Kitabı oku: «Paradiese», sayfa 2
Der Holocaust. Dieses sinnlose Morden von Menschen, die auch keine Wahl gehabt hatten. Als ein Philosoph in einer Zeitschrift einmal die Tiertransporte und die Schlachthöfe mit einem Konzentrationslager verglichen hatte, ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Das Volk war empört über diesen scheinbar pietätlosen Gedanken. Warum? Er wusste es nicht mehr. Weil es da um Menschen und dort um Tiere ging? „Nur“ um Tiere? Im Dritten Reich dachte man doch genauso. Da gab es hier die Menschen und „dort“ die Juden. Oder eben andere unerwünschte Minderheiten. Zigeuner, Schwule, Arbeitsunfähige, sogenannte „Schädlinge“. Oft saß er lange Zeit nur reglos da. Oder erstarrte innerlich, während er äußerlich wie gewohnt seiner Arbeit nachging. Und versetzte sich in all diese Opfer hinein. Die Menschen, die von heute auf morgen vertrieben wurden, abtransportiert in Viehwägen, zu irgendwelchen Lagern. Diese Angst. Diese Ungewissheit in jeder Minute, jedem Atemzug. Die stetig nagende Frage, was aus den Angehörigen geworden sein mag. Lebte die Mutter noch? Hatte sie Angst, Schmerzen? Was war aus dem Vater geworden? Wo hatte man die Kinder hingebracht?
„Für manche Menschen ist das tatsächlich eine Art Kinderersatz“, erläuterte die Psychologin. „Es überträgt ihnen Verantwortung, sie glauben irrtümlicherweise, dass es Liebe sei, wenn ein Tier aus einem hingestellten Napf frisst. Es sind bestimmt arme Personen. Aber wenn Arme anderen Armen helfen möchten, kommt eben meistens nichts Gutes dabei heraus.“ Der Polizist nickte eifrig, als hätte sie soeben eine unumstößliche Wahrheit ausgesprochen, die demnächst als allgemein gültiges Gesetz in die Bundesverfassung aufgenommen werden sollte. Die Seuchenpolizei legte inzwischen ihre Schutzanzüge an.
Sich mit Geschichte zu beschäftigen, war ihm bald schon unerträglich geworden. Die ganzen Kriege, die Folteropfer, die Hexenverbrennungen, der Schrecken der Inquisition. Nichts als Leid. Bis heute. Alles beim Alten. Kinderarbeit, Kindersoldaten, Kinderpornografie. Ausbeutung Rechtloser. Der Hunger auf der Welt. Die Armut. Naturkatastrophen. Flugzeugabstürze. Schiffsunglücke. Flüchtlingselend. Diskriminierung. Krankheiten. Schicksalsschläge, Martyrien. Elend. Not.
Ein junger Mann trug riesige Stapel von Zeitungen ins Freie. Tageszeitungen, Wochenmagazine, Monatsausgaben, Sonderhefte. In Kartons lagerten Ausschnitte aus diversen Printmedien. „Nichts als Unglück“, bemerkte ein Seuchenfachmann im Vorbeigehen, als sein Blick auf einem verrutschenden Papierstoß kurz verharrte. „Er muss sich geweidet haben an Katastrophenmeldungen, Verbrechen, Massakern aller Art“, nickte der junge Mann im Weitersortieren des ohnehin zum Vernichten bestimmten Papiergebirges.
Manche Schrecklichkeiten blieben selbst ihm sonderbarerweise länger im Gedächtnis als andere. Die Bergleute, die in der südamerikanischen Mine so lange verschüttet gewesen waren. Dieses ungewisse Ausharrenmüssen in der Tiefe, in der Dunkelheit. Das gesunkene U-Boot in der Barentssee. Er hatte die Seiten mit den Fotos der ertrunkenen Mannschaft aus der Zeitung geschnitten und aufbewahrt. Die jungen russischen Männergesichter voller nicht zu Ende erzählter Geschichten. Die Panik in der beklemmenden Enge. Das sichere Erwarten des eigenen Todes. Später einmal wollte er die Ausschnitte einordnen. Nach Themen sortieren. In Ordnern abheften. Um alles griffbereit zu haben. Das Unglück der anderen, das das eigene plötzlich klein und nichtig erscheinen ließ. Die fremden Katastrophen, die den Blick zurechtrückten, ein nützliches Korrektiv darstellten zur eigenen weinerlichen Wehleidigkeit. Manche Tierbilder waren auch liebgewordene Erinnerungen. Zu wenige natürlich. Es hätten mehr sein können. „Ich hätte noch ein paar mehr retten können!“, ruft Oskar Schindler gegen Ende des Spielberg-Films verzweifelt aus. Das Gefühl war ihm mehr als bekannt.
