Kitabı oku: «Kooperatives Lernen im Englischunterricht»
Andreas Bonnet / Uwe Hericks
Unterrichtsprozesse, Sprachentwicklung und Professionalisierung beim Kooperativen Lernen im Englischunterricht
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISBN 978-3-8233-8427-4 (Print)
ISBN 978-3-8233-0241-4 (ePub)
Inhalt
Vorwort
1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen1.1 Auftakt des Projekts1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen1.1.2 Die Perspektive der Forscher*innen1.2 Die Fragen des Projekts
2. Theorierahmen und Forschungsstand2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens2.2.1 Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share2.2.2 Kooperatives Lernen: Basiselemente2.2.3 Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen2.3.1 Gruppendynamik und Motivation2.3.2 Theoriekritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik2.4 Forschungsstand2.4.1 Befunde der Lernerforschung2.4.2 Befunde der Unterrichtsforschung2.4.3 Befunde der Fremdsprachenforschung2.4.4 Befunde der Lehrerforschung2.5 Zusammenfassung2.5.1 Begriffsverwendung in dieser Studie2.5.2 Kurzresümee des Forschungsstands2.5.3 Forschungsfragen dieser Studie2.5.4 Anlage und Methoden dieser Studie
3. Unterrichtsstudie3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung3.1.1 Unterricht: Sozialität und Pädagogizität3.1.2 Theorierahmen der Unterrichtsstudie3.1.3 Methodologie und Methode der Unterrichtsstudie3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse3.2.1 Klasse 5: Form-Orientierung und Lehrerdominanz3.2.2 Klasse 6: Ambivalenz von Kooperation und Lehrerzentrierung3.2.3 Klasse 7: Kooperation, Form-Orientierung, Bewertung3.2.4 Entwicklung über den Projektzeitraum3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg3.3.1 Klasse 5: Gruppenarbeit, (noch) ohne Kooperativität3.3.2 Klasse 6: Form-Orientierung und Kooperation3.3.3 Klasse 7: Produkt-Orientierung und Handlungsgemeinschaft3.3.4 Entwicklung über den Projektzeitraum3.4 Fallvergleich3.4.1 Vergleich: Entwicklungen in den Klassen3.4.2 Zusammenfassung und Ausblick
4. Studie zur Sprachkompetenz4.1 Zielsetzung der Teilstudie4.2 Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung4.2.1. Der unterliegende Kompetenzbegriff4.2.2 Sprachkompetenz in dieser Studie4.3 Messmethode: C-Test4.3.1 C-Test: Prinzipien und Auswertung4.3.2 Analyse der C-Tests: Klassische Test-Theorie4.3.3 Rasch-Analyse der C-Tests4.4 Ergebnisse4.4.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse4.4.2 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Vorgehen4.4.3 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Ergebnisse4.5 Diskussion4.5.1 Sprachkompetenz der Schüler*innen4.5.2 Deskriptive Befunde im Fallvergleich
5. Professionsstudie5.1 Theorierahmen: Professionsforschung5.1.1 Der Begriff der Profession5.1.2 Ansätze der Professionsforschung5.1.3 Theorierahmen der Professionsstudie5.1.4 Methodologie und Methode der Professionsstudie5.2 Der Fall Yvonne Kuse5.2.1 Yvonne Kuse zu Projektbeginn5.2.2 Entwicklungslinien im Fall Yvonne Kuse5.2.3 Zusammenfassung des Falls Yvonne Kuse5.3 Der Fall Silke Borg5.3.1 Silke Borg zu Projektbeginn5.3.2 Entwicklungslinien im Fall Silke Borg5.3.3 Zusammenfassung des Falls Silke Borg5.4 Fallvergleich5.4.1 Ausgangssituation5.4.2 Orientierungsrahmen zu Kooperativem Lernen5.4.3 Professionalisierungsprozesse5.4.4 Wechselwirkungen und Zusammenhänge
