Kitabı oku: «Affentanz», sayfa 4

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KAPITEL 8

In einem italienischen Restaurant. Ich sitze mit Frau Schulz, einer ketterauchenden Architektin aus der Steiermark, an dem für uns reservierten Tisch. Frau Schulz leidet unter einer massiven Essstörung und steht auf blutjunge Typen.

Von meinem Lammkotelett ist nichts mehr zu sehen. Auch die Bratkartoffeln habe ich verspeist. Nun widme ich mich, mit einem Stück Weißbrot bewaffnet, den Überresten meiner Soße. Frau Schulz hingegen kämpft noch immer mit der Vorspeise, einem riesigen, venezianischen Salatteller. Ungeschickt schiebt sie die frittierten Garnelen hin und her. Das Gemüse hat sie erst gar nicht angerührt.

„Natürlich gibt es noch Atelier- und Ausstellungsflächen, aber wir richten die Räume ja nur her. Als Architektin habe ich weder ein Nutzungs- noch ein Vorkaufsrecht.“

Ich nicke meiner österreichischen Freundin zu, stopfe mir das vollgetunkte Weißbrot in den Mund und lecke mir die Fingerkuppen ab. Frau Schulz wischt sich den Mund mit der Serviette sauber. Sie gönnt sich einen Schluck Rotwein, schiebt ihren Salatteller zu mir herüber und winkt elegant in Richtung Tresen. Der Kellner, ein gutaussehender Albaner Anfang zwanzig, sieht es und serviert meiner Freundin ihren zweiten Gang.

„Gefüllte Entenbrust mit Bärlauch-Risotto an Feigenquark“, raunt der albanische Adonis und lässt den Teller wie eine Frisbee-Scheibe über den Tisch schlittern.

Frau Schulz bedankt sich höflich, sieht zu mir und erklärt: „Was ich allerdings in Erfahrung bringen kann, ist, ob es derzeit ein Atelier-Programm gibt. Irgendetwas, das der Senat unterstützt. Der Vorteil bei so einem Modell sind die übersichtlichen finanziellen Belastungen.“

„Aber muss man da nicht ewig lange warten? Weil, ich bräuchte das Atelier sofort. Meinen ersten Entwurf muss ich in wenigen Wochen präsentieren. Das schaffe ich nur, wenn ich konzentriert und ohne Ablenkung arbeiten kann.“

„Nun, die Wartezeiten sind schon ordentlich, aber wenn du die Leute kennst, die die Bewerberlisten führen, ist da sicher was zu machen“, erwidert die Schulz.

„Wie gesagt, ich brauche das Atelier unmittelbar!“

Frau Schulz sieht mich skeptisch an und fragt: „Aber wie willst du dir denn ein freies Mietobjekt leisten? Hast du Geld geerbt?“

Ich mache mich über die Reste des venezianischen Salattellers her und antworte mit vollem Mund: „Du weißt doch, bei uns Ostlern gibt’s nicht viel zu erben, und das Wenige, was ich mal hätte bekommen sollen, habe ich schon lange durch den Schornstein gejagt. Aber ich habe einen Mäzen an Land gezogen, der mir finanziell unter die Arme greifen will.“

„Einen Mäzen, soso …“

Frau Schulz nickt anerkennend. Sie legt sich die Entenbrust zurecht und schneidet diese seitlich auf. Gekonnt löst sie ein Stück Fleisch aus, legt es sich auf die Zunge und kaut darauf herum. Mit angestrengtem Gesichtsausdruck würgt Frau Schulz den Bissen hinunter.

„Keine Ahnung, was das sein soll, gefüllte Ente ist es jedenfalls nicht.“

Mir wird übel. Ich taste nach meinem Glas, stürze den Wodka runter, um so Platz für die von der Schulz verschmähte Ente zu schaffen.

Gut eine halbe Stunde später. Ich kämpfe noch immer mit der Ente.

„Ich werde mal sehen, was sich da machen lässt. Aber versprechen kann ich nichts“, erklärt meine österreichische Freundin zum wiederholten Male.

Ich nicke benommen. Mein Bauch schmerzt. Der Gaumen brennt. Noch immer darf ich die ‚Reste‘ der Schulz’schen Portion vertilgen, nur damit sie nicht als mäklig rüberkommt. Widerwillig schaufelt meine Rechte Fleisch und Reis in mich hinein, während die Linke mir mit Hilfe der Speisekarte Luft zuwedelt.

