Hure als Schwester. Ich ziehe garantiert kein Kopftuch an, damit sie mich respektieren.«
»Sharaf, Ehre!«, sage ich und mache ein feierliches Gesicht.
Der kleine Gangster ist für mich da, wenn ich es mit allen anderen verbockt habe. Er verteidigt mich selbst dann, wenn Leute ihn deswegen bedrohen. Er verzeiht mir alles. Und er ist der Grund dafür, dass ich Muslime nie pauschal hassen werde. Aber sein Freundeskreis erfüllt trotzdem jedes Klischee.
»Ich habe den Spieler mal gefragt, was Ehre ist«, erzähle ich ihr. »Er meinte, es sei das Wichtigste im Leben, konnte mir aber nicht wirklich erklären, was Ehre ausmacht.«
»Aber er weiß vermutlich genau, wann seine Ehre gekränkt ist«, sie verzieht das Gesicht. »Wenn seine Schwester, Mutter oder Frau ihm Schande macht.«
»Ja, die Ehre der Männer liegt zwischen den Beinen der Frauen, das ist zum Kotzen. Aber es tut natürlich gut, zu Hause den geilen Macker zu spielen, wenn man sonst immer der letzte Arsch ist.«
»Wo bleibt mein ehrenhafter Mann eigentlich so lange?«, fragt sie. Wir horchen auf und hören ihn in der Küche auf Arabisch mit dem Mann seiner Cousine streiten.
»Wie lange soll diese Person noch in unserem Haus sein?«, brüllt der Mann.
»Oh Shit, ich glaube, er ist sauer, weil ich hier bin.« Ich übersetze ihr den Wortwechsel.
»Nein, es geht bestimmt um mich. Hier können wir nicht sein, weil ich eine Hure bin. Bei meinen Eltern geht es nicht, weil er ein Kanake ist.«
Der kleine Gangster kommt rein und serviert uns den Tee. Er setzt sich neben die Schülerin, sie krault ihm seinen roten Bart.
»Ihr seid wie Romeo und Julia!«
»Na, hoffentlich nimmt unsere Liebesgeschichte ein besseres Ende!«, sagt sie.
»Das liegt in deiner Hand, Habibi«, sage ich dem kleinen Gangster. »Liebe statt Ehre!«
Er küsst sie sanft in den Nacken.
DER DJINN
»Was ist nur mit dem Jungen los?«, fragten sich die Lehrer, meine Eltern und die Nachbarn. Ich fragte mich das auch. Hatte Gott mich wirklich so geschaffen? War etwas bei der Geburt falschgelaufen oder war ich ein vertauschtes Kind? Kam es von der Beule vom Teppichunfall? Hatte der Autounfall meinen Kopf kaputt gemacht oder der Schlag meines Vaters?
Ich war elf Jahre alt, in der Schule wurden meine Noten dramatisch schlechter und der Haussegen hing schief. Weder die Beschwerden der Lehrer noch die Schläge meines Vaters, die Ermahnungen meiner Mutter oder meine eigenen Gebete halfen. Zu allem Übel entdeckte meine Mutter auch noch, dass ich nachts im Schlaf durch das Haus wandelte. Und so fand sie zu der Überzeugung, ich sei von einem Djinn besessen.
»Hör zu, ich habe einen amerikanischen Spezialisten in Kerkûk gefunden«, sagte sie eines Tages in den Ferien. »Mein Onkel wird uns hinfahren. Es ist ein sehr guter Arzt, er kann deine Füße heilen.« Ich war überrascht, denn wir hatten lange nicht mehr über meine Füße gesprochen. Aber dann ließ ich mich überreden. Natürlich wollte ich gerne besser laufen können.
Der Onkel meiner Mutter wartete schon draußen vor unserem Haus in seinem Auto.
Ich schaute meine Mutter an.
»Wir haben diesen Termin heute bekommen«, sagte sie nur.
Mein Großonkel begrüßte mich fröhlich aus dem Auto heraus, so, als solle es eher zu einer Feier als zu einem Arzt gehen. Das verwirrte mich, denn normalerweise hatte er nicht viel für mich übrig.