6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien6.1.1 Befunde der Unterrichtsstudie6.1.2 Befunde der Professionsstudie6.1.3 Befunde der Sprachstudie und Wirkungen des Unterrichts6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse6.2.1 Die ‚Nulllage‘ des (gymnasialen) Englischunterrichts, ihre Stabilisierung …6.2.2 … und Wege aus ihr heraus6.2.3 Englischunterricht und Kooperatives Lernen
7. Wake up and smell the coffee
Literatur
Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert ein Projekt zum Kooperativen Lernen1 im Englischunterricht. Wir haben vier Lehrerinnen und Lehrer des Faches Englisch an einer Hauptschule und einem Gymnasium über insgesamt drei Jahre dabei begleitet, wie sie ihren Unterricht phasenweise auf Kooperatives Lernen umgestellt haben. Im Verlauf des Projekts haben wir die Auswertung unserer Daten mehr und mehr auf zwei Lehrerinnen konzentriert, die sich in mancherlei Hinsicht als stark kontrastierende Fälle herausstellten – und das, obwohl zwischen ihnen auch große Gemeinsamkeiten bestehen. Sie unterrichten beide am selben Gymnasium in parallelen Lerngruppen Englisch und gehören zu den wesentlichen Initiatorinnen unseres Projekts. Wir nennen sie Silke Borg und Yvonne Kuse.
Auf diese Weise entstanden zwei ausführliche Einzelfallstudien über diese Lehrerinnen, ihren Unterricht und ihre Lerngruppen, die in diesem Band aus systematischen und darstellerischen Gründen in Form einer Unterrichts-, einer Sprach- und einer Professionsstudie präsentiert werden.
Wenn schulische Praxis und wissenschaftliche Forschung zusammentreffen, dann begegnen sich zwei Logiken, jene des permanenten Handlungsdrucks und jene der handlungsentlasteten Reflexion. Die Bruchlinien zwischen diesen Logiken sind in unserem Projekt immer wieder zum Vorschein gekommen. Zugleich sind sich aber auch zahlreiche Menschen begegnet: Englischlehrer*innen, Studierende des Lehramts Englisch, Hochschullehrer*innen, Schüler*innen. Sie alle haben intensiv miteinander interagiert, formell und informell. Sie haben miteinander gesprochen und geplant, reflektiert und argumentiert, erzählt und fantasiert. Sie haben einander verstanden oder auch aneinander vorbeigeredet. Vor allem aber haben sie miteinander Neues gelernt und Erfahrungen gesammelt. Dieser Band ist der Versuch, die wissenschaftlichen Befunde des Projekts in systematischer Form zu dokumentieren, so dass sowohl Personen, die an Unterrichtsentwicklung interessiert sind, als auch wissenschaftlich Forschende mit eigenen Projekten daran anknüpfen können.
Darüber hinaus soll der Band von verschiedenen Leser*innen in unterschiedlicher Weise genutzt werden können. Er eröffnet drei Leseoptionen – gewissermaßen drei Klammern. Wer sich für die Ausgangslage und globalen Befunde unseres Projekts interessiert, der erfährt diese durch Lektüre der äußeren Klammer, der Einleitung (Kapitel 1) und dem Schlussteil (Kapitel 7). Beide Kapitel sind in einem narrativen Berichtsstil gehalten; fachdiskursive, methodologische und methodische Aspekte werden in diesen Kapiteln eher zurückhaltend thematisiert.