„Das wäre wirklich, wirklich sehr lieb von dir“, antworte ich gequält.

Von der Bar eilt der Kellner herbei. Geistesgegenwärtig lasse ich von der Ente ab und schiebe den halbleeren Teller zu Frau Schulz rüber. Meine Freundin nimmt ihre Serviette, breitet diese über den Resten aus und lässt diese so verschwinden. Nur das Bärlauch-Risotto lugt noch unter dem Sichtschutz hervor, als wollte es gegen seine Entsorgung protestieren.

Der Albaner sieht uns mitleidig an und fragt: „War gut, aber zu viel, richtig?“

Der Trick mit der Serviette ist ihm offensichtlich bestens bekannt. Frau Schulz lächelt den jungen Mann an und entgegnet: „Ein wenig zu viel, so ist es.“

„Aber geschmeckt hat’s toll“, antworte ich und rülpse aus Versehen.

Der Albaner schüttelt den Kopf und räumt wortlos ab. Ob meine Freundin noch einen Nachtisch möchte, interessiert ihn nicht. Frau Schulz ist not amused. Sie sieht mich böse an und zischt: „Wenn du so weitermachst, werden wir hier nicht alt!“

„Wieso, das Essen war doch wunderbar, und überhaupt, der Kellner steht total auf dich, wie der dich angesehen hat. Das ist dir wohl entgangen?“

Die Schulz aber lässt sich nicht so einfach einlullen.

„Meine Güte, wie du isst, man könnte meinen, man hätte ein halbverhungertes Flüchtlingskind vor sich.“

„Ich hatte ja auch nicht vor, für zwei Personen zu essen, nur weil jemand anderes auf Kinderportionen konditioniert ist“, erwidere ich gereizt.

„Mein Magen verträgt halt nicht so viel. Das weißt du ganz genau. Ganz zu schweigen davon, dass das Risotto völlig versalzen war.“

„Kein Wunder, wenn du den Salzstreuer über dem Teller ausleerst.“

„Ach, jetzt bin ich wieder schuld, wie?“

„Das habe ich so nicht gesagt“, versuche ich die Situation zu entschärfen.

Zu spät, die Schulz verzieht verächtlich das Gesicht.

„Du bist doch bloß eifersüchtig, weil sich der junge Mann für mich interessiert.“

Ich entscheide mich, den Mund zu halten. Erneut steigt eine Druckwelle aus meinem Magen hoch. Ein halbverdautes Stück Ente legt sich in meiner Speiseröhre quer. Ich ringe nach Luft. Die Schulz aber stichelt munter weiter: „Da, schon wieder! Ein wenig mehr Manieren, wenn ich bitten dürfte!“

Mein Blutdruck steigt. Der Hals schwillt an. Der Kragen meines Hemdes droht zu platzen. Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Brust und würge die Ente ein zweites Mal hinunter.

„Als hätte ich es nötig, dir diesen Schnulli auszuspannen.“

Frau Schulzens Gesicht bekommt weiße Flecken. Beleidigt fummelt sie ihr Portemonnaie hervor und legt es demonstrativ auf den Tisch.

„Das war das letzte Mal, dass ich mit dir in dieses Restaurant gegangen bin.“

„Dann sind wir uns ja einig“, antworte ich mit hochrotem Kopf. Frau Schulz hebt ihren Arm und winkt den Kellner heran. Der Albaner eilt herbei, sieht zu uns herab und glotzt. Das dicke Portemonnaie der Schulz scheint ihn zu inspirieren. Er greift sich ungefragt vom Nachbartisch die Speisekarte und offeriert Frau Schulz charmant den nächsten Gang: „Darf ’s noch ein Nachtisch sein oder ein Wein?“

Frau Schulz erblüht und kehrt die Dame raus: „Gesättigt bin ich schon, das Essen war ja reichlich. Zu einem kleinen Wein sag’ ich jedoch bestimmt nicht nein.“

Die beiden sehen sich an und flirten. Ich selbst verstehe die Welt nicht mehr. Noch eben war der Typ total verstockt. Und jetzt gräbt er die Schulz an?

Der junge Mann trabt ab. Frau Schulz sieht triumphierend zu mir herüber.

„Da hast du es, der mag mich. Ich glaub’, ich komme jetzt öfter her, allein. Apropos öfter, wolltest du dich nicht noch mit Luca treffen?“

Ich stehe wortlos auf und werfe einen Zwanni auf den Tisch. Der junge Mann indes serviert den Wein. Erneut wirft er der Schulz heiße Blicke zu.