Wir fuhren raus aus der Stadt. Die Häuser wurden immer spärlicher und vor dem staubigen Fenster zog die Landschaft an mir vorbei. Hügel, trockenes Gebüsch, gelegentlich ein Haus oder eine Tankstelle. An der Scheibe klebte ein Insekt. Meine Mutter saß schweigend vor mir auf dem Beifahrersitz und lächelte mich gelegentlich durch den Rückspiegel an. Es dauerte ewig.
»Wann sind wir denn endlich da?«, fragte ich.
»Gleich, Kúřim.«
Irgendwann kamen wir zum Checkpoint vor Kerkûk.
»Salām«, begrüßte mein Großonkel den Beamten. Der guckte kurz und winkte uns durch.
Wir fuhren in die Stadt hinein, mein Großonkel nahm das Tempo runter. Er lenkte das Auto durch eine schmale, verfallene Gasse und parkte vor einer kleinen Moschee. Das 'Asr, das Nachmittagsgebet, war gerade vorbei. Männer kamen aus dem Haus und gingen an uns vorbei.
»Was sollen wir denn hier?« Ich war irritiert. »Das ist keine Arztpraxis.«
»Wir möchten vor der Behandlung beten«, sagte meine Mutter.
»Nein, ich warte im Auto.«
»Komm bitte mit.« Meine Mutter öffnete meine Tür, ich stieg zögerlich aus.
Mein Großonkel legte seinen Arm an meinen Rücken und meine Mutter lächelte mich an.
Ich hatte plötzlich Angst, riss mich los, drehte mich um und lief weg. Doch mein Großonkel fing mich schnell ein und ließ mich nicht wieder los. Die beiden schleiften mich förmlich zwischen ihnen her.
»Was ist bloß los mit dir?«, rief meine Mutter. »Du gehst doch sonst so gern in die Moschee.«
DIE ALBTRÄUME
»Heute Nacht habe ich wieder Albträume gesehen«, sage ich zu meiner Freundin. Ich sitze am Frühstückstisch, sie kommt aus dem Bad.
»Auf Deutsch hat man Albträume, man sieht sie nicht«, antwortet sie, während sie sich hektisch für die Arbeit fertig macht.
»Auf Kurdisch sieht man seine Träume«, entgegne ich leicht genervt. »Es fühlt sich auch so an wie in einem Kino, in dem nichts läuft außer Horrorfilme. Und ich kann die Augen nicht schließen. Da war eine große Demonstration in der Stadt, die Menschen hatten sich in weiße Gewänder mit spitzen Kappen gehüllt und trugen brennende Fackeln. Sie sahen aus wie der Ku-Klux-Klan, aber ich wusste, dass es Islamisten sind, die mich suchen.«
»Ach, Hase.« Sie küsst mich und lässt mich mit meinen Gedanken allein.
Die Träume kommen nicht zufällig. Sie brechen nachts über mich herein, wenn ich tagsüber zu viele schreckliche Nachrichten bekomme. Dann ist meine Zeit im Irak nicht mehr Vergangenheit, sondern läuft in meinem Nachtkino auf Heavy Rotation und zeigt sich in immer wieder neuen Bildern.
Der Auslöser ist diesmal ein Anruf von einer fremden Frau, die mich auf Facebook gefunden hat. Sie lebt in ständiger Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann.
»Er hat mir vorgeschrieben, was ich anziehen darf. Ich durfte das Haus nicht alleine verlassen. Ich hatte keinen Schlüssel für den Briefkasten. Aber ich kannte meine Rechte. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Polizei rufe.«
Dafür hat ihr Mann sie geschlagen. Sie schickt mir die Fotos von ihren Blutergüssen. Und dann hat er sie zusammen mit den gemeinsamen Kindern nach Ägypten verschleppt. Inzwischen ist sie frei, aber sie muss sich vor ihm verstecken. Er schickt ihr furchtbare Drohnachrichten. Mir ist beim Hören ganz schlecht geworden.