Wer tiefer in die Thematik einsteigen will, der sollte Kapitel 2 und 6 als mittlere Klammer hinzunehmen. Kapitel 2 präsentiert Theorie und Stand der Forschung zum Kooperativen Lernen sowie die methodische Anlage des Projekts. Diese Aspekte werden in Kapitel 6 wieder aufgenommen. Hier erfolgt eine zusammenfassende Diskussion der drei Teilstudien, in der wir die jeweiligen Einzelbefunde systematisch aufeinander beziehen. Uns hat insbesondere überrascht, wie hintergründig und zugleich wirkmächtig die Institution und Organisation der Schule (in unserem Fall: des Gymnasiums), vor allem ihre fast allgegenwärtige Ausrichtung auf Vergleichbarkeit und Prüfungen, in den Unterricht als den professionellen Kernbereich der Lehrerinnen eingreifen und diese zu Handlungen und Entscheidungen bringen, die ihren erklärten Absichten und Zielen teilweise diametral entgegenlaufen. Das Gymnasium hält auf seiner ‚Schauseite‘ den Gedanken der Bildung hoch, auf seiner ‚Rückseite‘ aber operiert es in den verinnerlichten Routinen der Akteur*innen (Lehrenden wie Lernenden) als ‚Prüfungsschule‘. Das lässt uns am Ende unseres Projekts an der grundsätzlichen Möglichkeit von (fremdsprachlicher) Bildung im Rahmen dieser Schule zweifeln.
Die dritte Leseoption schließlich ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit rekonstruktiver, fachdidaktisch informierter Unterrichts- (Kapitel 3) und Professionsforschung (Kapitel 5), sowie fremdsprachlicher Wirkungsforschung (Kapitel 4). Da es sich dabei um eigenständige Teilstudien handelt, enthalten sie jeweils einen eigenen Theorie- und Methodenteil und dokumentieren die konkrete Auswertung unserer Daten anhand zahlreicher Analysebeispiele.
Die Gesamtanlage der Studie und dieses Buches ist das Gemeinschaftsprojekt eines Fremdsprachenforschers und eines Schulpädagogen. Wir zeichnen auch für die meisten Kapitel in gleichen Anteilen verantwortlich. Ausnahmen sind Kapitel 2 (Stand der Forschung), das von Andreas Bonnet allein verfasst wurde, sowie Kapitel 4 (Sprachstudie), dem wesentlich eine Masterarbeit zugrunde liegt. Kai Glason gehört zu den Studierenden der ersten Stunde, die von Anfang intensiv an den Projektseminaren an der Universität Hamburg mitgewirkt haben. In der Auswertung der Sprachdaten und der Aufbereitung der Befunde wurden wir intensiv von dem empirischen Bildungsforscher Knut Schwippert beraten, der zusammen mit Kai Glason und Andreas Bonnet als gemeinsamer Autor dieses Kapitels fungiert.
Darüber hinaus ist eine ganze Reihe weiterer Personen beteiligt, die nicht als Co-Autor*innen auftauchen, mit wichtigen inhaltlichen Beiträgen aber wesentlich zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Dies sind zuallererst Elisabeth Bracker da Ponte, Helene Decke-Cornill und Christine Gardemann. Vielen herzlichen Dank für eure intensive Beteiligung an Theorieentwicklung, Datenerhebung und Analyse und eure konstruktive Kritik am Manuskript.
Weiterhin danken wir zahlreichen Studierenden der Universitäten Hamburg und Frankfurt sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die sich vor allem in der Anfangsphase des Projekts engagiert an der Entwicklung kooperativer Lernmaterialien beteiligt und einige sehr kluge Abschlussarbeiten in diesem Bereich verfasst haben. Stellvertretend für viele andere seien Birte Dorau, Linhsay Mews, Natalie Reiser, Julia Sarai-Schnepel, Sarah Schleckmann, Ole Schmieder, Kathleen Schuppe, Rebecca Stahlschmidt, Cipriana Topliceanu und Anna Winkler genannt. Ihr habt euch im Laufe eures forschenden Lernens zu echten Expert*innen für Kooperatives Lernen, Materialentwicklung und Sprachkompetenz entwickelt, und es war Freude und Privileg, mit euch zusammen zu arbeiten.
Unser Dank gilt nicht zuletzt den Lehrpersonen, die sich auf den Weg gemacht haben, ihren Unterricht zu entwickeln und uns dabei mit Videokamera und Mikrophon Zugang zum Geschehen und vor allem zu ihren Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen gewährt haben. Silke Borg und Yvonne Kuse seien hier besonders hervorgehoben. Ohne ihre Bereitschaft, sich auch potenziell krisenhaften Verläufen der eigenen Berufsbiographie zu stellen, gäbe es dieses Projekt nicht, gäbe es weitergedacht aber überhaupt keine empirisch gehaltvolle Unterrichts- und Professionsforschung.
