Kitabı oku: «FLEXEN», sayfa 2

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Katia Sophia Ditzler
Jakarta

Jakarta I

Das Bildungsministerium hatte zu viele Steuereinnahmen und investierte sie in Ausländer/innen, die für ein Jahr ihre Probleme zu Hause gegen indonesische Probleme eintauschen wollten. Die Mitstipendiat/innen aus Schwellen- und Entwicklungsländern studierten die indonesische Sprache, die aus dem Westen studierten irgendeine Kunst, denn was ist schon ein Jahr deines Lebens, wenn dein Leben gesichert ist? Wir würden Musik, Schattenpuppentheater und Tanz studieren. Als wir ankamen, war der Himmel grau und dramatisch, die Flughafenlichter waren Diamanten. Es dämmerte.

Während einer der viel zu langen Willkommensveranstaltungen sollten wir aufstehen und die indonesische Nationalhymne singen. Der Text wurde auf eine Leinwand projiziert. Ich blieb sitzen und sang die sowjetische Hymne, aus Spaß. Die Litauerin und die Ukrainerin neben mir waren nicht begeistert. Du und ich flohen in unser Zimmer, verschliefen den Rest des Orientierungsseminars, schauten im Fernsehen japanische Pathologiekrimis und hatten Sex. Die Kamera zoomte immer rein und raus, auf die geschockten Gesichter der Gerichtsmedizinerinnen. Wir schlichen uns raus und gingen spazieren. Es gab in der Umgebung nichts, ein paar Essensstände, Motorräder, die viel zu nah vorbeirasten. Die Leute schrien uns Wörter wie bule oder londo hinterher, die man zur grenzbeleidigenden Bezeichnung europäisch aussehender Menschen verwendet. Man musste ehrlich mit sich selbst sein: Man konnte niemals mit Leuten, von denen man sich zu sehr unterschied, sei es charakterlich, sei es finanziell, auf einer Stufe sein. In solchen Konstellationen gibt es aufgrund des Gefälles niemals echte Freundschaften. Wir würden in zwei verschiedenen, nah beieinander liegenden Städten in Zentraljava wohnen. Alles war voller Verheißung.

Im Westen Jakartas gibt es ein Diorama, in dem mit Kunstharz­figuren dargestellt wird, weshalb man 1965 unbedingt echte und angebliche Kommunist/innen sowie ethnische Chines/innen umbringen musste. Es ist dort gelegen, wo am 30.09.1965 die sieben Generäle umgebracht worden sind, was dann Suharto als Vorwand benutzte, um Sukarno loszuwerden, sich an die Macht zu putschen und Säuberungsaktionen durchzuführen. Ich versuchte, dich zu überreden, dorthin zu fahren, aber dafür war keine Zeit. Man brachte uns zum Flughafen. Ein Mann stand auf einer Friedhofsmauer, starrte auf die Straße wie ein König, obwohl sein Blick durch die Äste eines Baums behindert wurde. In den Flughäfen hingen Farbtafeln zur Urinselbstdiagnose. Ich diagnostizierte mich nicht. Wir flogen in verschiedenen Flugzeugen in unsere verschiedenen Städte. Es war September.

Jakarta II

Ich war zutraulich. Deshalb verlangte der Motorradtaxist einen anderen Preis, drei Mal so hoch wie abgemacht, vier Mal so hoch wie angebracht. Ich protestierte, er schrie, bezog die Passanten mit ein, beschimpfte mich. Ich lenkte ein.

Mein Hostel war in der Altstadt. Ich freundete mich mit einem Jungen aus meinem Zimmer an. Er war gerade aus Dublin angekommen und hieß Ryan/Eoin/Aidan mit Vornamen und Murphy/O’Sullivan/Kelly mit Nachnamen. Mein Ethnographinnenherz war glücklich. Er hatte einen Literaturpreis gewonnen, wollte Gedichte über Orang-Utans und die Zerstörung des Regenwalds schreiben. Alle heulten über Palmöl, ich sagte, dass es vielleicht keine Alternative zu Palmöl gäbe, weil Kokosöl aus Kokospalmen gewonnen wird und Kokospalmen sogar noch mehr Platz, gerodeten Regenwald und traurige Orang-Utans brauchen als Ölpalmen. Am liebsten hätte ich eine Fernsehsendung, in der ich Umweltaktivismusmythen auf süffisant-arrogante Weise aufklären würde. »Hey Miss…ter Miss…ter«, nervten die Leute am Straßenrand, als könnten sie sich nicht für ein Geschlecht entscheiden. Wir stolperten. Die Bürgersteige ergaben keine gerade Summe. Meistens gab es überhaupt keine Bürgersteige, wenn doch, dematerialisierten sie sich an den ungünstigsten Stellen oder waren ein schwarzes Loch, ein Portal zu den unendlichen Weiten der überforderten Kanalisation. Ein junger Amerikaner, Kai, war schon monatelang in diesem Hostel. Hatte eine Easy Listening-Band gegründet mit positiven, motivierenden, lebensbejahenden Texten. Er bat uns um Stichwörter, mit denen er dann positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über die immer gleichen vier Akkorde improvisierte. Ich ließ ihn positive, motivierende, lebensbejahende Liedtexte über Kätzchen mit Syphilis und Hundewelpen mit Gonorrhö improvisieren, was ihm gelang. Am Tag darauf gingen wir nach Chinatown. Ich kaufte einige kleine Wachteln aus einem überfüllten Käfig frei, für je 2000 Rupiah. Der Verkäufer gab sie mir in einer braunen Papiertüte, sie sahen aus wie sich windende Karamellbonbons. Ich ließ sie im chinesischen Tempel frei. Sie waren zu benebelt von der Freiheit, die streunenden Katzen fingen die verwirrten Tiere sofort, brachen ihnen das Genick, zerkauten sie. Sie wussten, was sie taten, und sie waren zu räudig und hautkrank, als dass ich irgendetwas mit ihnen zu tun haben wollte. Die Familie Kais stammte aus der gleichen Stadt wie Mao Zedong. Weil es chinesisches Neujahr war, stellte er ein paar Räucherstäbchen auf. Ich wollte ins Propagandadiorama fahren, vergaß das aber. Auf der Straße malte einer Porträts von Osama bin Laden. Wir skypten, während ich unterwegs war, ich zeigte dir die Stadt.