Er hätte nur ein wenig mehr Zeit gebraucht. Irgendwann wollte er schließlich Ordnung in das alles bringen. In Wahrheit hatte er doch nie etwas aufgehoben, das es nicht auch wert gewesen wäre, aufgehoben zu werden. Ein Außenstehender mochte das möglicherweise nicht verstehen, denn es konnte ja keiner hineinsehen in seinen Kopf, wo schon alles aufgeräumt war, wo er schon deutlich alles in schönster Ordnung archiviert und griffbereit verstaut wusste. Ganz genau konnte er sein zukünftiges Leben bereits vor sich sehen. Die Zeitungsstapel würden zwar nicht alle verschwinden, aber nach sorgfältiger Durchsicht doch erheblich geschrumpft sein. Es stand schließlich so viel Nützliches, Wissenswertes und Hochinteressantes in all den Zeitschriften, Broschüren und Magazinen. Einige davon lagen sogar gratis irgendwo in der Öffentlichkeit auf. Da musste man doch zugreifen. Psychologische Beratung. Vorsorge und Hilfe im Trauerfall. Früherkennung von Darmkrebs. Die besten Lebensmittel für gesteigerte Leistung und mehr Aktivität. Bus-, Flug- und Schiffsreisen für Singles, Gruppen und Familien. Homöopathie für Haustiere. Die wichtigsten Rechtsbeistände und Steuerberater im handlichen Folder. Honig – ein kostbares Gut. Klassische Klavierkonzerte unter freiem Himmel. Die besten Neuerscheinungen am Büchermarkt. Sommerliche Gemüserezepte für Gäste. Das alles konnte man doch gut gebrauchen. Und wenn nicht jetzt, dann später einmal.
Die vielen praktischen Tipps mussten natürlich erst einmal ausgeschnitten und sortiert werden. Dann konnte er sie in Hefte kleben. Die vielen Berichte und Reportagen über ferne Länder, interessante Völker, spektakuläre wissenschaftliche Entdeckungen und erstaunliche Naturphänomene würden eigene Ordner füllen. Wie auch die vielen, überaus lesenswerten Portraits faszinierender Persönlichkeiten, von denen man viel lernen konnte. Über die Kunst und das Leben.
Letztlich war es um sehr, sehr viele Dinge schade. Er wusste, andere Leute warfen alles Mögliche weg, ohne darüber nachzudenken, es war nicht umsonst eine Wegwerfgesellschaft, in der er lebte. Doch ihm wollte dieses Wegwerfen nicht gelingen. Und warum sollte es auch? Was man wegwarf, war schließlich nicht wirklich „weg“, sondern nur woanders. „Weg“ gab es gar nicht. Also konnte er die Sachen doch gleich behalten. Es steckte letzten Endes selbst in den unscheinbarsten Dingen so etwas wie ein Wert. Material. Arbeit. Zeit und Geld. Irgend jemand hatte doch auch die ganzen Gewinne und Gratisüberraschungen der Versandhäuser erfunden und herstellen lassen, verpacken, versenden. Jeder Karton konnte später einmal noch zu etwas nütze sein. Er selber verwendete viele davon zum Zwischenlagern der zukünftigen Ordnungshelfer. Klarsichthüllen, Stell- und Ringordner, Flügelmappen, leere Hefte in allen Formaten, Alben, Klebstoff, Karteikästen, Index- und Trennblätter, Locher, Schmucketiketten warteten nur mehr darauf, endlich ihre Regale und Kästen zu bekommen, in denen sie eines Tages ihre vorbildliche archivarische Büroordnung verströmen durften. Die Videos mussten noch alle genau beschriftet und katalogisiert werden, solange es noch Videogeräte zum Abspielen gab. Es liefen doch im Fernsehen immer wieder wissenswerte und lehrreiche Dokumentationen, oder auch schöne Filme. Jedes Käsepapier konnte man später eventuell noch einmal gebrauchen, und sei es nur als Unterlage für eine Stelle, die tropft.
