Kitabı oku: «FLEXEN», sayfa 3
Mirjam Aggeler
Wenn du lächeln würdest
Heute lieber Hose. Heute lieber unsichtbar. Heute lieber unbemerkt. Gestern den Welpenschutz verloren. Im Bus von X nach Y. Neben mir ein alter Mensch. Sich männlich behauptend. Ein freundliches Nicken, als ich mich zu ihm setzte. Ich glaubte an einen Zufall. Als sein Bein das meine berührte. Selbst beim zweiten Mal: Das Gleichgewicht verloren vielleicht. Nichts, was nicht passieren kann. Nichts, was der Rede wert wäre. Nur eine leichte Berührung. Nur eine leichte Gänsehaut. Ein leichtes Zurückzucken. Das war’s. Aber das war es nicht. Ich wurde schmaler neben ihm. Ausgleichsversuch. Er wurde breiter neben mir. Ausgleichsversuch. Von Gleichgewicht keine Rede. Ich versuchte, mir ein Bild zu machen, und schaute zu ihm hinüber. Ein Mustern überzog meinen Körper. Einmustern, Ausmustern. Und wieder, wie zufällig: Berührung der Beine. Meine schon fast neben dem Sitz. Mitleidiger Blick einer Frau, die sich bei der Tür an die Stange klammerte. Fast hätte ich mich daran festhalten können, aber sie zog ihn zurück und warf ihn aus dem Fenster. Lieber du als ich. Draußen das vorbeiziehende Brückengeländer, der Fluss in der Ferne, das Sonnenlicht auf dem Wasser. Möwenkreise über kleinen Köpfen. Es waren weniger geworden. Der Sommer in den letzten Zügen. Dort unten sich treiben lassen, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Ein Ziehen in meinem linken Bein. Griff auf meinen ganzen Körper über. Anspannung. Fast das Atmen vergessen. Der Versuch, mir nichts anmerken zu lassen. Denn was ist schon dabei. Ich bin keine Zimperliese. Nimm es als Kompliment. Die Frau an der Tür, ihr Blick nach draußen, noch immer. Nichts zu machen. Lieber du als ich. Aber ihre Fühler im Raum. Das war schon viel, mehr als nichts. Aber nicht genug. Die Ahnung, dass etwas hätte sein können. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich. Ein letzter Blick über die Schulter. Ein Lächeln. Gequält, quälend. Sie stieg aus. Die Sitzreihen leerten sich. Ein Impuls, den Platz zu wechseln. Die Sitzreihen füllten sich. Mein rechtes Bein im Durchgang, ein Störfaktor. Rückzug. Nein. Jetzt noch aufstehen. Als einzige. Eine Gegenbewegung. Was würden die anderen denken: Was hat die für ein Problem? Was hat er denn gemacht? Was ist denn dabei? Nimm es als Kompliment. Kein Wunder, nimmt die Frauen niemand ernst. Ein Theater wegen nichts. Oder: Was bildet die sich ein? Armer Kerl. Gemeine Unterstellung. Rufmord. So eine bin ich nicht. Oder: Zieht ein Kleid an und wundert sich. Er ist auch nur ein Mann. Dem Zauber erlegen. Das hast du doch gewollt. Gib es zu. Das wollt ihr doch alle. Hexe. Ich sah schon den Schein der Fackeln. Oder schlimmer noch: Sie zeigen auf ihn. Lustmolch. Grabscher. Mit ihren Fackeln in der Hand. Vergewaltiger. Das wollte ich nicht. So war es nicht. Ich wollte nur. Schuldgefühl. Die Bustüren schlossen sich. Ich sank auf meinen Sitz zurück. In mich zusammen. Sein Bein an meinem. Selber schuld. Ich riskierte noch einen Blick, verstohlen. Schuldbewusst. Und schaute in ein faltiges Gesicht mit buschigen Augenbrauen. Knollennase, weiches Kinn. Verschmitztes Lächeln. Ein Zwinkern in den