Für ihre intensive Redaktion der Manuskripte danken wir außerdem Chris-Berit Schultz. Du hast dich nie auf Typos beschränkt, sondern dich mit deinem zielsicheren Radar für begriffliche und argumentative Inkonsistenzen um dieses Buch verdient gemacht. Monika Knaupp danken wir für die sorgfältige Endredaktion und die Fertigstellung des Manuskripts.
Wir wünschen uns Leser*innen, die sich (auch) durch die Lektüre dieses Bandes zu eigenen Unterrichtsentwicklungsversuchen oder empirischen Forschungsarbeiten inspirieren lassen. Wir hoffen darauf, dass dieses Buch sowohl Zustimmung als auch Widerspruch hervorruft und wir darüber mit Ihnen ins Gespräch kommen.
Hamburg und Marburg im Oktober 2020
Andreas Bonnet und Uwe Hericks
1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen
Dies ist eine Studie über Kooperatives Lernen. Es ist eine Studie über Englischunterricht. Es ist aber vor allem eine Studie über Lehrer*innen, die ihren eigenen Unterricht weiterentwickeln wollen – und darüber, wie die Schule als Organisation und gesellschaftliche Institution eine derartige Initiative unterstützt oder erschwert. Für dieses Unterfangen sind die Innenperspektive der Lehrer*innen und die Außenperspektive der Forscher*innen in gleicher Weise notwendig. Daher ist es sehr wichtig, dass diese beiden Perspektiven sowie die jeweiligen Ausgangssituationen und Ziele der Lehrer*innen und Forscher*innen transparent werden. Die folgende Einleitung ist daher in zweierlei Weise narrativ. Zum einen erzählt sie in kurzen Zügen die Geschichte des Projekts. Zum anderen greift sie auf einige, erst später rekonstruktiv aus den Interviewdaten zu gewinnende, Befunde vor, um zu illustrieren, auf welche Problemlagen die Lehrer*innen reagiert haben, als sie sich auf den Weg zu Kooperativem Lernen machten. Am Ende der Einleitung wird das Erkenntnisinteresse der Studie formuliert, das später im Theoriekapitel konkretisiert und in Forschungsfragen überführt wird.
1.1 Auftakt des Projekts
In diesem ersten Abschnitt des Kapitels wird die Geschichte der ersten Phase des Projekts erzählt. In diesem Teil soll die Ausgangssituation aller Beteiligten1 so plastisch wie möglich dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie der Projektstart verlaufen ist, damit sich ein Bild ergibt, warum die verschiedenen Beteiligten – also vor allem die Lehrer*innen und Forscher*innen – welche Entscheidungen getroffen haben. Das ist besonders notwendig, weil wir folgende Erfahrung gemacht haben: Wo auch immer wir über unser Projekt gegenüber universitären Kolleg*innen berichtet haben, wurde uns die Frage gestellt, warum wir den beteiligten Lehrer*innen keinen Begriff von Kooperativem Lernen vorgegeben haben und wie wir kontrollieren konnten, was diese tatsächlich unterrichteten. Vorgaben und Kontrollen entsprachen nicht unserem Anliegen, waren aber auch innerhalb unserer Forschergruppe immer wieder Thema intensiver Debatten. Überspitzt kann man ja die Frage stellen, woher man denn wissen will, was eigentlich beforscht wird, wenn die Lehrer*innen machen, was sie wollen. Am Ende des Kapitels ist diese Frage hoffentlich einigermaßen zufriedenstellend beantwortet.