„Der geht aufs Haus, wenn Sie die Einladung erlauben?“

Frau Schulz erstrahlt. Ich kann noch immer nicht glauben, was da gerade läuft.

„Ich bin in Lales Bar, nur falls du noch rüberkommen magst.“

„Du musst nicht auf mich warten“, antwortet die Schulz und flirtet weiter mit dem Kellner.

„Und wie kommst du nach Hause?“, frage ich. „Zur Not nehme ich den Bus“, erwidert die Schulz, ohne mich anzusehen.

Natürlich nimmt sie nicht den Bus. Wie immer fahre ich sie noch nach Hause. Was zwischen ihr und diesem Kellner-Schnulli noch gelaufen ist, verrät sie nicht. Stattdessen lässt sie sich weiter über meine nicht vorhandenen Manieren aus.

Zwei Stunden später stehe ich betrunken vor einem Hauseingang in der Samariterstraße.

Ich schaue in den hell erleuchteten dritten Stock hoch. Die Fenster in Bettys WG stehen offen, man hört Musik und Gelächter. Das Zweithandy meines Mitbewohners klingelt. Ich sehe auf das Display und versuche, die Nummer zu erkennen. Frau Schulz meldet sich. Sie hat ihr Portemonnaie verloren.

„Ich hab’ die halbe Wohnung auf den Kopf gestellt. Hast du vielleicht was in deinem Auto gefunden?“ Plötzlich kombiniert die Schulz: „Vielleicht hab’ ich’s im Restaurant vergessen?“

„Dann ruf doch an und frag den smarten Kellner. Den, der sich so unglaublich um dich bemüht hatte“, antworte ich spöttisch.

„Ja, stimmt, da hab ich’s noch gehabt. Na gut, dann ruf ’ ich da mal an. Der junge Mann wird mir bestimmt sagen können, ob jemand etwas abgegeben hat.“

„Mit Sicherheit“, steche ich nach.

Frau Schulz legt auf. Ich sehe abermals zum dritten Stock hinauf. Ein Mann hält eine Frau im Arm und küsst sie auf den Mund. Erschrocken weiche ich in den Hauseingang zurück und überlege: ‚War das nicht gerade Bettys Silhouette? Wer aber war der Mann an ihrer Seite? Hat Betty etwa einen neuen Freund?‘

Gedankenverloren überquere ich die Frankfurter Allee und steuere auf meinen Volvo zu. Ich schließe die Fahrertür auf und lasse mich erschöpft in den Sitz plumpsen. Mein Blick wandert über das Armaturenbrett. Im Schein der Laterne sehe ich was funkeln. Ich beuge mich vor und muss lachen. Es ist Frau Schulz’ Lederportemonnaie. Die chromfarbenen Nieten spiegeln sich in der Frontscheibe.

„Mein Gott, und ich mach noch die Schulz nass“, stelle ich schuldbewusst fest, schüttle den Kopf und schaue auf mein Amulett.

„Da bleibt nur eins, der Albaner muss dran glauben“, raunt es hinter mir.

Ich sehe erschrocken in den Rückspiegel. Auf der Rückbank meines Volvos lümmelt ein menschengroßer, schwarz-gelb gestreifter Affe.

„Du musst es dem Burschen unterschieben, sonst wird das nichts mit eurem Atelier“, sagt er und grinst.

Ich bin wie gelähmt und suche nach einer Erklärung für diese skurrile Sinnestäuschung. Der Affe fasst nach meiner Schulter. Seine behaarte Hand fühlt sich gruselig realistisch an.

„Komm schon, entspann dich! Ich will dir nichts Böses!“

„Was willst du denn?“, frage ich, ohne nachzudenken.

„Ich will dir helfen. Mit meiner Unterstützung wird aus dir ein Tiger.“

Ich verstehe nur Bahnhof.

„Ich bin dein neuer Coach für besonders knifflige Angelegenheiten“, erklärt der Affe erneut.

Ich sehe dem Affen in die Augen und höre meine Stimme fragen: „Du meinst, ich sollte das Portemonnaie dem Kellner unterschieben und es dann im Beisein seiner Kollegen finden?“

„Steck es ihm in die Hosentasche, das wäre überzeugender“, verbessert mich der Affe und zeigt mir seine gelben Zähne.