Augen. Zwischen Opa und nettem Onkel. Und auf jeden Fall: unschuldbewusst. Nein. Kein Bewusstsein. Eine Gewissheit. Jetzt auch bei mir: Die Fackeln hätten nicht ihm gegolten. Ich schaute auf die Anzeigetafel, noch fünf Haltestellen. Sein Blick blieb an mir kleben. Herausgefordert. Selber schuld. Noch sieben Minuten. Durchatmen. So gut es ging. Den Umständen entsprechend, halbwegs. Bloß nicht nach links ausdehnen. Bloß kein Missverständnis wecken. Bloß nicht. Selber schuld. Das Summen der Stimmen gleichförmig. Alles in Ordnung. Nur vorne im Bus eine höhere Frequenz. Ein schreiendes Kind. Eine beruhigende Mutter. Bestimmt hatte sie einen langen Tag hinter sich. Und noch einen langen Tag vor sich. Nervös, unter all den Blicken. Den kritischen. Muss das sein. Was macht sie nur. Warum schreit dieses Kind. So geht das nicht. Es wird Hunger haben. Müde sein. So schwierig ist das nicht. Wahrscheinlich aus der KiTa geholt. Rabenmutter. Wir haben Feierabend. Sie legte es an die Brust. An meinem Bein ein anderes. Ich gab nach. Etwas noch. Etwas ging noch. Die Berührung blieb. Sein Fokus auf der stillenden Frau. Ich sah es in meinem Augenwinkel. Ekel. Erregung. Vielleicht beides. Ihr Blick tauchte ab auf das Gesicht des Kindes. Tauchte ein in einen eigenen Raum. Und schloss sich dort ein. Sicher. Das ist besser als nichts. Dort lässt sich einiges aushalten. Das Summen wieder ungestört. Gleichförmig. Auf dem Bein neben meinem eine Hand. Locker hingelegt. Zufällig bequem. Die Knöchel auf meiner Haut. Den Fuß noch ein wenig eindrehen, Knie gegen Knie. Wieder ein, zwei Zentimeter gewonnen, verloren. Meine Arme vor der Brust. Ich hielt mich. Auf Abstand. Verdreht. An den Rand gedrängt. Die Sitzkante. Einschneidend. Pochen in den Adern. In der Busmitte ein paar Anzüge. Zwei von ihnen linsten verstohlen in meine Richtung. Steckten die Köpfe zusammen. Einmustern. Der eine verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Ein aufmunterndes Lachen. Eine auffordernde Kopfbewegung. Ich kenne den Text: Was schaust du so böse, du machst mir ja Angst. Lächle doch mal. Dann wärst du viel schöner. Eine Grenze überschritten. Ungeahnt. Da kann keine gewesen sein: Denn schöner sein will jede. Muss jede wollen. Das ist Gesetz. Und wider die Natur, wer die Blicke nicht erntet, wer sie verrotten lässt. Nur einmal lächeln, für mich, bitte. Aber ich will nicht. Ein Lächeln kostet nichts. Wenn sie wüssten. Eingemustert, ausgemustert. Es kann sich an einem Lächeln entscheiden. An der Bereitwilligkeit zu gefallen. Die Entscheidung dagegen. Ein Wutgefühl. Ich gefalle nicht. Ausgemustert. Ein Mäuschengefühl. In der Falle, grau. Und kauernd. Als würde einer wie er. Eine wie mich. Blick nach rechts, das Fenster: eine Spiegelwand. Haare sortieren, Haltung korrigieren. Du gehst wie ein Bergbauer, die Erinnerung an eine Stimme aus einer anderen Zeit. Als wäre etwas falsch daran. Etwas daran ist falsch. Wo war der Blick nach draußen. Links, ein drohendes Missverständnis, gerade aus, ein Augenschein. Von einer Frau aus der Gruppe der Anzüge. Ich blieb hängen. Ein Ausmustern. Die Wände so nah, rücken immer näher. Werden mich zerquetschen. Mir den Rest geben. Wohin nur mit den Blicken? Die