Der Süden von Jakarta war nachts verwunschen, voller maligner Pflanzen und gebogener Straßen. Ich ging zu einem Poetry Slam. Eine Bekannte trat auf, sie war halb Sizilianerin, halb Britin aus London. Vor einigen Jahren war sie nach Südafrika gezogen, wo sie der malaiischen Minderheit »deren Kultur« beibrachte.

Deshalb lernte sie indonesische Tänze. Zehn Jahre zuvor war sie aus ihrer Gewaltehe geflohen, zum Islam konvertiert, lebte seitdem zölibatär. Sie sang ein Lied darüber, dass Allah ihr ein Schlaflied singen und sie fliegen lehren solle. Ich lernte eine berühmte Oberklassendichterin kennen. Die Dichterin war sehr hübsch, ihre Tochter auch, ihr Mann bösartig. Später sollte er ein Übersetzungsstipendium gewinnen und zufälligerweise den Gedichtband seiner Frau auswählen. Ein paar Monate später outete sie sich als bipolar, woraufhin sie Aktivistin für die Aufklärung über psychische Krankheiten wurde. Fernsehteams kamen zu ihr nach Hause, baten sie, beim Geschirrspülen möglichst verrückt auszusehen. Sie protestierte öffentlich.

Die Exfreundin meines Vaters löschte mich auf Facebook. Ihre Familie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, ich chattete oft mit ihr. Wenn ich nicht schnell genug antwortete oder erklärte, dass es Nacht war in Indonesien, löschte sie mich. Kurze Zeit später schickte sie mir wieder eine Freundschaftsanfrage.

Ich traf mich mit Umer, einem Mitstipendiaten, der eine Firma gestartet hatte. Er importierte Skalpelle aus Pakistan nach Indonesien. Erzählte mir, dass er insgeheim Israel gut fand – aber wir stritten uns darüber, ob Armenien oder Aserbaidschan im Unrecht war. Verkrochen uns hinter Marmorsäulen in einer architektonisch lächerlichen Mall und tranken Kaffee. Auf einmal sprang jemand von hinten auf mich: Anzhelika – was ein Zeichen Gottes sein musste, da wir uns von diversen Anarchistencamps in Europa kannten. Ich dachte, sie sei in Sri Lanka, sie wusste nicht, dass ich in Indonesien war, und auf einmal waren wir zur gleichen Zeit in der gleichen Mall in Jakarta. Dann verließ ich Jakarta. Es war Januar, es wurde Februar.

Jakarta III

Jakarta ist Jayakarta, Stadt des Sieges. Ich dachte immer, ich würde jemanden treffen, der jung war, solange ich ebenfalls jung war. Wir würden langsam älter werden, und wenn ich in der Zukunft das alte Gesicht sehen würde, dann würde das junge noch zu erkennen sein.

Du hattest versucht, meinen Namen zu beschmutzen, Soldaten mit Halbwahrheiten rekrutiert, sie gegen mich in Stellung gebracht. Ich verkroch mich im klimatisierten Hostel, aß eine Mahlzeit am Tag. Ich fastete. So wollte ich meine Erinnerungen verhungern lassen. Ich wusch mich nicht, denn wenn man trauert, soll man verwildern. Du wolltest, dass ich mein Haar abschneide. Ich habe mein Haar nicht abgeschnitten. Ich ließ mich auf Motorradtaxen umherfahren und weinte ästhetisch, ging zu Kurzfilmabenden. Ich spürte, dass du in der Stadt warst.