»Wenn ich dich finde, werde ich dich schlagen, bis du nicht mehr denken kannst. Ich werde dich zerstören. Du hast mir Schande gemacht und meine Ehre gekränkt.«
Ehre. Wie sehr ich dieses Wort hasse. Und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Diese Ohnmacht hasse ich noch mehr.
Ich räume die Wohnung meiner Freundin auf, sauge Staub, bringe den Müll weg und mache den Abwasch.
Ich liebe Ordnung. Wenn ich einen Ort in Ordnung bringe, fühlt sich die Welt ein bisschen besser an als vorher.
DER IMAM
Ich ließ mich unwillig zum Waschraum mitziehen, wusch mich mechanisch, stellte meine Schuhe im Eingangsbereich ab und trat in den Vorraum. Es war eine kleine, schlichte Moschee. Trotz der vertrauten Suren an den Wänden und der gewohnten Stimmung unter den Männern, die sich ihre Schuhe anzogen und beim Rausgehen redeten, hatte ich Angst.
»As-salāmu 'alaikum, Friede sei mit euch«, sagte der Imam und trat an uns heran.
»Wa 'alaikumu s-salām, und Friede sei auch mit dir«, antwortete mein Großonkel.
Der Imam war sehr groß und dick, sein Mund lächelte, seine Augen nicht.
»Komm mit mir«, gebot er mir, und ich folgte ihm ängstlich. Wir gingen an einer verschlossenen Tür vorbei, aus der Frauenstimmen herausdrangen. Weinen, Schreie, gemurmelte Gebete. Ich drehte mich verstört um, aber meine Mutter ging hinter mir und lächelte.
Der Imam führte mich in einen kleinen Raum und schloss die Tür hinter uns. »Leg dich auf den Boden«, sagte er. Ich drehte mich wieder zu meiner Mutter um. Sie nickte mir aufmunternd zu. Der Imam forderte mich erneut auf. Ich blieb stehen. So ging es eine Weile, bis der Imam meinem Großonkel zunickte. »Legt ihn auf den Boden.«
Ich versuchte mich zu wehren, aber mein Großonkel war stärker. Er legte mich auf den Rücken und kniete sich neben mich und hielt mich unten. Der Imam führte meine Mutter auf die andere Seite. Sie kniete sich ebenfalls hin, so dass sie den einen Arm und mein Großonkel den anderen festhalten konnte.
Ich war steif vor Angst und starrte geradeaus, wo der Imam sich mit einem Stock in der Hand vor mir aufbäumte und auf mich runterschaute. Er war ein sehr großer Mann, ich ein kleines Kind.
Er setzte ein Knie auf meine Brust und stieß es immer wieder mit großer Kraft nach unten. Es tat furchtbar weh und ich hatte Angst zu ersticken. Ich hielt die Luft an und spannte aus Angst und Schmerz dagegen an, während er sein Knie runterdrückte und mich anschrie, ich solle den Djinn rauslassen. Zuletzt konnte ich nicht mehr gegenhalten und stöhnte laut auf.
»Allahu akbar«, die Suren rasselten auf mich nieder, die Schläge auch. Der Imam drehte sich um und schlug mit dem Stock fest auf meine Fußsohlen, bis ich schrie.
»Ja, so ist es richtig. So kommt der Djinn aus ihm raus«, erklärte der Imam. Meine Mutter hielt fest und schaute zu. Ich sah die Sorge in ihren Augen, aber auch ihre Entschlossenheit.
Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich schreiend und weinend unter ihm auf dem Boden lag, bis er endlich zufrieden sagte: »Ah, der Djinn ist raus!«
Er griff mich an den Schultern und riss mich hoch. Er befahl mir, endlich mit dem Weinen aufzuhören und zeigte auf eine schwere Eisenkette, mit der er mich fesseln und ruhigstellen wolle, wenn ich nicht endlich leise sei.
Verängstigt und vollkommen leise folgte ich ihm allein in einen anderen Raum, in dem mehrere andere Kinder an den Wänden saßen oder lagen. Er zeigte auf einen freien Platz und forderte mich auf, mich hinzusetzen. Diesmal gehorchte ich ohne zu zögern.