mich mustern. Einmustern, ausmustern. Was hat das mit mir zu tun? Nichts. Alles. Meine Beine klebten, zusammengepresst. Ob ich sie nicht doch hätte, ob das Kleid nicht zu, ob es genug, ob meine Haare noch, meine Schminke noch, ob sie nicht zu viel, zu wenig, ob ich zugenommen, abgenommen. Ob meine Brüste zu, ob sie überhaupt, wem gehört dieser Körper: Wer gibt mir den Rest? Wäre ich nur zu Hause geblieben. Aber es spielte keine Rolle. Bodenwelle. Halt verloren. Eine Hand an meinem Handgelenk. Hielt mich fest. Zog mich zurück auf den Sitz. Der alte Mann. Ein gutmütiges Lächeln. Gerade nochmal Glück gehabt. Nein. Das Fass bis zum Rand voll, schwappte über. In diesem Moment. Mit Glück hatte das nichts zu tun. Ich riss mich los. Und endlich die Haltestelle. Nicht meine, aber eine: im letzten Moment aufgetaucht. Ich zwängte mich zwischen den Leuten hindurch, ein Rempeln hier und da, für Rücksicht weder Raum noch Zeit: Ich musste raus, einfach nur raus. Hinter mir ein Raunen, sich schließende Türen. Unter mir ein schwankender Boden. Ein Blick zurück. Gesichter mit hochgezogenen Augenbrauen hinter Glas, verständnislos. Was war das? Ich schaute dem Bus hinterher, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Mich zurückließ. Mit einer Unsicherheit. Einer Erschütterung. Mit der ich allein war. Niemand sonst nahm sie wahr. Niemand ließ sich etwas anmerken. Alle gingen ihren Gang: seinen Gang. Alles in Ordnung. Aber ich war mir sicher. Der Boden unter meinen Füßen, ein Schwanken. Und dabei nichts Neues. Ausgedehnte Räume, bedrängte Räume, unterstellte, umstrittene, gestohlene Räume. Alles in Ordnung. Woher das Schwanken. Er war nicht nur zu nah, er war auch zu alt. Uralt. Urgroßvateralt. Ich stellte mir vor, wie seine Hand nach mir greift, aus dem offenen Grab heraus. Wie sie mich zu sich hinunterzieht, wie sie mich aus dem Leben reißt. Hinein in einen Sarg voller Trophäen. Alle schön, still, und alle tot. Es gäbe ihm nichts zu denken. Und die Trauergemeinde weinte nicht. Um mich. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Ein betretenes Schweigen vielleicht. Ein verlegener Blick. In frommer Andacht. Reihum Anerkennung. Nimm es als Kompliment. Darunter ein spöttischer Mund mit Bitterkeit und Neid gefüllt. Die Hand betrauernd, die nicht nach ihr gegriffen hat, die Trophäen verfluchend, zu denen sie nicht zählt. Nimm es als Kompliment. Das eine oder andere erleichterte Wegschauen. Lieber du als ich. Etwas beschämt, vielleicht. Noch einmal davongekommen. Noch einmal überlebt. Der Vorhang fällt. Applaus für den Schürzenjäger. Unerbittlich standhaft bis zuletzt. Siegestaumel der bewahrten Tradition, alterslos, nicht konservierte Grenzüberschreitung. Noch ein Gesetz. Und deshalb: fraglosen Beifall wert.
Aber heute nicht. Heute lieber Hose. Und Pullover. Kapuze auf, die Treppe hinunter. Heute lieber unsichtbar. Heute lieber keine Blicke. Sie können mir gestohlen bleiben. Die Zuvielen, die Zuwenigen, die mit Absicht. Denn es fragt sich keiner. Sagt höchstens einer, wenn du mehr lächeln würdest. Nimm es als Kompliment. Draußen die Sonne, die letzten Strahlen noch. Etwas zu warm. Der Pullover, die Kapuze. Nur etwas zu warm. Auszuhalten.