Natürlich, manches hätte er beiseite räumen müssen. Die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank, das verschimmelte Obst in den Laden, das schmutzige Geschirr, den tatsächlichen Müll. Aber dafür würde er Ruhe brauchen. Ruhe und viel Zeit. Denn wenn, dann wollte er alles gründlich machen. Die entlegensten Winkel sauberschrubben. Alle leeren Behältnisse reinigen und nach Größe und Gebrauchszweck lagern. Die zahllosen Säcke, Taschen, Kisten und Körbe ausräumen. Jeden einzelnen Gegenstand darin in die Hand nehmen und genau prüfen, wofür er noch Verwendung finden konnte. Die Elektrogeräte auf ihre Funktionstüchtigkeit untersuchen. Alles mit Batterien kontrollieren und, wenn nötig, die entsprechenden Batterien ersetzen. Die Fotos einkleben. Die Bücher nach einem ganz bestimmten System in eine längst fällige Bücherregalwand einsortieren. Die Lebensmittel nach ihrem Ablaufdatum kontrollieren. „Neu“ stand schließlich auch auf alten Produkten. Manches war aber auch lange noch dem Verfallsdatum noch genießbar, das musste man eben weiter vorne einschlichten.
Die Kleidung dann. Er würde etwas spenden davon. Bevor allerdings niemand etwas davon trug und alles stattdessen zerschnitten und verbrannt wurde, war es doch schade. Vor allem um einige wirklich schöne Stücke. In einem erstklassigen Herrenanzug von feinster Qualität steckte eine Menge Arbeit. Sowas gab man doch nicht einfach weg, nur weil es aus der Mode kam. Und das Meiste ließ sich immerhin noch bequem zuhause auftragen. Ausgeleierte Pullover, verwaschene Hemden, abgetragene Hosen konnten als Arbeits- oder Freizeitbekleidung noch gute Dienste leisten. Und zerschlissene Unterwäsche gab hervorragende Putzlappen ab. Und zu putzen würde dann, nachdem die Ordnung Einzug gehalten hatte, genügend bleiben. Die Putzmittel standen schon bereit wie die königliche Garde. Die alten Zahnbürsten harrten schon der schmutzigen Fugen. Die Senf- und Farbeimer mussten nur noch ausgewaschen werden, schon konnten sie ihren zweiten Bildungsweg als Putzkübel starten. Die zahllosen Plastiksackerln würden dankbar sein für jeden Unrat, den man ihnen anvertraute.
Paradiesische Zustände würden das dann sein, wenn endlich alles geordnet, aufgeräumt und sauber war. Da konnten die langen, gemütlichen Herbst- und Winterabende schon kommen. Lesestoff gab es schließlich genug. Und das wusste er, dass er mit den Zeitungen beginnen würde. Das waren die allerhöchsten Türme.
Wem beim Anblick der Tierseite in der Tageszeitung das Herz nicht weich wurde oder fast brach, der hatte keins. Diese erschütternden Schicksale der Tierheimbewohner, die um ein neues Zuhause flehten, konnten niemanden kalt lassen. Die Fotos waren schon schlimm genug. Aber erst die kurzen Texte zu den Bildern hatten ihm regelmäßig den Rest gegeben.
„Wegen einer Allergie ihres Frauerls hat die arme Judy einfach alles verloren – wie traurig und verzweifelt muss das kastrierte Pupperl nun sein!“ (Bild: schneeweißer Mischlingshund, halbhoch) / „Bitte schenken Sie Ihr Herz der armen, etwas älteren Cindy, die so furchtbar leidet!“ (Bild: graue, struppige Promenadenmischung, eher klein gewachsen) / „Ihre Welt ist zusammengebrochen, als man die arme Riesenschnauzerdame Anja mit sieben Jahren ins Tierheim gab, wo sie sich unendlich kränkt!“ (Bild: Portrait schwarzer Riesenschnauzer) / „11 Jahre lang war er Frauerls Liebling – dieses ist nun krank und kann ihren treuen Maxi nicht länger umsorgen.“ (Bild: kurzhaariger schwarz-weiß-gefleckter Mischling, sehr trauriger Blick) / „Nur mehr ein Augerl hat der verschmuste Kater Burli, um den sich plötzlich niemand mehr kümmern möchte.“ (Bild: rot-weiß-gescheckte, einäugige Katze) / „Herbert heißt dieses entzückende Meerschweinböckchen, das herzlose Menschen einfach im Wald ausgesetzt haben. Wer nimmt den herzigen Nager bei sich und einigen Artgenossen auf und schenkt ihm all die Liebe, nach der er sich so sehnt?“ (Bild: dreifarbiges Rosettenmeerschweinchen mit pfiffigem Blick in die Kamera)