Ich stelle mir die Szene vor. Plötzlich erfasst mich eine seltsam angenehme Schadenfreude. Amüsiert wiege ich den Kopf und sage: „Das wäre wirklich kurios.“

Der Affe klopft mir auf die Schulter und konstatiert: „So ist es, mein Freund. Am Ende hat die Schulz dank dir tatsächlich etwas gut bei diesem Typen!“

Der Affe lässt sich auf die Rückbank zurückfallen. Sein hämisches Gelächter klingt schaurig schön. Ich drehe mich nach meinem neuen Coach um. Doch als ich auf die Rückbank spähe, muss ich feststellen, dass da nirgendwo ein Affe zu sehen ist.

KAPITEL 9

Eine Woche nach meinem Essen mit Frau Schulz, in einem ehemaligen Bürohochhaus in Alt-Stralau in der vierten Etage. Ich habe Betty die Augen mit einem Halstuch verbunden und geleite sie in einen zirka fünfzig Quadratmeter großen Raum.

Ich schließe die Tür hinter mir und schiebe Betty in die Mitte des lichtdurchfluteten Raums.

„Was ist eigentlich mit deinem Handy passiert?“, fragt Betty und bleibt stehen.

„Das ist mir kaputtgegangen. Aber lass uns jetzt bitte nicht über mein Handy reden.“

„Schon gut, ich sage nichts mehr.“

„Schön, wenn du nichts mehr sagst“, antworte ich und nehme Betty ihre Augenbinde ab.

„Ta-ta! Na los, schau dich um! Und, was sagst du?“

Betty sieht mich unsicher an.

„Was ist das, ein unmöbliertes Zimmer mit offener Küche?“

„Das ist unser Atelier, Einstein!“

Unser Atelier?“

„Ja, unser Atelier.“ Betty ist sprachlos.

„Du wolltest doch einen Arbeitsraum oder etwa nicht?“

Betty nickt. Sie sieht mich an.

„Du bist wirklich unglaublich.“

Ich nehme Betty in die Arme. Betty lässt es für einen Moment zu. Dann aber macht sie sich von mir los, schlendert durch den Raum und fragt: „Wie hast du so schnell ein Atelier organisiert?“

„Ach, weißt du, ich bin ein Kind dieser Stadt. Wir Berliner haben so unsere Kontakte. Ehrlich gesagt, war es gar nicht so schwer. Ich habe Frau Schulz erklärt, dass ich binnen einer Woche einen Raum für eine begabte Künstlerin und ihren in der Musikbranche arbeitenden Freund brauche. Da sonst zwei begnadete Nachwuchskünstler auf der Straße sitzen und nicht mehr ihrer Passion nachkommen können.“

Betty sieht mich forschend an und fragt: „Wer ist denn mein begnadeter Freund?“

„Na, ich natürlich“, antworte ich und gehe abermals einen Schritt auf Betty zu.

„Aber wie genau stellst du dir denn eine gemeinsame Nutzung vor?“, fragt Betty.

„Hör mal, meine Sonne, du bist doch ein Tagmensch. Du bist am Meer aufgewachsen, du liebst die morgendliche Frische des Windes und den Blick aufs Wasser. Euer Haus in Sydney liegt doch am Meer oder nicht?“

Betty nickt. Ich fasse sie an den Handgelenken.

„Siehst du, ohne Licht geht bei dir nichts. Ich hingegen bin ein Grübler. Einer, der bis in die Puppen schläft und gern mal die Vorhänge zugezogen lässt. Ja wirklich, ich arbeite sehr viel lieber nachts, nicht nur, wenn ich im Club unterwegs bin, auch unter der Woche.“

„Du meinst also, wir nutzen das Atelier rund um die Uhr, du nachts und ich tagsüber?

„Ja, warum denn nicht? Raum für zwei haben wir doch hier. Außerdem möchte ich, dass du wieder bei mir einsteigst, also musikalisch. Ich brauche wirklich dringend jemanden, der mir hin und wieder mit einer konstruktiven Kritik zur Seite steht.“

Betty runzelt fragend die Stirn.

„Aber du kommst doch auch so gut mit deiner Arbeit voran oder etwa nicht?“

„Na klar, ich komme sogar bestens voran“, lüge ich und ergänze: „Das Problem ist nur, ich bin überzeugt, dass ich mit dir zusammen noch viel besser vorankommen würde. Und da mir nicht mehr allzu viel Zeit bis zu meiner Präsentation auf dem Schwarzlicht-Festival bleibt, würde ich mich riesig freuen, wenn du mir ab und an unter die Arme greifen könntest.“

Betty zieht ihre Augenbrauen hoch und überlegt.