Deniz Ohde
Dresden – Chemnitz (drei Männer)
Es ist viel Polizei zu sehen am Bahnhof. In ihren dicken dunkelblauen Jacken gehen sie in der Halle herum und stehen vor den Aufgängen zu den Gleisen, stecken die Hände vorn in ihre schusssicheren Westen, drehen die Köpfe in Alarmbereitschaft hin und her. Der Eindruck weißer Turnschuhe und Sneaker-Socken unter Caprihosen drumherum, Einkaufstüten, die an mir vorbeiziehen auf dem Weg durch die Halle. Der Geruch von Parfümerie im Windschatten jeder Person, eine Mischung aus Handseifen, Weichspülern und sich überlagernder Duftwässer, die nach Wasserlilie oder Bergfrische riechen sollen, aber eine Schärfe an sich haben, einen lungernden Nachhang in der Luft, der in keinem natürlichen Gewässer vorkommen kann. Die Kläranlagen müssen verklebt sein damit. Die Abflüsse verstopft mit heruntergewaschenem Haarspray. Im Lidl, der sich in der Passage der Bahnhofshalle befindet, ist es der Eindruck hinter sich hergezogener Handwägen, schlurfender Schritte von älteren Männern in beigen Hosen, die sich behäbig umdrehen nach Weißbrot und Tomaten, die sich an den Weizensäcken vorbei schleppen. Die vier- und fünfköpfigen Familien, die Ölflaschen und Konserven in die Wägen laden, das Geräusch von Glas auf den Metallgittern. In Schlangenlinien muss ich an ihnen vorbei, von den Gemüseauslagen vor zu den Kühlschränken, immer einen Schritt ausweichen. Die unangenehme Alltäglichkeit, die mit mir an diesem Tag nichts zu tun hat, sich hier aber ins Bewusstsein drängt. »Mein Mund ist ganz trocken«, sagt die Kassiererin, nachdem sie einen Schluck Limonade getrunken hat, als Entschuldigung für den dadurch entstandenen Verzug. Es kommen Polizisten herein, murmeln etwas mit dem Sicherheitsmann, der vor den Kassen stehend alles im Blick behält. Einer spricht etwas in sein Funkgerät, der andere nimmt die Mütze ab, stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, in den Menschenschlangen jemanden wiederzuerkennen.
Vor der Buchhandlung stehen vier Polizisten im Halbkreis um einen jungen Mann, der etwas aus seinen Hosentaschen holt, sie müssen schwitzen in diesen dicken Monturen und unter den Mützen, unter der Schrift, in der sich das Licht reflektiert. Sie schauen an dem Mann auf und ab, abschätzig über seine Hosenbeine, abschätzig über sein Hemd, sie sprechen knappe Worte auf ihn ein, bei denen sie das Kinn heben; es sind zerknüllte Verpackungen, die er aus seinen Taschen zieht und den Polizisten in seiner hohlen Hand vorzeigt.