Ich konnte mich nicht verteidigen. Ich ging in Wahnsinn. Du zwangst mich zu Gesprächen, ich fand immer mehr heraus. Ich provozierte dich, lachte über dich. In mir baute ich den Widerstand auf. Meine Sehnen waren durchlöchert wie die Bürgersteige dieser Stadt, und in unvorhersehbaren Abständen gab es tiefe Löcher, in die ich fallen konnte. Ich wusste nicht, ob du strategisch vorgingst wie ein Feldherr, oder ob du einfach nur den Horror der bevorstehenden Vernichtung spürtest, das Enttarntwerden, deine Auflösung in Dampf und Asche, wenn jemand dich durchschaute. Ich sah dich, ich erkannte dich, ich sprach das Zauberwort. Du wurdest zu Nichts, du gingst in die Leere. Ich durchschaute deine Gewalt, die Mechanismen und Taktiken deiner Kontrolle. Du warst ein schlechter Gefängniswärter. Du warst zu sehr überzeugt, alles im Griff zu haben, so dass du die Löcher in deinem Netz nicht gestopft hattest. Ich hatte die Löcher entdeckt, angefangen, die Maschen zu dehnen. Bis sie groß genug waren.

Ich hielt mein Telefon fest in der Hand und las Artikel über Cluster B-Persönlichkeitsstörungen. Nahm mir fest vor, ins Diorama zu fahren. War zu müde, obwohl ich nichts tat. Manchmal arbeitete ich ­diszipliniert und besessen an Projekten. Lud Tinder herunter. Am gleichen Tag ein erstes Date, in der Nähe der Jalan Thamrin. Der Typ hatte Psychopathenaugen. Er ging bald, ich trank weiter mit westlichen Expats. Einer war ein Exdiplomat aus Kanada.

Der Exdiplomat sang Sowjetlieder mit einem Vibrato. Ich kannte die Lieder entweder nicht oder sein Akzent war zu krass, aber ich war sehr angetan. Ich ging nach Hause, bevor ich zu betrunken oder die Situation zu sexuell werden konnte. Tanzte mit der jungen indonesischen Frau eines alten Amerikaners. Er sagte mir »Gut, dass du sie eingeladen hast, sie wird sonst immer sehr eifersüchtig, wenn ich mit jungen Mädchen rede«. Der Psychopath hatte seine ziemlich hohe Rechnung nicht bezahlt, wollte, dass ich sie bezahlte, versprach, mir das Geld zurückzugeben. Ich sagte Nein, löschte seine Nummer und seine Nachrichten, blockierte ihn. War stolz auf mich. Meine Wut hattest du mir gestohlen. Jetzt kam sie wieder – sie war mächtig. Du hattest mich zuerodiert, aber es war genug von mir übrig, um mich wieder aufzubauen.

In meiner Stadt brach der Vulkan aus. Instagram und Facebook waren voller Videos der Rauchsäule, die das, was auf der Erde passierte, an den Himmel verrieten. Ich fuhr zum Flughafen und klaute aus Versehen die Codekarte des Hostels. Es war Mai.

Jakarta IV

Das erste Mal war ich in Liebe gekommen, das zweite in Sehnsucht, das dritte in Trauer. Jetzt kam ich in Heilung. Ich war im gleichen Hostel, gab ihnen die Codekarte zurück. Jeden Morgen sah ich in meinen Mails nach, ob das Visum für Australien schon angekommen war. Die Flüge nach Melbourne wurden jeden Tag teurer. Eine Bekannte, die mal mit ihrer Schwester und ihrem besten Freund (der der Scheinehemann einer meiner besten Freundinnen war) bei mir in Deutschland gewohnt hatte, würde mich aufnehmen.

Adam saß da, aus Melbourne. Seine Arme und Beine waren zerkratzt nach einer viertägigen Wanderung in Sumatra. Er sagte, sein Sohn habe viel über Politik auf Reddit gelernt. Und von Jordan Peterson. Ich sagte ihm, dass dessen Verdienst nur sei, junge Männer von aufgeräumten Zimmern zu überzeugen und Hummersymbolik zu verderben. Er fand das alles sehr positiv, denn Hummer seien unterschätzt.

Er verhörte alle Gäste, entlockte ihnen ihre geheimsten Geheimnisse. Dann erzählte er mir ihre Geheimnisse weiter. Vielleicht sollte ich einen Youtubekanal aufmachen, auf dem ich dann kontroverse politische Thesen verbreiten würde. Leute würden angepisst sein. Ich würde viel Erfolg haben.

Eine Freundin aus meiner Schule, Hannah, war auch in Indonesien für ein Praktikum und gerade in Jakarta, für ein Visum. Wir gingen zu dem Poetry Slam, bei dem die goldene Jugend Südjakartas schlechte Gedichte las und mit zittrigen Stimmen sang. Sie sprachen leidenschaftlich darüber, dass sie gerade eine einmonatige Challenge machten: keine Plastikstrohhalme mehr zu benutzen.

Am Morgen fuhren wir zum Hafen, der nach Katzenfutter roch. Die Ratten waren schamlos. Die Menschen im Hafen lebten in Ställen vor den neuen Hochhäusern, die eigentlich niemals hätten gebaut werden dürfen, aber die Regeln pflegten sich zu ändern. Korruption macht die Welt flexibel. Sie sahen aus wie normale postsowjetische Hochhäuser in der kasachischen Steppe, in der es erst unendlich leer war und dann unerwartet eine Stadt auftauchte.