Er hatte jeder einzelnen verlassenen, ausgestoßenen, verwahrlosten, ungewollten, lästig gewordenen Kreatur ein Paradies bereiten wollen. Wenn sich das für ihn selbst schon nicht mehr ausging, oder für eine Handvoll anderer Menschen, dann eben für diese Tiere. Er wusste, er konnte nicht alle retten, nicht allen helfen, aber doch einigen. Wie es sein Verdienst eben zuließ. Der sich mit ein paar Überstunden noch ab und an ein wenig vermehrte. Aber zu viele Überstunden durften es dann auch wieder nicht sein, sonst blieb für zuhause gar keine Zeit mehr. Und Tiere brauchten doch auch Zeit. Es genügte nicht, sie zu füttern und ihnen ausreichend Spiel- und Schlafplätze zur Verfügung zu stellen. Man musste sich doch auch um sie persönlich kümmern. Um jedes einzelne Tier. Persönlich. Mit den Hunden spazieren gehen. Die Katzen streicheln und auf den Schoß nehmen. Die Nager gewissenhaft beobachten. Ob der Kot in Ordnung war, die Zähne nicht zu lang oder schief vor sich hinwuchsen, die gesamte Nagerperson einen munteren und gesunden Eindruck machte. Die Hasenohren nach etwaigem Milbenbefall absuchen. Auch die Käfige mussten gereinigt werden. Gerade im Sommer drohte allerorten, in der Tonne mit den leeren Futterdosen, im Restmüll beim entsorgten Katzenkot, in den Meerschweinchen- und Kaninchengehegen, besonders in den urindurchtränkten hinteren Winkeln der Schlafhäuschen, Madenbefall. Andererseits. Hatte nicht auch eine Made nie eine Wahl gehabt? Was konnte die Fliege eigentlich dafür, dass sie in ihrem ohnedies so unverschämt kurzen Leben nicht wenigstens noch Nachwuchs in die Welt setzen wollte? Wer weiß, vielleicht wollte auch die weibliche Fliege gern einmal im Leben Mutti sein? Und der viele Unrat, dem regelmäßig und rechtzeitig Herr zu werden ihm ja doch nie gelingen wollte, war letztlich für die Maden auch nichts anderes als – ein Paradies.
„Warum ist die Behörde da nicht schon viel früher eingeschritten?“, fragte der zuständige Sachbearbeiter. „Das muss man doch in der ganzen Gegend gerochen haben! Was ist das denn für ein unsagbar kranker Wahnsinn?“ – „Animal Hoarding lautet der Fachbegriff dafür“, erläuterte die Psychologin in bewusst sachlich gehaltenem Tonfall. „Sei können das durchaus auch so in der Zeitung schreiben“, sagte sie in Richtung des sich soeben einfindenden Reporters einer Lokalgazette. Er schaute sie fragend an. Sie holte tief Atem, während sie das Gesicht zu einer säuerlich-angeekelten Grimasse verzog. „Ja, schreiben Sie das ruhig genau so hinein! Schreiben Sie: ‚Verwahrloste Tiere aus Messi-Haushalt befreit. Elf Hunde, einunddreißig Katzen, zweiundzwanzig Meerschweinchen und siebzehn Hasen konnten gerettet und in die Obhut des örtlichen Tierschutzhauses verbracht werden. Es besteht dringender Seuchenalarm und höchste Verschmutzung! Der verantwortungslose Tierhalter muss aufgrund der katastrophalen Hygienebedingungen zwangsdelogiert werden. Der Mann, der einen geistig verwirrten Eindruck macht, hat lebenslanges Tierhalteverbot und wird vorerst in einer seinem Zustand adäquaten Einrichtung untergebracht. Für die vielen herrenlosen Tiere wird nun ein neues Zuhause gesucht, wo sie endlich artgerecht leben dürfen nach dieser zum Teil jahrelangen Hölle.“
Der Reporter hatte alles, soweit es ihm möglich war, mitgeschrieben. „So, Hölle. – Ich hab’s. Dann drucken wir das.“ „Tun Sie das!“, entgegnete ihm die Psychologin mit einem zufriedenen Kopfnicken, während sie ein zu ihren Füßen sitzendes Kaninchen mit ihren Fingerspitzen berührte, als handle es sich dabei um eine sehr seltene Krankheit, eine ganz und gar fremde Welt. Der Hase machte einen erschrockenen Satz und hoppelte zwischen den Beinen des Reporters hindurch ins Freie.