1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen
Als erstes sollen aber nun die Lehrer*innen zu Wort kommen. Wie stellt sich der Projektstart aus ihrer Sicht dar? Welche Ziele hatten sie zu Beginn? Was verstanden sie am Anfang unter Kooperativem Lernen? Zuallererst ist das Projekt für sie der Versuch, dem alltäglichen ‚Zirkus‘ ein Ende zu machen. Zirkus aber nicht einfach so, im Sinne der Redensart, alles trubelig und durcheinander. Silke Borg und Yvonne Kuse sind da sehr viel klarer in ihrer Auffassung1: Ihre Auftritte vollziehen sich in zwei verschiedenen Rollen. Vor allem Silke Borg sieht sich oft als „Pausenclown“, der auf der Bühne „herumturnt“, um „Lerninhalte zu vermitteln“. Und beide sind auch im Raubtierkäfig tätig, denn sie sehen sich als „Dompteure“. Das ist insofern schon besser als der Pausenclown, da ein Dompteur wenigstens zum Hauptprogramm gehört und nicht versuchen muss, die Zuschauer*innen zu unterhalten, während sie sich mit Getränken und Popcorn versorgen oder zur Toilette gehen. Aber auch die Dompteurstätigkeit ist extrem anstrengend. In der Manege selbst lauert dauernd die Gefahr, dass ein Raubtier (auch im Rücken des Dompteurs) zum Sprung ansetzt, so dass die Lehrer*innen dauernd unter hoher Anspannung stehen. Zum anderen wollen die Tiere permanent „gefüttert werden“ und machen keine Anstalten, sich selbst um ihr Fressen zu kümmern.
Was genau ist mit diesen Metaphern gemeint? Das Bild des Pausenclowns steht bei beiden Lehrerinnen in Zusammenhang mit einem Gefühl des Ausgesetztseins und der Notwendigkeit, ein Publikum – also die Schüler*innen – dauerhauft begeistern zu müssen. Silke Borg verwendet dazu auch das Bild des „Entertainers“. Dessen Arbeitsplatz ist die „Bühne“ und auf ihn sind die Scheinwerfer des „Rampenlichts“ gerichtet, wodurch er die Menschen im Publikum eigentlich gar nicht einzeln sehen kann. Dieser Aspekt wird bei der näheren Analyse (vgl. Kap. 5) noch zu betrachten sein, denn dieser Effekt wird nicht – wie im Bild des „Entertainers“ impliziert – von außen, sondern eher durch Silke Borgs Unterrichtsbild, und damit von innen, verursacht. Die Aufgabe einer Lehrer*in als „Entertainer“ ist es, die Schüler*innen permanent zu „begeistern“ und „mitzureißen“. Das ist anstrengend, auslaugend und verlangt dauernde Kreativität.
Und der Dompteur? Was hat er mit Unterricht zu tun? Zum einen sehen sich die Lehrer*innen tatsächlich mit Wildheit bis hin zu Gewalt konfrontiert, so wie sie im Bild des Dompteurs mit seinen Raubtieren enthalten sind. Yvonne Kuse beschreibt dazu Situationen, in denen ein Schüler in der Klasse immer wieder „geschlagen, getreten, gespuckt und geschimpft“ hat. Zum anderen drückt sich darin auch eine dauernde Anspannung aus, in der die Lehrer*innen mit einem unkontrollierbaren Ausbruch oder Angriff rechnen. Dies ist das genaue Gegenteil von Autonomie, die ja eigentlich zum Kernbestand professionalisierter Berufe (vgl. Kap. 2.2) gehört. Im Unterricht verlieren Yvonne Kuse und Silke Borg also genau jene Selbstbestimmung, die sie eigentlich für die Ausübung ihres Berufs brauchen.
Und die Schüler*innen? Die haben ihre Autonomie auch verloren. Sie lassen sich mit Lernstoff füttern und verhalten sich weitgehend passiv – von den beschriebenen Einzelausbrüchen abgesehen. Die Metapher des Fütterns ist in Bezug auf die Schüler*innen keinesfalls nur harmlos oder niedlich. Gefüttert werden Babys, Greise und Schwerkranke. Im positiven Sinne ist darin enthalten, dass die Lehrer*innen eine große Verantwortung für Ihre Schützlinge übernehmen, dass sie sich um sie kümmern und sich ihnen zuwenden. Das Bild drückt aber auch aus, dass die Schüler*innen von den Lehrer*innen nicht nur als geistig und körperlich unterlegen gesehen werden, sondern dass sie aus Sicht der Lehrer*innen auch keine Selbständigkeit besitzen. Und das was da verabreicht wird, sind auch keine anspruchsvollen Inhalte, sondern „Informationen“. Es gibt also auch nichts zu kauen, sondern es wird Brei geschluckt: memorieren statt denken.