Auf einem der Boote stand in Himmelblau Revolution. Kinder winkten. Die Boote waren Brücken über den Kanal, Motorräder benutzten sie. Man setzte uns im Kampung-Aquarium aus – der Slum hieß so, weil Fische seit den 1970ern von der Inselgruppe vor der Küste hergebracht wurden.

Der Fährmann war ein lächelnder Hüter der Unterwelt, reichte den Leuten beim Aussteigen die Hand. Am Eingang der Unterwelt ein Stand mit Schokoladenbananen, pisang coklat, oder in der renitenten Liebe zu Abkürzungen piscok. Wo die Fische gesalzen wurden, lebten die fettesten Katzen von Jakarta.

Wir gelangten zum Fluss, in den die Scheiße der umgebenden Hochhäuser geleitet wurde. Die Scheiße formte Muster, ich machte ein Foto, das aussah wie ein Luftbild einer majestätischen Wüste. Zwei Monate später wurde für die Asian Games das Abwasser in eine Kammer unter den Fluss geleitet, der eigentliche Fluss nahm die Farbe eines Smaragds an. Eine Blondierte trug ein blaues Kolonialzeitkleid aus synthetischem Samt, drehte ihren Papierschirm in den Händen. Sie war dazu da, mit ihr Fotos zu machen, hatte viele Kunden.

»Hit me in the face I need to feel alive«, stand auf dem T-Shirt eines Mannes.

In der Ausstellung der Kunstuni Jakartas bestand ein Exponat aus Zitaten auf Papier: »Go as a river, true love heals, drink your tea, I am here for you.«

Am Taman Ismail saßen Chuck, Nesha und ich bei den Wahrsagern, ließen unsere Beine von Moskitos zerbeißen. Die Masseure griffen ihren Kunden erotisch ins Körperfett, sehr intim und sehr öffentlich. Der Alte neben mir heulte wie ein Wolf, obwohl Vollmond vorbei war. Wir aßen gebratenes Tempeh. Am Tag danach fuhr ich mit Nesha ins Diorama. Sie war eine der vielen Affären von Chuck, die alle voneinander nichts wussten.

Sie studierte, arbeitete in Teilzeit als Hijabmodel und Modedesignerin. Beim Diorama stand ein Schild:

»Links zur blutverschmierten Kleidung der Helden, rechts zum Brunnen des Todes«. Blut war rotgeschrieben, der Rest schwarz. In den sechs Schaufenstern, die die Entführung der sechs Generäle zeigten, hatten die Privatbibliotheken der Generäle immer kultivierte Bücher stehen. Die beiden größten Schaufenster waren für den besten Propagandacoup reserviert: Sie zeigten beide die versehentliche Erschießung der fünfjährigen Tochter des Generals Nasution aus verschiedenen Perspektiven unter Verwendung viel Acrylfarbenbluts, das aber schon lange nicht erneuert worden war und abblätterte. Denn wie kann man Besucher am besten von der absoluten Bösartigkeit des Kommunismus überzeugen, wenn nicht durch überlebensgroße Kinderleichen aus Kunstharz? Ich zeigte fassungslos rhetorische Propagandastrategien auf, kommentierte Falschinformationen. Nesha nickte. Sie sagte, sie seien hier mit ihrer Grundschulklasse gewesen.

»Was denkst du darüber?«, fragte ich sie.

»Ach, ich finde es schlimm, was die Kommunisten gemacht haben.« Sie lachte diplomatisch. Ich schwieg.

Ich erinnerte mich an das, was Edward gesagt hatte, als er ein Diorama an der amerikanisch-mexikanischen Grenze besucht hatte, das die Arbeit der Grenzschützer glorifizierte: Man stellt Dioramen immer dann auf, wenn reale Artefakte oder Fotos kein gutes Licht auf einen selbst werfen würden. Mit Dioramen schafft man ein Narrativ, und Geschichten sind immer gut, denn Geschichten mag man, selbst wenn sie unwahr sind.

Am folgenden Tag fuhren Juan und ich zum Taman Mini Indonesia, dort lungerten wir mit der Diaspora von Aceh herum. Juan lernte bei ihnen Bodypercussion. Er schlug auf seine Knie ein und seine Schultern. Ich fragte mich, ob ich mit ihm schlafen sollte. Dann dachte ich mir, dass er mich eigentlich nicht interessierte.

Es waren nur Männer da.

»Willst du mal heiraten?«, fragten sie mich.

»Ich will fünf Männer«, sagte ich, »habe genug Liebe für alle.«

»Sowas gibt es bei uns nicht. Nur vier Frauen pro Mann.«

»Würdest du vier Frauen wollen?«, fragte ich den Hübschesten.

»Nein, ich möchte nur eine. Meine Seelenverwandte«, sagte er, der Riaji hieß. Ich wollte Seilbahn fahren, er wollte mitkommen. Ich kaufte uns Tickets.

»Gehst du deine Familie oft besuchen?«, fragte ich Riaji.

»Meine Familie ist beim Tsunami 2004 umgekommen.«

Wir schwiegen. Dann fuhren Juan und ich wieder in die Stadt zurück.