All tomorrow’s parties
Was willst du sagen? Sie ist sechzehn. Es ist normal, dass sie einen Freund hat. Für den ersten ist sie sogar verhältnismäßig spät dran. Und der letzte wird es ohnedies nicht sein.
Hauptsache, sie weiß über Verhütung Bescheid. Und sie weiß, was sie tut. Sie ist ein vernünftiges Mädchen. Eigentlich sehr reif für ihr Alter. Und verbieten kannst du ihr sowieso nichts. Wenn sie ihn nicht mit nach Hause bringen darf, gehen sie eben woanders hin. Sie finden immer eine Gelegenheit. War doch damals auch nicht anders.
Du hättest dich längst daran gewöhnen können. Immerhin geht das doch schon eine ganze Weile. Ein halbes Jahr wohl, oder noch länger. Früher hast du es selbst genauso gemacht. Die Tür so leise wie möglich aufgeschlossen. Dann auf Zehenspitzen ins Vorzimmer. Unter Umständen nicht einmal das Licht angemacht. Du wusstest natürlich, dass die Eltern noch wach sind. Eltern schlafen nie, solange ihre Kinder nicht da sind. Und miteinander ebenfalls kaum mehr. Aber wozu auch? Die Kinder sind doch schon da.
Sie kichert wie eine Volksschülerin. So kichert sie sonst nie. Und dann diese gurrenden, glucksenden Sprachfetzen. Diese halblaut geflüsterten Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden, weil sie sich noch auf halber Höhe in einem Kuss verfangen. Worte, abgepasst von einer lauernden Zungenspitze. Lippen, die im Dickicht der Dunkelheit nur darauf warten, etwas ohnehin Unsagbares abzufangen. Verbrecherisch ist das fast. Heimlich. Schön.
Warum fühlst du dich so ausgeschlossen? Du willst doch gar nicht dabei sein. Gehörst nicht dazu. Hast da nichts verloren. Warum fühlst du dich dennoch ausgeschlossen? Das ist so unsinnig, so dumm. Zwei Liebende schließen immer die gesamte restliche Welt aus. Eigentlich die perfideste, die allergrausamste Form der Ausgrenzung. Ihr gehört alle nicht dazu und unser Glück endet direkt vor eurer Nasenspitze. Lieben heißt kaltblütig ausschließen, alle anderen, sogar die eigene Mutter, so ist das.
Nur die Kleidungsstücke machen Geräusche. Ein Turnschuh, den sie ausnahmslos Sneaker nennt, fällt mit dumpfem Poltern zu Boden. Ihre Sportjacken aus Nylongewebe reiben hörbar aneinander. Schaffen sie es denn nicht einmal bis ins Zimmer?
Der Schlüssel klirrt in der Schale. Irgendwas Hölzernes knarrt. Du kennst deine eigene Wohnung nicht mehr. Dein eigenes Kind sowieso nicht.
Klar hält sie dich für peinlich. Vielleicht bist du es ja auch. Das gehört dazu. Du bist das große graue Sorgentier. Das Muttervieh. Ein sehr nützliches Wesen. Genügsam, praktisch, aber nicht wirklich herzeigbar. Wie eine Kuh eben. Noch dazu eine ziemlich blöde, in ihren Augen.
Sie gehen die kleine Treppe nach oben. Vorbei an deinem Schlafzimmer, wo du dich tapfer schlafend stellst, was völlig unnötig ist, weil sowieso keiner nachschaut. Du könntest genauso gut tot sein, sie würden es nicht bemerken. Es wäre ihnen wohl auch egal. Vor lauter Verliebtheit.
Wie immer in letzter Zeit hast du die Tür nur angelehnt gelassen. Sicherheitshalber. Oder einfach so. Als Vorwand dafür eignet sich die Katze bestens. Die will ja sowieso jede Nacht mindestens dreimal raus und wieder rein.
Wie das klingt!
Das will er sicher auch jede Nacht. Vielleicht auch dreimal? In diesem Alter können sie ja immer. Und wollen auch immer. Sagen doch alle. Obwohl, so sieht er nicht aus. Aber was weißt du schon? Stille Wasser und so. Ein schmaler Junge ist er. Schon bald siebzehn, und dabei doch immer noch seltsam kindlich, irgendwie. Von Bartwuchs ist nichts zu sehen. Ob er sonst schon wo Haare hat? Ob er je auf den Gedanken käme, dass sie sich darüber Gedanken macht? Zarte Hände hat er. Schöne Augen. Der Blick ist es. Der Blick.