Im Zwinger stehen die Leute an den Brunnen, es sind Kinder mit Brustbeuteln, die schwatzen, es sind Paare mit Fotoapparaten vor dem Bauch, sind Touristengruppen, die von einem Mann mit Schlapphut und langem in die Luft gehaltenem Schirm angeführt werden, einmal durch die Anlage, über den roten Sand und unter den Statuen hindurch, die mit gequälten Blicken die Last der Torbögen tragen. Auf dem Platz vor der Semperoper stehen drei Jungen in schiefen Uniformen und spielen Musik, Pferde, vor Kutschen gespannt, schlagen mit den Hufen aufs Pflaster, eine Frau sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, eine Decke über den Beinen, obwohl es heiß ist. Da, wo es zum Fürstenzug geht. Wo zu sehen ist: Eine lange Ahnenreihe Männer auf Pferden, abgebildet auf Meißner Porzellan, August und Friedrich und Johann; eine Frau ist dabei, in Form einer zertretenen Rose; ein Schwarzer Mann, der zu Füßen der Pferde einen Windhund in Schach hält. Wo zu sehen ist: Menschen, die gegenüber Schlüsselanhänger verkaufen. Es gibt Burger für zehn Euro an der Frauenkirche, um die herum die Leute stehen und ihre Blicke hoch zur Kuppel schicken. Manche haben den Mund offenstehen in schierer Begeisterung, einen abgerückten Blick, einen, der sagt: Ich erlebe etwas. An der Kirche ist ein Banner aufgespannt: »Selig sind, die Frieden stiften.« Auch dahinter, an den Balustraden, stehen Sprüche, die schon etwas ausgeblichen sind vom Sonnenlicht: »Weltoffenes Dresden«, steht dort, »Stadt der Vielfalt.« Die schweren Ecken schlagen gegen die Geländer, die Leute mit den offenen Mündern nehmen es als Beweis, dass noch nicht alles verloren ist.
Es wird gesagt, es liege an der Rückständigkeit. Es wird gesagt, es liege an den Provinzen, an der Landflucht, liege an einer späten Entwicklung und an den leeren Bushaltestellen, es wird Verständnis aufgebracht. Im Zug war mir einer aufgefallen (bevor ich die Nachrichten gesehen hatte). Er ließ seinen Blick schweifen und blieb bei mir hängen, er musste etwas an mir erkannt haben. Er trug ausgebeulte Cargo-Hosen, Turnschuhe, eine Gürteltasche (vorne und mittig über dem Hosenverschluss), ein T-Shirt der Marke Yakuza, eine Schirmmütze, deren Saum sich löste, hielt eine Bierflasche in der Hand und seine Wangen waren rot. Man sagt, es läge an einer bestimmten Stillosigkeit, für die der Mann als gutes Beispiel hätte herhalten können; man hat sie oft genug hervorgehoben, hat darüber gelacht, auf die bunt gefärbten Strähnen der Frauen gezeigt, und gesagt, es läge daran, oder wäre zumindest ein Zeichen; man hat im nächsten Atemzug bedauernd den Kopf geschüttelt und weggeblickt. Der Mann sagte nichts, er drehte seine Bierflasche in der Hand, er blickte hervor unter seiner Schirmmütze, hatte ein angedeutetes Lächeln auf den roten Bierlippen, hatte einen wissenden Blick, und seine Bauchtasche baumelte zwischen seinen über zwei Sitze gespreizten Beinen. Man zieht scharf die Luft ein, wenn man eine andere Version sieht, eine die man leicht erkennt, eine, die einem vertraut ist aus Spiegel-Artikeln von 1995. Diese Version war mir später begegnet, beim Aussteigen. Ich hielt Sicherheitsabstand, drückte mich an die Stangen neben den Türen und gab vor, es wäre noch nicht mein Halt. Ich ließ ein paar Leute vorgehen und beobachtete, in welche Richtung der Mann ging, sah, wie er mit breitem federndem Schritt die Füße auf den Bahnsteig setzte, die Sohlen seiner Springerstiefel mussten angenehm nachgegeben haben, die weißen Schnürsenkel waren abgestimmt auf das Weiß und Grau seiner Hosen in Camouflage-Muster, das Grau der Bomberjacke, das Schwarz des Eisernen Kreuzes, das sich in Falten warf, als er den Kopf in den Nacken legte und die Hand hob, um einen Freund am Bahnsteig zu grüßen. Die Polizisten streiften ihn kurz mit ihren Blicken und sahen dann weg, peinlich berührt, als hätten sie einen Nackten ohne sein Einverständnis betrachtet. Man nimmt es als Beweis für eine Zeit, die hier langsamer laufen soll. In bestimmten Ecken, in bestimmten und sehr kleinen, sehr vernachlässigbaren Einheiten.