Man bezahlt für alles. Ich habe bei der Lotterie am Anfang meiner Empfängnis viel gewonnen und vieles bekommen, das nicht wünschenswert ist. Ich habe die Exsowjetunion noch in der Gebärmutter meiner Mutter verlassen, was wahrscheinlich das Beste war, das hatte passieren können. Ich habe viel Glück und viel Pech gehabt, und manche Rechnungen wurden mir nie gestellt. Deshalb bezahle ich in Raten, vorsorglich. Ich weiß, dass noch viele unbezahlbare Rechnungen auf mich zukommen, aber ich war auch schon oft Millionärin, dank diverser Inflationen – in indonesischen Rupiah, iranischen Rials und vietnamesischen Dong.

Umer schickte mir auf Whatsapp Bildchen mit motivierenden Sprüchen und darüber, wie man sich von Liebeskummer zu heilen hatte. Dann wollte er, dass ich in sein Business einstieg, aber ich hatte keine Ahnung von Import und Export und Skalpellen. Das australische Visum kam. Ich buchte den nächsten Flug. Es war August.

Nadire Y. Biskin
Borderline

O[1] wird zu spät kommen. Der Grund dieser Verspätung lässt sich mit der Fußballfeldtheorie erklären. Man spielt ehrgeizig auf dem Feld, ein Tor schießen und noch ein Tor schießen. Man begehrt das Tor. Eines Tages stolpert man auf dem Fußballfeld, weil zum Beispiel die Schnürsenkel offen sind. Nicht mal Zeit für eine Schleife bleibt auf dem Fußballfeld. Das hat man davon und muss außerhalb des Feldes stehen, um die anderen beim Spielen nicht zu behindern. Schnell die Schnürsenkel zusammenbinden. Die tägliche Routine des Schnürsenkelschnürens bietet die Möglichkeit des Multi-Tasking. Man bindet sich die Schuhe zu und beobachtet dabei die anderen Spieler auf dem Feld. Man beginnt zu lachen, so viele Menschen rennen einem Ball hinterher, halten sich an die Regeln, die vorgegebene Zeit, singen Nationalhymnen und lassen sich vorschreiben, wie ihr Trikot auszusehen hat. Man geht wieder aufs Feld. Doch die Außenperspektive auf das Spielfeld lässt nicht mehr zu, dass man jemals wieder so ehrgeizig und angepasst mitspielt. O nimmt sich also an diesem Tag die Zeit auf dem Weg zum Ziel und stillt den Durst seiner Augen. O schaut sich die Backwaren in der Vatan Bäckerei an. Laugenstangen, Laugenbrötchen, Schrippen, Backwaren vom Vortag zum reduzierten Preis, Simit und Müslibecher. Die Waren erinnern o an die deutschen Nachbarn, die in den ersten Wochen nach der Eröffnung der Bäckerei des Deutschländers Umut stirnrunzelnd daran vorbeigingen. »Wozu diese Sesamringe? Wir haben doch Schrippen.« Nachdem das fremde Simit bekannt wurde, wurde es vertraut und gegessen. Die Deutschländerläden waren eine Bereicherung ohne einen Nachteil für die Deutschen. Die Preise blieben gleich. Die Läden der Deutschen mussten nicht schließen. Die Deutschländer lernten Deutsch, weil die Deutschen die Sprache der Deutschländer nicht lernen wollten. Sie konnten ihre Kunden auf Türkisch, Deutschländisch und Deutsch bedienen und beendeten ihre Fragen mit »wa«. Obendrein vertrieben die Deutschländer-Bäckereien die Einsamkeit der Deutschen. Stundenlang saßen Deutsche in den Bäckereien und wurden von den Deutschländern unterhalten.

O verlässt die Bäckerei Vatan ohne etwas gekauft zu haben, denn os[2] Portemonnaie liegt zu Hause. O läuft zur U-Bahn Afrikanische Straße im Afrikanischen Viertel. Der Name hält nicht, was er verspricht. Es fliegen höchstens nach zehn Uhr immer noch Flugzeuge über das Viertel nach Tegel, die aus Afrika kommen. Noise pollution ist ein Fremdwort hier. Nur die Kolonialherren machten ihren Namen alle Ehre und hauchten die Straßen mit ihren deutschen Namen afrikanisch an. O selbst wohnt auf der Müllerstraße. Sie ist 3,5 Kilometer lang. Im Fernsehen sagen die Omis, sie war mal der Kudamm des Westens. Ein Fachgeschäft berührte mit den Schultern ein anderes Fachgeschäft. Heute berühren sich nur die Schultern der betenden Männer beim Freitagsgebet in der Moschee. Die Opis ergänzen, dass alles jetzt in türkischer Hand sei. Sie finden diesen Umstand doof. Dabei haben sie bis heute nie das Geld gehabt, um in den teuren Fachgeschäften einzukaufen. Die Zugezogenen, die mit Geld und Status ihrer Väter nach Wedding ziehen, interessiert das nicht. Sie wünschen sich Vielfalt und verstehen darunter, dass man die verschiedenen Hautfarben, die sie von den Pantone-Hautfarbenfächer kennen, auf der Straße wiederfinden kann. Bunt soll es sein. Also sollen die türkischen Supermärkte weg. Stattdessen wünschen sich die Zugezogenen Bio-Supermärkte. Das ist natürlich nicht mit den Omis und Opis abgesprochen. So wünschen sich diese wieder die türkischen Supermärkte zurück. Die waren zwar nicht deutsch, aber wenigstens preisgünstig. Manchmal steht der Ali dem Kevin in der Einkaufsschlange näher, als der Konstantin tut.