„Ich könnte dich sogar ein wenig unterstützen, also finanziell“, schiebe ich hinterher, da Betty noch immer nicht ja gesagt hat.

Du willst mich finanziell unterstützen? Aber wie soll das denn bitteschön gehen?“, fragt meine potentielle Muse ungläubig.

„Schau, Betty, das Atelier muss so oder so auf meinen Namen angemietet werden. Ich wiederum vermiete es an dich weiter. Natürlich mit einem kleinen, aber feinen Aufschlag. Die Universität zahlt deine Unkosten, auch die fürs Atelier. Am Ende des Monats bleibt also der kleine, aber feine Aufschlag übrig und den können wir uns dann brüderlich teilen.“

Betty nickt still vor sich hin. Sie sieht sich um und überlegt.

„Hm, Platz genug für zwei wäre ja. Aber was erwartest du von mir, also in Bezug auf deine Installation? Wie soll ich dir dabei zur Hand gehen? Unsere musikalischen Ausrichtungen sind doch eher konträr.“

„Sei einfach nur da. Sei meine Muse, inspiriere mich! Und wenn ich dich mal um Rat frage oder wissen will, was du von meiner Arbeit denkst, nimm dir Zeit und kritisiere mich. Darum geht es mir in erster Linie. Ich brauche einen Mensch an meiner Seite, dem ich vertraue und dessen Kritik ich vertrage.“

Betty sieht mich erstaunt an und fragt: „Das ist alles? Keine Recherche-Touren während der Rushhour, keine Aufnahmen im strömenden Regen, keine Nachtschichten im Studio?“

Ich schüttle mit dem Kopf und frage: „Und?“

„Tut mir leid, aber irgendwie habe ich kein gutes Gefühl“, antwortet Betty.

Ich setzte meinen Hundeblick auf, sehe hilfesuchend zu meiner Ex und sage: „Ohne dich schaffe ich es nicht, Betty. Bitte, hilf mir!“

Betty weicht meinem Blick aus, dennoch scheint ihr Mutterinstinkt anzuspringen. „Gut, aber ich hätte ein paar Bedingungen, bevor ich deinem Angebot zustimme. Wenn wir wirklich zusammen arbeiten wollen, erwarte ich von dir eine professionellere Einstellung. Ich möchte dich nicht wieder irgendwo im Club auflesen oder von der Polizeiwache abholen müssen. Sprich, Drogen- und Alkoholexzesse sind erstmal tabu für dich. Gleiches gilt für Affären mit Jungs, die nicht wissen, was sie wollen. Das alles kannst du gern wieder nach deinem Auftritt haben.“

Betty streckt mir ihre Hand entgegen. Nun bin ich derjenige, der zögert. Bettys Forderungen erscheinen mir unerfüllbar. Ich beiße mir auf die Lippen und überlege.

„Lass dir ruhig Zeit mit deiner Entscheidung. Wenn du mir jetzt versprichst, dass du das alles zurückstellst, nehme ich dich natürlich beim Wort.“

Ich atme langsam aus und murmele: „Abgemacht, keine Exzesse mehr und keine halben Sachen mit Jungs, die nicht wissen, was sie wollen.“

Wir reichen uns die Hände. Betty sieht mich an wie eine Mutter, die gerade ihrem Jüngsten das Versprechen abgerungen hat, bis zum Ende des Jahres auf das Rauchen zu verzichten.

„Dir ist es also wirklich ernst damit?“

„Ja, es ist mir ernst.“

„Gut, das wollte ich hören. Denn ich habe weder Zeit noch Kraft, dich nochmal aus diesem Feiersumpf herauszuziehen.“

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.

„Haha, du hast gerade ziehen gesagt.“

Betty aber bleibt ernst.

„Versprich es mir!“

Ich hebe meine Hand zum Schwur und antworte: „Hiermit verspreche ich feierlich, mich ausschließlich auf meine Arbeit mit dir zu konzentrieren und allem anderen bis zum Ende unseres Projektes zu entsagen.“

Bettys Miene hellt sich schlagartig auf. Der Raum erstrahlt in ihrem Lächeln, fast so, als hätte jemand einen 12-k W-Scheinwerfer zugeschaltet.

„Also einverstanden, vorausgesetzt, ich kann sofort mit meinem Kram hier einziehen. Ach, und ein eigener Schlüssel wäre toll.“ Ich nicke zufrieden, greife in meine Jackentasche und fummle einen mit einer gelben Schleife drapierten Zweitschlüssel hervor.