Bemerkenswert ist dabei, dass anscheinend niemand durch äußere Anweisungen zur Dompteurstätigkeit gezwungen wird. Weit und breit ist kein Zirkusdirektor zu sehen, der zum Peitschenschwingen antreibt. Silke Borg sagt vielmehr, dass sie das „Gefühl [hat] ich muss irgendwie Dompteur sein und immer Input geben“. Der Zirkusdirektor ist also schon vor langer Zeit zum inneren Feind geworden. Innere Notwendigkeit statt äußerer Zwang. All dies wird den Lehrer*innen erst im Projekt ansatzweise bewusst. So führt Silke Borg aus, dass die Fütterhaltung der Schüler*innen ihr im Projekt besonders auffalle. Die in dieser Art von Unterricht enthaltene Verachtung der Schüler*innen karikiert sie in einem fiktiven Lehrerstatement: „So, habt ihr verstanden? Ja? Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht: Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens: Wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit.“
Die von den Lehrer*innen formulierten Einsichten bleiben in gewisser Weise noch äußerlich. Zwar machen Yvonne Kuse und Silke Borg die mögliche Verantwortung der Schule für die Passivität der Schüler*innen explizit. Aber die Einsicht, dass die Schule sich ihre Raubtiere, Dompteure und Pausenclowns selbst macht, wirft natürlich die Frage auf, wie das genau vonstatten geht und welche Rolle Silke Borg und Yvonne Kuse dabei spielen. Denn zwischen den Zeilen deuten sie an2, dass sie auch selbst das präsentierende Lehren, das Verfüttern und Abprüfen von Informationen, das Voranschreiten im Stoff und die dauernde Ergebnissicherung verinnerlicht haben.
Im Laufe des Projekts hat sich dies verändert. Zug um Zug ist den Lehrer*innen deutlicher geworden, in welchen Abhängigkeiten sie stehen, von welchen Überzeugungen und verinnerlichten Zwängen ihr Handeln beeinflusst wird, welche Werte sie verfolgen und an welche Grenzen sie stoßen. Das hat ihnen niemand erklärt, sondern zu diesen Einsichten sind sie selbst gekommen. Und noch eine Geschichte wird dort erzählt. Zusammen mit dem Verständnis ist nämlich auch eine teilweise neue Praxis entstanden. In welchem Verhältnis die beiden Seiten – neues Verständnis und neue Praxis – zueinander stehen, ist erst im Laufe der Zeit deutlich geworden. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, wurde aber gleich zu Anfang klar. Es zeigte sich nämlich, dass Yvonne Kuse die von ihr kritisierte gymnasiale Normalität derart tief verinnerlicht hatte, dass sie davon bei ihrer Unterrichtsplanung, trotz explizit anderer Ziele, zunächst nicht abweichen konnte.
Ihren Berichten zufolge hat sich Folgendes mehrfach zugetragen: Nach ihrem Schultag und womöglich noch nach einer Konferenz setzt sich Yvonne Kuse (zum Kummer ihres Mannes) an ihren Schreibtisch und plant die Englischstunde für den folgenden Tag. Die Stunde nimmt Gestalt an, ein Ablaufplan und Material entstehen. Als die Stunde beinahe fertig ist, realisiert Yvonne Kuse, dass sie weder kooperativ noch individualisierend ist. Obwohl dies doch ihre erklärte Absicht war. Sie blickt zur Uhr, sie holt tief Luft, und beginnt von vorn. Sysiphos! Im Laufe des Projekts wird Silke Borg etwas ganz ähnliches widerfahren – allerdings im Unterricht selbst. Aus beidem zusammen werden sich Einsichten zur Frage ergeben, wie das eigene Unterrichtsbild, und somit die eigenen Überzeugungen, mit dem Unterrichtshandeln zusammen hängt, oder eben auch nicht. Auch dazu mehr im Kapitel, das die Entwicklungen der beiden Gymnasial-Lehrerinnen über die gesamten drei Jahre rekonstruiert (Kap. 5).