Von der Bäckerei bis zum U-Bahn-Eingang ist es ein Kasino weit. Die Kasinos auf der Müllerstraße sollten weg. Doch sie bleiben da, während das Geld dort gewaschen wird und der Berliner, der dort rauskommt mit gesenktem Kopf und leeren Händen auf dem Bahnsteig mit o wartet. Dort im Untergrund gibt es dann doch Afrika. Auf dem Bahnhof sind Bilder von Tieren zu sehen, die man in Deutschland in Zoos sehen kann oder in Dokumentationsfilmen über Afrika. Nollywood-Filmstars und Ghana-Must-Go-Beutel sucht man auf den Bildern dieses Bahnhofs vergeblich. Dafür kommt die U-Bahn an und fährt Richtung Alt-Mariendorf. U-Rehberge ist die nächste Station. Dort hat o bereits die Schrebergärten der Deutschländer entdeckt. Man erkennt sie daran, dass sie als erstes in den Schrebergärten die Gartenzwerge entsorgen. Sieht man einen Gartenzwerg neben der Biotonne, aus dem Kartoffelschalen herausragen, dann weiß man, ein Deutschländer hat einen Schrebergarten gekauft. Die Schrebergärten lassen ihre Besitzer erkennen. Die Schrebergärten der Deutschländer haben Blumen mit Paprika und Tomaten ersetzt. O hat hier auch das legendäre Schwein der Rehberge entdeckt. Es ist das Haustier einer Anwohnerin. Sie meint, als sie sich damals dieses Tier zulegte, wollte sie sich vor dem Klingelstreich der Nachbarskinder schützen. Kurz darauf hatten die meisten Kinder Smartphones und stellten die Notwendigkeit des Schweins in Frage. Als o das erste Mal von der Station hörte, wusste o nichts von all dem. O stellte es sich oben unschuldig mit Rehen, Hügeln und einer Eisdiele vor. In der U-Bahn lauscht er jetzt dem Gespräch einer Frau, die aufgeregt am Telefon erzählt, dass die Schule, an der sie arbeiten wird, nach dem Typen benannt sei, der in der Rehberge die Ausstellung von Tieren und Menschen aus den deutschen Kolonien geplant hatte. Dann wäre der Krieg dazwischengekommen. Glück im Unglück. Die Unschuldsaura der Rehberge geht in dem Moment verloren und im gleichen Moment steigt ein Deutschländerjunge mit seiner vollen Unschuld ein. O hört den Frauen zu, die neben ihm sitzen und über den Jungen tuscheln. Seine Mutter hatte einen Schlaganfall. Seitdem ist sie ein Pflegefall und ihr ältester Sohn am Brennen. Die Frauen sagen, damals hat er Alkohol auf dem Spielplatz getrunken. Alkohol und dann noch in der Öffentlichkeit, ist eine Kombination, die für die Deutschländer im Wedding nicht üblich ist. Als sei das Alkoholverbot in der Öffentlichkeit aus Polen nach Berlin übergeschwappt. Die Routine des Jungen hat sich geändert. Er steht seit diesem Jahr stundenlang vor der City-Toilette oder vor Kaufland. Manchmal auch vor dem Friedhof, neben dem Institute Français, auf dem die Gastarbeitergroßeltern des Jungen am Wochenende gearbeitet hatten. Heute wird er seine Stunden in der U-Bahn verbringen. Ohne nach Geld zu fragen, ohne zu singen, ohne zu reden, ohne ein Spiel auf dem Smartphone zu spielen. O hört den Hunger in seinem Magen so laut schreien und denkt, dass deswegen sogar die tuschelnden Frauen ihn kurz anblicken und aufhören, über den Jungen zu reden. O überlegt, ob er aussteigen und im Gözleme-Laden frühstücken soll. Die Schlange dort ist kurz, seitdem Menschen mit mehr Geld, mehr Bildung, Bürgschaften und einem merkwürdigen Selbstverständnis in der Gegend selbstverständlich bevorzugt Wohnungen bekommen. Die Gözleme-Ladies erfuhren von einem jungen Studierenden, wieviel Miete er zahlt und wie er sich darüber freute, weil es so billig war und fortan stiegen die Gözleme-Preise mit den Mietpreisen zusammen und die Schlange wurde immer kürzer, das Lächeln der wartenden Kunden immer breiter.

Der U-Bahnfahrer, der davon träumt der Busfahrer der Buslinie 100 zu werden, kontrolliert die Bahn vom ersten bis zum letzten Waggon. »Endstation, der Ersatzverkehr fällt aus, wird nicht ersetzt. Aussteigen. Hab nicht ewig Zeit hier.« O steigt mit den Pfandflaschensammlern aus, die vormittags auf der Müllerstraße Pfandflaschen sammeln und am Nachmittag am Flughafen Tegel, um Alkohol kaufen, die Familie in den zurückgelassenen Ländern unterstützen oder um Pilgerfahrten nach Mekka finanzieren zu können.