Er deckte meinen Kopf mit einem Tuch mit heiliger Schrift zu, sprach einige Gebete über mich und ließ mich allein. Es war ganz leise im Raum, nur ein sehr kleines Kind wimmerte leise.
Nach einer Weile befahl der Imam mir aufzustehen. Er führte mich hinaus, übergab mich meiner Mutter und meinem Großonkel als geheilt. Mein Großonkel gab ihm seine Bezahlung, während meine Mutter mir meine Schuhe reichte.
Wir gingen schweigend raus zum Auto.
Auf dem Rückweg brach ein leises Schluchzen aus mir raus. Die Tränen liefen über mein Gesicht, während wir aus der Stadt fuhren. Die Häuser wurden wieder spärlicher und vor dem staubigen Fenster zog die Landschaft erneut an mir vorbei: Hügel, trockenes Gebüsch, gelegentlich ein Haus oder eine Tankstelle. An der Scheibe klebte noch immer das Insekt. Meine Mutter saß schweigend auf dem Beifahrersitz und wirkte beruhigt und zufrieden, während mein Großonkel routiniert durch den Verkehr navigierte und uns zuletzt vor unserem Haus rausließ.
Alles sah aus wie immer, doch nichts war wie vorher. Ich wich den fragenden Gesichtern meiner Geschwister aus, erzählte ihnen nichts und verkroch mich in meinem Zimmer. Ich schloss mich eine Woche dort ein und starrte an die Decke, während der Goldfisch neben mir in seinem Glas seine endlosen Runden zog.
Danach kamen die Albträume. Und sie gingen nicht mehr weg.
DIE DIAGNOSE
»Das ist eine eindeutige Diagnose. Sie haben ein ausgeprägtes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom«, sagt mir die Psychiaterin bei der Auswertung der zahlreichen Tests, die ich bei ihr durchlaufen habe. »Vermutlich hat das bisher niemand entdeckt, weil Ihre posttraumatische Störung vordergründiger ist. Das ADS ist bei Ihnen sehr ausgeprägt. Hat Ihr Umfeld nicht schon darauf reagiert, als Sie Kind waren?«
»Ich war einfach ein schwieriges Kind. Ich sollte mich zusammenreißen, mich mehr bemühen. Nur meine Mutter hat erkannt, dass ich nichts dafür kann.«
»Oh, das ist gut.«
»Naja, nicht wirklich. Sie dachte, ich sei von einem bösen Geist besessen und hat mich exorzieren lassen.«
Die Psychiaterin reißt die Augen auf. »Ist das im Islam üblich?«
»Nein. Es ist ziemlich strittig. Aber meine Mutter hatte von einem Imam gehört, der große Erfolge mit Geisteraustreibung hatte. Sie war verzweifelt und dachte, dass es mir helfen würde«, erkläre ich. »Meine Mutter ist sehr gläubig. In ihrer Welt gibt es für psychische Probleme keine anderen Erklärungen als die, von einem Djinn oder im schlimmsten Fall vom Satan besessen zu sein.«
»Sie scheinen ja sehr abgeklärt.«
»Inzwischen schon. Meine Eltern tun mir leid. Ihr Respekt vor religiösen Autoritäten ist so groß, dass sie zu grausamsten Handlungen fähig sind, wenn sie glauben, damit das Richtige zu tun.«
»Fast alle Eltern sind bereit, ihren Kindern Schmerzen zuzufügen, wenn sie glauben, dass es notwendig ist. Nur bei uns orientieren sich die meisten glücklicherweise an wissenschaftlich begründeten Empfehlungen. Und auch das bewahrt sie nicht vor Fehlentscheidungen.«
»Meine Mutter hat mir damit sicher helfen wollen. Sie hat den Djinn damit aber eher stärker gemacht.«
»Wir müssen sehen, ob wir Ihnen mit Medikamenten helfen können«, sagt die Psychiaterin.
»Ja, mal sehen, wie der Djinn darauf reagiert. Er hat schon viele Tabletten gefuttert.«
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