Die Ziele der Lehrer*innen für das Projekt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der dargestellten Situation, mit der sie ganz und gar nicht zufrieden sind. Ein zentrales Ziel der beiden Gymnsial-Lehrerinnen ist es daher, ihre Klassenzimmer zu Orten zu machen, an denen Schüler*innen und Lehrer*innen selbstbestimmt aktiv sein können. Yvonne Kuse betont dabei besonders den Aspekt, dass die Schüler*innen Verantwortung übernehmen sollen: sich selbst anleiten, sich selbst prüfen, ihren Lernstand reflektieren. Dazu möchte sie den Schüler*innen die Kontrolle über ihr Arbeitstempo geben. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Schüler*innen sich gegenseitig helfen. Silke Borg hat dieselben Ziele und macht deutlich, dass sie ihren Schüler*innen zukünftig das Recht geben möchte, in individualisierten Lernphasen selbst über ihr Arbeitstempo zu bestimmen. Auch sie meint, dass dazu die Schüler*innen selbst prüfen sollen, ob sie die bearbeiteten Inhalte verstanden haben. Dieses Verstehen ist das Kriterium dafür, sich anschließend einen neuen Inhalt vorzunehmen. In Bezug auf ihre eigene Rolle sind sich die Lehrer*innen ebenfalls einig: runter von der Bühne, weg mit Peitsche und Clownskostüm, raus aus dem Rampenlicht. Sie wünschen sich außerdem, nicht länger einziger Bezugspunkt bei Schwierigkeiten aller Art, sondern Moderator*in und Lernhilfe zu sein. Für Silke Borg steht über allem das Ziel, Schüler*innen und Lehrer*innen vom Druck zu befreien, der auf ihnen lastet. Insgesamt könnte man daher zusammenfassend sagen, dass sie sich nicht weniger vom Projekt verspricht, als dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Dass die Schule als Urheberin benannt wird, legt nahe, dass der Weg zu dieser Befreiung nur über eine Veränderung der Schule selbst vonstatten gehen kann.
Welche Veränderungen haben die Lehrer*innen dazu im Sinn? Wie stellen sie sich ihren Unterricht zukünftig vor und was ist ihr Konzept von Kooperativem Lernen? Bei beiden Gymnasial-Lehrerinnen ist das beschriebene Ziel ein unmittelbarer Bestandteil des Konzepts. Im Zentrum steht die Übertragung von Verantwortung an die Lernenden. Beide sind sich außerdem darin ähnlich, dass ihre Unterrichtsbilder und auch ihr Unterricht kooperative, individualisierende und instruktivistisch-frontale Elemente enthalten. Explizit nennt Yvonne Kuse ihre Vorstellung „selbstgesteuertes Lernen“, und Silke Borg möchte, dass „eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“. Darüber hinaus ist aber auch die von beiden Lehrerinnen so beschriebene frontale Normalität des gymnasialen Englischunterrichts präsent; sie betrachten sich als für die Sicherung von Inhalten und das stete Fortschreiten im Unterrichtsstoff zuständig. Bei beiden findet sich außerdem die Überzeugung, dass zu erfolgreichem Lernen im Englischunterricht ein gewisses Maß an frontaler Instruktion gehört.