O nimmt die Treppe in Fahrtrichtung hinten, die geradeaus zur Tramhaltestelle der einzigen Tramlinie im Westteil der Stadt führt, dann nach links zum Café mit Watson-Glühbirnen und Flaggen der WM-Länder, dem Kiosk mit Zigarren und Messern, dann nach rechts zum Dönerrestaurant Saray. Kiosk und Saray stehen sich so seit Jahren royal auf der Müllerstraße gegenüber. Auf den Treppen sieht o einen Mann in Weiß. Es ist der Syrer, der kaum Türkisch oder Deutsch kann und für wenig Geld im Folienkartoffel-Geschäft eines Deutschländers Tandoori-Brot backt. Der Deutsche zahlt dem Deutschländer wenig, der Deutschländer zahlt dem Syrer wenig und der Syrer zahlt davon seine teure Wohnung an den deutschen Vermieter aus dem Schwabenland. In diesem Bezirk haben alle so ihre Kreislaufprobleme.

Während o an dem Juweliergeschäft des Mardiner Christen vorbeiläuft, schaut o sich den Jesus-is-Lord-Imbiss, den Bismillah-Baklava-Laden, die AOK-Filiale, die Graffitis »No borders« und »Wohnraum ist keine Warte« an. Angekommen an der Ampel blickt o auf ein Gebäude mit Studierendenapartments. In Heidelberg wäre so ein Gebäude eine Hand des Stadtkörpers, auf der Müllerstraße hingegen hinterlässt es den Eindruck, ein Prothesefinger zu sein. Vollkommen im Vergleich zum Rest der Straße. Im Erdgeschoss soll laut einem Plakat am Fenster ein Bio-Supermarkt öffnen. Es ist grün. O läuft über die Kreuzung und schaut sich die restlichen Räume im Erdgeschoss an. Er blickt auf Menschen, die teilnehmende Beobachter in Wedding sein möchten, die mit Wörtern wie »echt« und »ehrlich« das Wort »arm« ersetzen. »Select a name« steht auf dem Klingel­display. Ein Arbeitsraum mit einer tapezierten Wand, auf dem Monstera-Pflanzenblätter abgedruckt sind. Ein Versammlungsraum mit eingerahmten Aphorismen: »You always have a choice.«, »Kindness is always free.«, »Never stop believing in yourself.«

O läuft schnell weiter, möchte das Gesehene auf dem Weg verlieren, wie Äpfel, die einem aus einer gerissenen Tüte fallen. Auf os linken Seite ist Risa-Chicken, der KFC á la halāl. Auf seiner Rechten ist der Coffee-Shop, vor dem möchtegern-open-city Psychiater ihren Espresso trinken und ihre zukünftigen Patienten beobachten. O schaut nach links zu einem Café mit einem englischsprachigen Namen, nach rechts zum Simit-Haus, der Stadtbibliothek und dem Graffiti »Hartz Vier essen Seelen auf« am Ärztehaus. O ist vor Karstadt angekommen. Jedes Mal, wenn o an dieser Kreuzung steht, schaut o auf die andere Seite der Straße und denkt an Frau Vogel. Frau Vogel kam aus der westdeutschen Provinz nach Berlin. Sie ist weder Favela noch Heidelberg. Aufgrund ihres mittelmäßigen sozio-ökonomischen Status bekam Frau Vogel nur eine Zusage für eine Wohnung in Wedding. Wenigstens sind mein Therapeut und meine Eismanufaktur fußläufig, tröstete sie sich. Bei Manufaktur-Eis lernten o und os deutschländische Freundin Frau Vogel sich zwischen Mango-Sorbet und Matcha-Eis kennen. Frau Vogel bestand darauf, die beiden auf ihrer Geburtstagsparty dabei zu haben. Frau Vogel, Herr Vogel, eine Heidelbergerin, eine Düsseldorferin und eine Frau Stern aus dem Osten saßen am Tisch mit o und der deutschländischen Freundin. Das Abendmahl von Wedding. Das Symposium der Fremden. Jeder Schluck Moscow Mule hatte die Wirkung eines Spa-Wochenendes. Das Gefühl von Wellness ging schnell zu Ende. Frau Vogel meinte: »Am Leopoldplatz steige ich nicht aus. Das ist mir zu viel Ghetto.« Sie klärte auf: »Ich meine die betrunkenen Menschen.« Die Deutschländerin fragte dann: »Was ist der Unterschied zwischen dir, die jetzt Alkohol trinkt, und denen? Ich hab’s. Du hast Geld und sie nicht.« Frau Vogel und alle anderen am Tisch wünschten sich in dem Moment Vögel zu sein, um aus der Wohnung, aus Wedding raus fliegen zu können.