KAPITEL 10

In der Folgezeit in unserem Atelier und auf den Straßen und Plätzen Berlins. Ich bin ich nur noch am Ackern und komme endlich mit meiner Arbeit voran.

Bettys Anwesenheit gibt mir Sicherheit. Ich fühle mich nicht mehr so labil und getrieben. Meine Gedanken sind klarer, neue Bilder oder Ideen verunsichern mich nicht, sondern fügen sich nahtlos in Vorhandenes ein. Auch auf kurzfristige Erfolgserlebnisse bin ich nicht mehr so stark angewiesen wie sonst. Ich schaffe es, auf Drogen und schnellen Sex zu verzichten, selbst mein Begehren nach dem Toulouser hat sich verflüchtigt.

Die Bande zwischen Betty und mir ist stärker als der trügerische Zauber meines Schwarms oder die künstlich von mir provozierten Hormonausschüttungen. Endlich führe ich das Leben eines asketischen Künstlers, der ausschließlich auf seine Arbeit fokussiert ist. Tagsüber tigere ich durch die Stadt, nehme an Straßenkreuzungen, auf Märkten und in Fabrikenhallen O-Töne auf. Nachts bereite ich die eingefangenen Atmosphären auf, mische ab und archiviere. Mein erstes Ziel ist es, einen unendlichen Pool an Tönen und Bildern zu erstellen, um später aus dem Vollen schöpfen zu können.

Ich experimentiere mit diversen Motiven herum, versuche mich an neuen Kompositionen oder improvisiere einfach ins Blaue hinein. Auch meine Freunde beziehe ich in meine Arbeit mit ein. Jeder, der mich am Abend im Atelier besuchen kommt, darf mitmachen. Eddy und Luca spielen mit Bass und Keyboard eine Elektro-Hymne aus den frühen Neunzigern ein. Betty und ihre Mitbewohnerin Daria lassen es auf einer selbstgebauten Trommel krachen, und Lale und ihre kleine Schwester decken mich mit türkischen Popsongs und farbenfrohen Super-8-Aufnahmen aus ihrer Kindheit ein.

Das stetig wachsende Material wird von mir digitalisiert und neu arrangiert. Ich bastele und probiere, kombiniere Altes mit Neuem, mische die so modellierten Sequenzen ab, verändere ihren Dynamikverlauf und jage Halbfertiges probehalber durch meinen Kompressor. Überzeugt mich eine meiner Ideen nicht, variiere ich den Entstehungsprozess und untersuche, wie sich Teile meiner Klangfragmente zu den von mir an Eddys Schnittprogramm vormontierten Bilderwelten verhalten.

Mitunter bin ich so von meiner Arbeit begeistert, dass ich mich in selbstverliebten Schwärmereien verliere. In solchen Momenten tritt meine neue Muse auf den Plan. Ihr geschultes Gehör und ihr kritisches Auge holen mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Bettys Einwände und Fragen lassen mich besser verstehen, klarer hören und schärfer sehen. Dabei geht es Betty nie darum, mich zu demontieren oder mir zu zeigen, was sie besser kann. Im Gegenteil, immer wieder versichert sie mir, wie sehr sie meine Arbeit schätzt. Dabei achtet Betty darauf, dass mir mein Mut und meine Zuversicht nicht verloren gehen. Auch ich bin um Bettys Wohl bedacht, störe sie tagsüber nicht bei ihrer Arbeit im Atelier. Am Abend verwöhne ich sie mit Kreationen aus Lucas Küche und erlesenen Weinen aus Lales Lagerbeständen. Gemeinsam spazieren Betty und ich durch das nächtliche Berlin, diskutieren über die Macht der Musik und die Unendlichkeit menschlicher Fantasie.

Betty und ich sitzen auf den Stufen des Schauspielhauses und trinken Wein. Vom Osten her weht ein warmer Wind. Der Mond scheint und taucht das Dach des Französischen Doms in ein weiches, silbriges Licht.

„Ich habe als kleines Kind immer nur allem zugesehen oder zugehört. Worte und Wortgebilde waren für mich wie kleine Melodien. Ich hätte sie durchaus auch wiederholen können, aber irgendwas in mir war wie blockiert. Als ich im Alter von fünf Jahren noch immer kein Wort sagte, bekamen meine Eltern allmählich Angst.“

„Du hast mit fünf Jahren noch kein Wort gesprochen?“, frage ich. Betty zuckt mit den Schultern und nickt.