Ich habe das Glück, dass ich verschwinden kann. Dass vielleicht etwas an mir vermutet wird, wenn man mich aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, aber wenn ich aus dem Fenster sehe, ist es schon wieder vorbei. Sie sehen höchstens eine Brünette, eine linksversiffte vielleicht, eine, die dem Dresscode studierter Geisteswissenschaftlerinnen entspricht, aber das kann man austreiben. Ich nehme den Weg über die Brücke, fahre eine Station mit der Straßenbahn, die barocken Bauten, die ihre Spitzen in den Himmel strecken, das Licht so weiß und grell, dass es aussieht wie eine überbelichtete Schwarzweißfotografie. Ich nehme den Weg in das Viertel, in das ich passen soll, bemerke gleich, wie jung alle sind, wie viele Leute mit Pluderhosen hier herumlaufen, und dazwischen werden bunt bemalte Möbel verkauft, Bio-Gemüse und die ganze Auswahl regionaler Biersorten. Vor einem Laden, in dem meditiert wird, sitzen zwei mittelalte Frauen ohne eine einzige Falte im Gesicht, sie haben den Frieden gefunden. Eine von ihnen wendet sich mir zu und lächelt so ehrlich, dass ich meinen Blick auf meine schnellen Schritte richte. Familien mit Eistüten in der Hand besichtigen die Gegend und schauen an den verzierten Fassaden hoch.
Im Dönerladen ist keiner außer dem Verkäufer. Die vielen Tische und Stühle sind leer, ein Fernseher an der Wand läuft auf der leisestmöglichen Lautstärke. Durch die Pflanzen auf dem Fensterbrett sehe ich von meinem Platz aus die Leute, manche schlendern, manche fahren aufgebracht mit dem Fahrrad im Slalom um die Schlendernden herum. Zwei Punks sitzen auf der Treppe der Sporthalle gegenüber und ihr Hund läuft hinter ihnen auf und ab. Das Bild im Fernseher schwenkt um und eine Pressekonferenz beginnt, die Polizeidirektorin der Stadt Chemnitz bespricht die Vorkommnisse des Vortages, ich höre nur einzelne Wortfetzen heraus: »möchte mein Mitgefühl ausdrücken«, sagt sie, »sind für die kommenden Demonstrationen gut aufgestellt«, sagt sie. Neben ihr stehen die Bürgermeisterin, die Oberstaatsanwältin und der Innenminister des Landes und alle schauen sie auf die vor ihnen aufgebauten Mikrophone und in die Gesichter der Presseleute, die sich hinter den Kameras befinden. Ab und zu kommt das Klicken von Fotoapparaten durch. Eine Laufschrift drängt sich durchs Bild, die die Vorfälle der letzten vierundzwanzig Stunden zusammenfasst. Die Vorfälle, die ich nicht mitbekommen habe, weil ich mein Telefon ausgestellt hatte, absichtlich. Die Vorfälle, bei denen eine Person im Streit von zwei anderen erstochen worden ist, auf einem Stadtfest. Die Vorfälle, bei denen dieser Mord zum Anlass rechter Gruppierungen genommen wurde, um durch die Stadt zu ziehen, wutentbrannt. Die Vorfälle, bei denen diese Gruppierungen Migranten gejagt haben, bei denen das Wort Migranten wieder vorgeholt wurde, wie es immer wieder vorgeholt wird aus der Schatulle der falschen Kategorisierungen, die als Grund nicht genommen werden, sondern nur immer wieder die leeren Bushaltestellen, die in Bildern vorbei fliegen, die Fassaden der grauen Wohnblöcke hinter dem Schädel von Karl Marx. Immer öfter entlädt es sich und zieht als Laufschrift durch die Werbetafeln an den Bahnhöfen, hinter den Polizisten entlang, hinter den Personenkontrollen entlang; als Nachricht, die mich