Mit einem Rums geht die Musik in ihrem Zimmer an. Mama, dürfen wir?, hat sie anfangs noch öfter gefragt. Und ob es auch nicht zu laut sei. Natürlich ist es das, jedes Mal, immer noch, aber willst du deswegen dastehen als spießige Spielverderberin? Und dich damit gleich um noch ein paar Jahre älter machen?
Jetzt fragen sie zum Glück nicht mehr.
Jede Musik, die du nicht magst, ist prinzipiell immer zu laut, allein schon durch ihr bloßes Vorhandensein. Die Hälfte von dem Zeug kennst du gar nicht mehr. Da sind all die Namen und Bilder in den Zeitschriften, und an denen kommst du gar nicht vorbei, und die sind auch alle so nackt, so tätowiert oder so makellos schön, dass du sie gar nicht übersehen könntest. Selbst, wenn du wolltest, nicht. Aber wehe, du lässt einmal einen dieser Namen fallen, ganz zufällig und nebenbei, aber auch innerlich stolz, dass du doch mitreden kannst. Dann mögen sie gerade den oder die überhaupt nicht, oder das alles sei längst schon sowas von out.
Keine Ahnung, ob sie sich regelmäßig betrinken. Alkohol gehört bestimmt dazu, aber in welchem Ausmaß, ist unklar. Wenn sie kotzen müssen, vernichten sie alle Spuren jedenfalls immer rechtzeitig. Mit einer Vergiftung ist sie bis jetzt auf alle Fälle noch nicht heimgekommen.
Je mehr du sagst, desto schlimmer machst du alles nur. Du musst dich ohnehin schon dauernd verstellen. Wenn du dich erinnerst, was du damals selbst für Musik gehört hast. Und heute immer noch magst. Deine eigenen Rockgötter und Musikhelden. Die waren doch alle auf Heroin. Haben gekifft und gesoffen ohne Ende. Starben zugekokst im Pool oder erstickten an ihrem eigenen Erbrochenen. Seltsam, dass das immer so betont wird. Als würde man in der Regel an fremdem Erbrochenen zu ersticken haben. Jedenfalls wimmelte es da nur so von Goldenen Schüssen. Statt Bier tranken sie früher Whisky flaschenweise. Haben sich aufgeführt wie die Schweine. Gruppensex, One-Night-Stands, Groupiehorden, Bisexualität, stand doch alles auf der Tagesunordnung. Harmlos und anständig, mit eingebauter Vorbildfunktion war da keiner. Also bist du lieber still und lässt ihnen ihre laute Musik. Auch wenn sie mit Musik nichts zu tun hat.
Nichts macht so alt wie eine junge Tochter. Eine junge Tochter, die verliebt ist.
Schlaflos liegst du im Dunkeln und hörst also von schräg über dir diese Musik, die keine ist. Sonst hörst du nichts. Doch diese Stille erzählt dir die sonderbarsten Geschichten. Manche möchtest du lieber gar nicht hören. Bei anderen bleibst du unwillkürlich hängen wie bei einer beschissenen Talkshow lange nach Mitternacht, in die du dich verzappt hast. Und andere wieder fallen dir von ganz alleine ein.
Du hast vergessen, wie Männer sich anfühlen. Gut wahrscheinlich, du weißt es nicht mehr. Aber in der Erinnerung ist es so gewesen. In der momentanen Vorstellung ist es eine beunruhigende Tatsache, mehr nicht.
Aus dem Nichts heraus fällt es dir plötzlich ein: Du könntest wieder Nachhilfe geben! Wozu hast du denn studiert? Wenn du den Mist schon nicht abgeschlossen hast, könntest du doch wenigstens mit dem verbliebenen Halbwissen eine Kleinigkeit dazuverdienen.
Hoffentlich macht sie es einmal besser und beendet ihr Studium, falls sie eines beginnen sollte. Ein nicht abgeschlossenes Studium ist wie eine Wunde, die sich auch nie ganz schließt. Wenn es an der Zeit sein sollte, wirst du ihr das sagen. Denn es ist so schade um die Zeit, um diese unendliche Fülle von Zeit. Ins Nichts hineingelernt nächtelang, sich halbtot gefürchtet vor wichtigen Prüfungen, tonnenweise Bücher gelesen, ganze Hefte, Mappen und Ordner akribisch mitgeschrieben. Wenn es nicht schön aussah, hast du es zuhause noch einmal nachgeschrieben. Die ganze Vorlesung. Wenn du eine versäumt hast, wurde die Mitschrift eines ebenso gewissenhaften Mitstudenten fotokopiert und in die freien Seiten dazwischen geklebt. Du hast nie eine schlechte Note bekommen. Hast immer zu den Besten gehört. Stachst heraus aus jeder noch so großen Hörsaalmenge. Die Professoren grüßten dich auf der Straße mit Namen. Die Dozenten verlangten Kopien deiner Seminararbeiten. Zum Herzeigen für die schwächeren Kurse. Du hast alles aufgehoben. Die Unterlagen, die Fachliteratur, die Prüfungsbögen, die Zeugnisse, den Studienausweis. Du warst in deinem ganzen Leben nie so glücklich wie während der Unizeit, nicht davor und nicht danach. Die besten Jahre waren schon da, soviel ist sicher.