„So ist es. Meine Eltern waren völlig fertig. Sie hatten mich zu den verschiedensten Ärzten und Spezialisten geschleift, aber das Problem blieb bestehen.“

Ich nicke und sehe Betty aufmerksam und gespannt an.

„Nun, eines schönen Tages machte ich Urlaub bei meiner deutschen Oma. Das Radio lief, und da hörte ich ein wunderschönes Lied. Ich mochte es sofort. Es hatte eine verwegene, aber auch melancholische Melodie.“

„Was für ein Lied war das?“, hake ich nach und frage: „Ich meine, welches Genre?“

Betty zuckt wieder mit den Schultern, tut so, als wüsste sie es nicht.

„Ich hatte mir lediglich die Melodie gemerkt. Und da ich das Lied wieder hören wollte, summte ich es meinen Eltern tagein, tagaus vor. Ich summte es am Morgen, am Mittag nach dem Essen, am Nachmittag beim Spielen und auch am Abend vor dem Schlafengehen. Irgendwann fiel bei meiner Mutter der Groschen. Sie wusste, wo sie suchen musste, und sie besorgte mir eine Schallplatte mit einer Aufnahme meines Liedes.“

Betty sieht zu mir, ihre Augen glänzen.

„Nun konnte ich mein Lied täglich hören. Ich hörte verträumt den Worten der Sängerin zu, summte fröhlich mit und eines Tages sang ich die erste Strophe. Als meine Eltern das hörten, waren sie sprachlos, denn meine ersten Worte sang ich auf Deutsch.“

„Aber wie hieß denn das Lied nun?“

Betty sieht zu mir, fast mich an der Schulter und singt: „Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, / ​denn er spricht nur immer von Moral. / ​Und was er auch denkt und tut, / ​man merkt ihm leider an, / ​dass er niemand glücklich sehen kann.“

„Das ist doch von Zarah Leander. Mensch, da wäre ich aber auch nicht ohne weiteres drauf gekommen.“

„Meine Eltern begriffen zumindest, dass mit mir alles in Ordnung war und das, obwohl ich so spät angefangen hatte, die Sprache als Kommunikationsmittel zu akzeptieren.“

Ich nehme die Weinflasche zur Hand und schenke Betty in ihren Pappbecher nach. Wir stoßen an und trinken. Ich sehe zu Betty und lächle verschmitzt.

„Als ich fünf Jahre alt war, hatten meine Eltern ein Grundstück in einer Datschen-Siedlung unweit von Strausberg zugewiesen bekommen. Die meisten der Pächter waren ranghohe Armeeoffiziere. Mein Vater arbeitete damals an der Bauakademie, wie er zu seinem Grundstück gekommen war, kann ich nicht genau sagen.“

„War dein Vater Kommunist? Also, war er in der Partei?“

„Ja, mein Vater war in der Partei, anfangs sogar aus Überzeugung. Er hatte den Krieg miterlebt. Sein großer Bruder war kurz vor Kriegsende von den Nazis eingezogen worden und kam nicht wieder. Mein Vater musste seiner Mutter beim Postaustragen helfen und sich als Bauhelfer verdingen, damit er und seine Geschwister halbwegs über die Runden kamen. Dann wurde ein neuer Staat gegründet. Mein Vater erhielt die Möglichkeit, die Schule zu beenden und sein Abitur zu machen. Kurz darauf bot man ihm an, im Ausland zu studieren und das, obwohl er aus einer armen Familie stammte. Ich denke, dass sich mein Vater von den damals propagierten Idealen sehr stark angesprochen gefühlt hat. Und er empfand gegenüber den Leuten, die ihm all das ermöglicht hatten, eine Verpflichtung. Aber ob man ihm deswegen ein Grundstück hinterhergeschmissen hat, wage ich zu bezweifeln.“

„Verstehe, dein Vater hat an die Ideale einer kommunistischen Gesellschaft geglaubt.“

„Tja, das haben wohl viele ein Stück weit. Insofern ist es schon bitter, wie sehr man diesen Demagogen, die ihre eigenen Ideale verraten haben, auf den Leim gegangen ist.“

„Das ist sicher keine einfache Einsicht. Aber ich wollte dich nicht unterbrechen. Ihr hattet also eine kleine Datsche in der Nähe von Strausberg bekommen.“