erreicht, wie ich vor dem Fernseher sitze und in mein Dürüm beiße. Eine Mutter kommt in den Laden mit drei kleinen Kindern, sie setzt jedes einzelne auf einen Stuhl an einem Tisch in der Nähe der Theke, sie bestellt bei dem Verkäufer, der immer wieder lächelnd die Kinder beobachtet, sie reichen Motivkarten unter sich herum, fahren sich durchs Haar, schieben ihre kleinen Brillen die Nasen hoch. Während sich das Brot im Toaster erwärmt, verschwindet der Verkäufer im Hinterzimmer. Er kommt zurück mit einem kleinen Stoffhasen in der Hand, er hält ihn über die Theke und sagt: »Ich habe ein Geschenk für euch.« An den Wänden, bezogen mit Tapeten, auf die Backsteine gedruckt sind, ranken sich die Pflanzen vom Fensterbrett bis über den Bogen, der zu den Toiletten führt. Ich wasche mir die Hände, eine Lampe hängt über dem Spiegel, und als ich aufsehe, wirft mein Gesicht Schatten. Die Leute im Fernseher fächern ihre Notizzettel auf dem Stehtisch mit den Mikrophonen auf. Es kommt einer rein, dem draußen sein Getränk umgefallen ist: »Hast du ein paar Servietten für mich?« Der Verkäufer gibt ihm einen schmalen Stapel in die Hand. »Reicht das, Bruder?«
Ich steige in einem anderen Bahnhof in meinen Zug nach Hause, weil er mir sicherer erscheint, jetzt, wo ich es weiß. In meinem Telefon schreiben Leute: passt auf euch auf, passt aufeinander auf, vor allem in den Zügen. Ich laufe auf die Bahnhofshalle zu, am Seiteneingang steht ein Mann und raucht. Er hat zurückgegeltes Haar, im Nacken ausrasiert, er trägt ein naturfarbenes Leinensakko und spitze Schuhe und im ersten Moment wirkt es, als wäre er ein Neureicher, der sich in die Gegend verirrt hat, der vielleicht eine Immobilie hier gekauft hat, der vielleicht auf der Suche ist nach etwas Szenigem, dem Besonderen. Ich denke es auf Grundlage seiner breiten Gürtelschnalle und dem dicken Ring an seinem Finger. Er schaut mich etwas belustigt an, wie ich zugehe auf den Eingang. Ich denke, ein Schnösel, ich denke, ein Macho, ich denke, einer, der sich vielleicht seiner selbst versichern muss, und ein abschätziger Blick ist eine gute, schnelle Gelegenheit. Er verlagert sein Gewicht dandyhaft auf ein Bein und zieht an seiner Zigarette, in Zeigefinger und Daumen gehalten. Ich erwidere seinen Blick, der auf meinem Gesicht klebt, der mir dabei folgt, wie ich die Stufen nehme, näher komme, das Abzeichen an seinem Revers erkenne. Sein Blick, der sich verzieht in ein genugtuendes Lächeln, wie er meine sich weitenden Augen beobachtet, mein Erkennen des gelben Lambdas auf schwarzem Grund, mein kurzer Schreckmoment, als ich es erkenne, das Zeichen der Identitären; und dann schaue ich weg. Frage mich, ob auch er etwas an mir erkannt hat. Frage mich, ob ein Wegdrehen des Kopfes gereicht hat. Ob mein Profil sich verändert hat in seinem Blick. Ob er nur etwas gesehen hat, das sich austreiben lässt, oder das, was mir in den Genen sitzt. Ob mir jemand hinterherlaufen würde, so schnell, dass ich rennen müsste, so schnell, dass ich mich retten müsste in einen anfahrenden Zug, so schnell, dass ich mich ducken, mich am Beinzipfel einer der Polizisten festhalten müsste und der würde entscheiden: was sitzt ihr im Gesicht –
Wahrscheinlich nicht.
Wahrscheinlich bin ich in Sicherheit.
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