Ein Kind.
Ein Kind, haben deine Eltern damals gesagt, verbaut dir jetzt deine ganze Zukunft. Ein Kind, hast du darauf trotzig gesagt, ist jetzt meine Zukunft.
Du kannst dich nicht lebenslag mit Versäumnissen aufhalten. Es ist doch keineswegs so, dass du außer deines Studiums alles andere immer perfekt zu Ende gebracht hättest. Im Gegenteil. Mit so gut wie nichts bist du zu Ende gekommen, genau betrachtet. Nur fühlst du dich so. Am Ende. Mit all den Anfängen in deinem Rücken.
Ein Kind ist ein lebenslanger Anfang. Und solange du träumst, ist noch bei Weitem nicht alles verloren. „All tomorrow’s parties“ hat Lou Reed dereinst besungen. Mit Velvet Underground. Die beängstigend schöne Nico mit dem furchtbar harten Akzent. John Cale, der später deine Lieblingsgedichte vertonte. Tausendmal hast du das Lied damals gehört, ohne je auf irgendwelchen Parties gewesen zu sein. Schon gar nicht auf solchen, wie sie der Song heraufbeschwört.
Wie das also wäre: wieder Nachhilfe zu geben? Englisch und Deutsch. Einem Burschen. Einem aus der Oberstufe. Es könnte sich eine sehr zarte Liebesgeschichte entspinnen. Warum sonst solltest du davon träumen, wieder in eigenen Schulsachen zu wühlen und Vokabel abzufragen?
Es könnte eine verbotene kleine Geschichte sein. Behutsam. Zärtlich und nervös. Auf manche jungen Burschen können reife Frauen sehr anziehend wirken. Andererseits.
Wenn du dein plötzlich so erwachsen gewordenes Mädchen im Fitnessstudio abholst, kommst du dir vor wie auf einem anderen Stern. Du hast mit dieser Generation, die mit unglaublicher Selbstverständlichkeit auf ihr Äußeres achtet, nichts gemeinsam. Auch nicht mit den vielen Frauen deines Alters, die ebenso dort trainieren. Mütter wie du wahrscheinlich, von Töchtern, wie du eine hast. Verbissen mühen sie sich ab am Rudergerät, zig Mal die gleiche, anstrengende Bewegung auf fest montierter Stelle. Daneben laufen sie auf Bändern, die nicht vom Fleck kommen, oder steigen Treppen, die nie nach oben führen. Sie möchten aussehen wie Athletinnen, ohne welche zu sein. Früher haben nur Sportler nach Sport ausgeschaut. Die übrigen Menschen hatten anderes zu tun.
Sogar die Frauen deines Alters kommen dir alle so seltsam fremd vor. Das war schon an der Uni so, und zuvor in der Schule. Aber erstaunlicherweise hat es nicht aufgehört. Dieses Gefühl, ein wesentlicher Fehler im Gesamtbild zu sein. Irgendwie schadhaft. Plump. Kein Teil des gängigen Sortiments.
Die Mädchen, die gemeinsam mit deiner Tochter das Fitnesscenter verlassen, gleichen sich auf allergefälligste Weise. Ihr Haar ist perfekt gefärbt und mit dem unvermeidbaren Glätteisen platt gezogen, als hätte es eine Nudelmaschine passiert. Die Spitzen sind gepflegt und dank regelmäßigen Nachschnitts frei von Spliss. Ihre Hände sind manikürt, die Nägel tadellos lackiert. Sie sehen alle aus wie Supermodels. Du kriegst deinen Lidstrich heute noch nicht so akkurat hin wie sie. Ihre Kleidung ist teuer und ausnahmslos chic. Niemand fragt, von welchem Geld sie ihre Louis Vuitton- oder Michael Kors-Handtaschen bezahlt haben, ihre Burberry-Jacken, ihre Ohrringe von Chanel. Sie stehen erst kurz vor dem Schulabschluss oder am Beginn ihres Studiums, aber bereits jetzt riecht absolut alles an ihnen nach Wohlstand, Karriere, Stil, Jugend und Donna Karan New York.