„Genau, ein Grundstück. Das Häuschen mit ihrer winzigen Terrasse haben meine Eltern an diversen Wochenendeinsätzen selbst gebaut. Ein Raum und eine Kochnische, mehr gab es damals nicht. Dafür war das Grundstück sehr schön gelegen. Direkt am Ufer mit Blick auf den See. Ich fühlte mich in dieser Welt pudelwohl, baute im Wald Buden, spielte mit anderen Kinder ‚Räuber und Gendarm‘ oder fuhr mit Schlauchboot über den See. Auch zu unseren Nachbarn hatte ich ein ausgezeichnetes Verhältnis. Kaum, dass unsere Familie das Wochenende eingeläutet hatte, seilte ich mich ab und ließ es mir bei den Frauen der Offiziere gut gehen. Selbstgebackene Waffeln, Obstkuchen mit extragroßen Streuseln und Sahne oder eine hausgemachte Mischung aus Kakao und Zucker als Schokoladenersatz, mein Leben war ein zuckersüßer Traum.“

Betty nickt mir lächelnd zu und nimmt sich meinen Tabak.

„Nun, eines schönen Tages lief ich mit meinem Vater zum Strand. Mein Vater lief zu Fuß, ich fuhr neben ihm auf meinem neuen Kinderrad hin und her. Kurz vor dem See gesellte sich ein fremder Mann aus der Nachbarsiedlung zu uns. Er war in etwa so alt wie mein Vater und hatte ein Badehandtuch dabei.“

Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche und fahre fort: „Der Mann schaute zu mir und sagte plötzlich mit spöttischem Unterton: ‚Wetten, du schaffst es nicht, mit deinem Rad in den See zu fahren.‘ Ich war völlig durcheinander und sah den Mann verdutzt an. Wie sollte ich mich verhalten? Immerhin hatte mich dieser Erwachsene gerade herausgefordert. Ich sah also hilfesuchend zu meinem Vater, doch der sagte nichts. Also sah ich wieder zu dem fremden Mann, nahm seine Herausforderung an, schrie laut los und trat wie ein Bekloppter in die Pedalen.“

Betty zündet sich die selbstgedrehte Zigarette an und sieht mich überrascht an.

„Du bist aber nicht in den See gefahren? Sag nicht, dass du in den See gefahren bist?“

„Nun, ich mobilisierte alle Kräfte, überholte jeden, der gerade auf dem Weg zum Strand war, umkurvte mehrere ausgelegte Badedecken, nahm noch einmal richtig Tempo auf, hielt auf einen kleinen Sandhügel zu, flog gute drei Meter durch die Luft, überschlug mich und krachte kopfüber mit meinem neuen Rad in den See. Die Leute am Strand sahen mir perplex nach. Sie müssen sich wohl ziemlich erschrocken haben. Als ich wieder auftauchte und allen klar wurde, dass mir nichts passiert war, lachte die Menge los. Der ganze Strand lachte mich aus. Da begriff ich, dass mich der fremde Mann verarscht hatte. Er hatte sich einen Spaß auf meine Kosten gemacht, und mein Vater hatte es nicht verhindert. Ich heulte los und schwor bittere Tränen vergießend Rache. Natürlich kam mir mein Vater zu Hilfe. Er nahm mich in den Arm, versuchte mich zu trösten. Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte, mein Vertrauen gegenüber der Welt der Erwachsenen war beschädigt worden.“

„Du Ärmster, da hat dir der Mann aber übel mitgespielt.“

„Ja, aber er hat auch dafür bezahlt“, antworte ich und lehne mich zurück.

„Wie, du hast du dich an ihm gerächt? Wie denn das? Hast du ihm in seine Blumenrabatten gepinkelt oder auf die Terrasse gekackt?“, fragt Betty.

„Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe ihn nur jeden Abend beobachtet. Zwei Wochen später hat er sich dann beim Holzmachen ins Bein gehackt. Wäre seine Nachbarin, eine völlig verlotterte Sufftante, nicht rechtzeitig aus ihrer Bude gekommen, er wäre wohl jämmerlich auf seinem Grundstück verblutet.“

Betty sieht mich mit großen Augen an und fragt: „Du hast zugesehen, wie er sich ins Bein gehackt hat und hast keine Hilfe geholt?“ „Natürlich habe ich keine Hilfe geholt. Damals gab es ja noch keine Handys oder Notrufsäulen. Außerdem durfte ja niemand wissen, dass ich da war und ihn beobachtet hatte. Am Ende hätte meine Vater noch geglaubt, ich hätte etwas mit der Sache zu tun gehabt.“

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