O läuft weiter, vorbei am Hakiki-Döner-Stand, dem Tipster-Wettbüro und dem Job-Center, das regelmäßig frische Farbe, meistens Rot oder Braun, von Unbekannten verpasst bekam. Die nächstgelegenen U-Bahnhof- und S-Bahnhof-Stationen waren hier nach dem Bezirk benannt und stellten eine erste Grenze dar. Jene, die innerhalb des S-Bahnrings wohnten, deklarierten die Zone außerhalb des Rings als weniger angesagt. Jene, die außerhalb des Rings wohnten, wussten nichts davon. »Armes Mexiko, so nah an den USA« – bekommt bereits hier eine neue Dimension, wenn man weiter Richtung Mitte schaut. Die nächste Station der U-Bahn-Linie Sechs ist innerhalb des Rings, doch immer noch Wedding zugehörig. Als o das erste Mal mit der Bahn hier vorbeifuhr, freute er sich über das Werbeplakat eines Pharmakonzerns. Auf dem Plakat waren zwei Menschen zu sehen: ein Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin. Beim zweiten Mal freute sich o, weil der Wissenschaftler weiße Haut und die Wissenschaftlerin schwarze Haut hatte. Beim dritten Mal, als o davon ausging, dass das Bild ihm keine große Freude bereiten würde, wurde er überrascht. Diesmal fiel o auf, dass die schwarze Wissenschaftlerin dem weißen Wissenschaftler etwas zu erklären schien. Beim vierten Mal entschied o, das letzte Mal auf das Plakat geschaut zu haben. Die schwarze Wissenschaftlerin hielt Baumwolle in der Hand und schien ihren Kollegen – beide mit Blick Richtung Baumwolle, sie mit offenem und er mit geschlossenem Mund – darüber aufzuklären. Die U-Bahn fährt wieder ab dieser Station. O läuft trotzdem bis zur nächsten. Die Satellitenschüsseln, die Panke, die unter der Mettalbrücke vor dem Häuserblock fließt, passt noch zum Wedding. Im Gegensatz zur Fashion Week, die hier jährlich im Erika-Hess-Eisstadion stattfindet und exklusiv für Menschen ist, die in Mitte schlafen und sich so kleiden wie Kinder im Wedding angezogen sind, die als letztes Geschwisterkind die Kleidung der Älteren bekommen. Gated Communitys, die an Südafrikaurlaube erinnern, Häuser, über die Kinder von Stararchitekten behaupteten, ihre Väter hätten sie gebaut und Kinder von Weddinger Bauarbeitern, ihre Väter hätten sie gebaut, reihen sich an Häuser, in denen es Vegetarier und Jagdvereine Wohnungen als Mieter gibt. Die REWEs und Edekas mit prostitutionsartigem Smalltalk führenden Verkäufern, die von emotional verwahrlosten Kunden besucht werden, ebenso wie von heimlichen Paybackpunktesammlern, quetschen sich in die Chausseestraße ein. Eine Form von Kolonialismus erreicht die Straße, auf der Gesundheit, neben Reisen, die Hauptsäule des guten Lebens ist. Ein Supermarkt-LKW hält vor dem denkmalgeschützten Haus an. O nimmt heimlich einen Bergpfirsich aus der Delivery-Box. O isst den Bergpfirsich schnell auf, weil die Kinder, die im überteuerten Hostel gegenüber wohnen, sich frisches Obst nicht leisten können und o auf dem Bahnhof anstarren würden, um sich besser vorstellen zu können, dass sie diesen Bergpfirsich in dem Moment essen. Auf dem Bahnhof Schwartzkopffstraße steht o neben zwei Frauen, die sich Bergpfirsiche leisten können und sich auf Englisch unterhalten. Vermutlich lebt die eine Frau seit Jahren in Deutschland und hat nie Deutsch lernen müssen, da alle um sie herum, bis auf die Mitarbeiter der Ausländerbehörde, Englisch gerne als ihre zweite Muttersprache betrachten. Eine dritte Frau, die mit o die ganze Strecke bis hierherlief, läuft an den beiden Frauen vorbei und schreit »Gringo.« Während die deutsche Frau tröstet: »Darling, don’t bother, they call us Kartoffel, potatoes. There is all over the world racism.« Sie steigen alle vier in die Bahn, fahren am Naturkundemuseum vorbei. Die beiden Frauen bemitleiden, laut genug, so dass alle es hören können, all die armen Lehrerinnen, die in Wedding wohnen müssen. O ist eine weitere Station Ohrgast der beiden Frauen. Mittlerweile sind sie beim Thema Faltencreme angekommen und fragen sich, ab wann man von »reiferen Haut« spricht. Sie einigen sich beim Aussteigen auf siebenunddreißig Jahre. O fährt neben der Notfallbremse stehend eine Station weiter mit geschlossenen Augen und steigt am U-Bahnhof Friedrichstraße aus. Die Treppen, die Montag bis Samstag gefüllt sind mit Dussmanntüten, mit Staatsbibliothekstüten, Karls Erdbeeren Liebhaberinnen und Studierenden, die vor dem Grimm-Zentrum warten, um in der Universitätsbibliothek einen Sitzplatz zu ergattern. O gähnt die Leere auf dem Bahnhof an und in dem Moment entdeckt er einen Bildschirm auf dem Bahnhof: »Die BVG wünscht Ihnen einen schönen Sonntag.«