Du warst noch nie in Amerika. Du bist vielleicht die vorletzte Person in Europa, die bei dem Udo-Jürgens-Schlager mitsingen kann und weiß, wovon die Rede ist. Du warst noch niemals in New York, du warst noch niemals auf Hawaii, gingst nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans. Heute spielen sie das wieder in den Discos, und junge, hippe Deutschpopbands covern es, und alle halten es für Kult. Dabei ist es eines der traurigsten Lieder der ganzen Welt. Aber die anderen tanzen einfach dazu, grölen den Refrain mit, machen Party daraus. Nur du weißt, was Udo gemeint hat.
Was dich begleitet hat, seit deiner jäh zu Ende gegangenen Jugend, ist die Erinnerung an ein paar schöne Reisen. Mit dem ersten Freund auf Interrail-Tour quer durch Europa. Dreimal. Dann ging schon der Riss durch die Zukunft, teilte sie scharf entzwei, da die Zukunft Leben, dort die Zukunft Kind. Als ob sich das tatsächlich ausschließen müsste.
Zum ersten Mal in London. Zum ersten Mal überhaupt. Etwas. Alles. Die Leute wundern sich, warum der Jugend hinterhergetrauert wird. Dabei ist der Grund doch so klar. Die ersten Male. Die sind dann weg. Nicht nur die großen Dinge der Großen. Erste Zigarette, erster Joint, erster Tequilavollrausch mit Nahtoderfahrung. Erster Kuss, erstes Gefummel, erster Sex. Das auch alles, ja. Aber mindestens genauso schade ist es um die kleinen Dinge. Den ganzen Rest. Dass du weißt, du wirst in Hinkunft und für alle Zeiten damit weiterleben müssen, auf dieses unwiderstehliche Gemisch aus Staunen, Aufgewühltsein, Ergriffenheit, atemloser Überwältigung und tiefstem Berührtwerden zu verzichten, das du in deiner Jugend scheinbar pausenlos empfunden hast, zwischen all dem Weltekel, Lebensüberdruss und Traurigsein. Zum allerersten Mal Bob Marley hören, den „Redemption Song“, oder Led Zeppelin, „Stairway To Heaven“. Geschichten in Büchern entdecken, die dich nie wieder loslassen: „Jane Eyre“ lesen und hunderte Seiten lang noch nicht wissen, dass es ein Happy End geben wird. Ein Gedicht von Rilke vorgelesen bekommen, auf einer kratzigen Schallplatte, mit der Stimme Oskar Werners. Überhaupt: zum ersten Mal Oskar Werner. „Das Narrenschiff“ im Spätprogramm des nur zwei Sender zu bieten habenden Fernsehers. Nach dem ersten Mal ewig warten müssen auf eine Wiederholung, wieder im Nachtprogramm. Kein Videorecorder, keine DVDs zum Kaufen, kein Computer zum Herunterladen.
Oder: Das erste Mal Freunde. Ein persönlicher Brief. Eine Liebeserklärung. Nein, ein Kompliment genügte schon. Die erste Nacht im eigenen Bett des ersten eigenen Zimmers. Die erste Vogue, selbst gekauft vom ersten größeren Taschengeld. Die erste Nacht unter freiem Himmel. Das erste richtige Rockkonzert. Jedes erste Mal ein allerletztes Mal. Dann gehen die Gefühle in Serie und du weißt, was kommt. Oder fehlt.
Du müsstest ein Inserat aufgeben. Aber macht man das heute noch? Läuft nicht alles übers Internet? Du könntest in der Schule deiner Tochter einen Zettel an die Pinnwand hängen: Gebe Nachhilfe in Deutsch und Englisch. Profunde Kenntnisse vorhanden.
Das Wort „profunde“ müsstest du weglassen. Das kennt doch keiner mehr. Die jungen Menschen denken an ganz andere Dinge als du damals. Die sind nicht so verliebt in die Sprache und träumen nicht davon, eines Tages Bücher zu schreiben, mit der klaren Absicht, dein eigenes Leben in das Buch hineinzuschreiben, und dich selber damit gleichzeitig aus deinem eigenen Leben heraus. Damit du nicht mehr vorkommst. Zumindest nicht so, wie du dir vorkommst. Wenn du jung bist.
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