Unterricht in der Gesamtgruppe spielt daher bei beiden nach wie vor eine wichtige Rolle – allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse Bestandteil und erster Bezugspunkt ihres Konzepts von Kooperativem Lernen. Deren Miteinander wird durch die Metapher „Klasse als Team“ ausgedrückt. Damit möchte sie sagen, dass Kooperatives Lernen dann gelingt, wenn die Vielzahl der unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler*innen füreinander verfügbar gemacht wird. Dementsprechend nennt sie auch die von ihr angestrebte Form des Unterrichts „selbstgesteuertes Lernen“ und betont damit den Pol der Lernerautonomie viel stärker als den der Kooperation. Gleichzeitig spielt frontal organisierter Unterricht mit der gesamten Klasse für sie eine wichtige Rolle. Silke Borg hingegen spricht von Beginn an davon, dass sie ihren Unterricht in Hinblick auf Vierergruppen organisieren möchte. Diese Gruppen sollen zusammen sitzen und arbeiten. Auch sie aber hält frontale Phasen mit der gesamten Lerngruppe für notwendig und sucht nach einer Sitzordnung, in der beides möglich ist. Diese differenzierten und komplexen Vorstellungen der Lehrer*innen gehen eindeutig über kleine Mikromethoden zur situativen Herstellung von Kooperativität hinaus. Im Theorieteil erfolgt daher eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kooperativen Lernens, um der zu erwartenden Komplexität auch konzeptuell gerecht zu werden.
Damit sind Ausgangssituation, Ziele und Vorstellungen der Lehrer*innen erörtert. Das Projekt kann also beginnen. Der erste Akt, der eigentliche Projektbeginn, erfolgt im Winter 2007. Silke Borg als Initiatorin an ihrer Schule knüpft an die positiven Erfahrungen mit einer zuvor existierenden Gruppe zur Unterrichtsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe an und macht sich Gedanken dazu, wie dies auf die Mittelstufe übertragen werden könnte. Thomas Gaber, Lehrer einer Hauptschule, beschäftigt die Frage, wie er seine Schüler*innen für die bildungsadministrativ vorgesehene neue Kompetenzprüfung in Klasse 9 zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fit machen könnte, in der die Schüler*innen in vorgebenen Rollen (z. B. als Tourist, der sich über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt informiert) auf Englisch kommunizieren müssen. Über die jeweils involvierten Hochschullehrer*innen einer Universität und einer Pädagogischen Hochschule kommt es rasch zu einer Vernetzung der zunächst unabhängig voneinander begonnenen Projekte. Alle Seiten erkennen schnell, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden und beschließen, daraus ein Projekt der Unterrichtsentwicklung und Forschung zu machen. Es läge sicherlich nahe, Aktionsforschung zu betreiben. Es wäre auch möglich, es in die fachdidaktische Entwicklungsforschung einzubringen. Beide Ansätze aber würden das Lehr-Lern-Geschehen selbst und damit die systemische Mikroebene (Fend 2006) in den Vordergrund rücken. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass damit keine Brille für die Wechselwirkungen der Unterrichtsentwicklung mit den schulischen Strukturen und für die Entwicklung der Lehrer*innen vorhanden gewesen wäre. Und darum geht es allen am allermeisten.
Zu Beginn des Projekts greifen die Lehrer*innen jeweils auf Vorerfahrungen mit Unterrichtsentwicklung zurück, denn an ihren Schulen hatte es bereits punktuelle Entwicklungsvorhaben gegeben, z. B. zur Entwicklung jahrgangsbezogener Curricula. Nach intensiven Gesprächen über diversen Tassen Tee und Kaffee werden Lehrer*innen und Forscher*innen sich einig, dass im Zentrum des Projekts die Entwicklung von Unterrichtsmaterial für das Fach Englisch stehen müsse. Auch kommt man schnell überein, dass es sinnvoll wäre, zunächst eine Pilotphase in Klasse 5 von wenigen Wochen Dauer zu planen und danach zu überlegen, ob das Ganze tragfähig sei. Die Lehrer*innen würden den didaktisch-methodischen Rahmen stecken und ihre Wünsche äußern. Die Hochschullehrer*innen würden diese Vorstellungen im Rahmen von Seminaren zu Kooperativem Lernen aus Sicht der Englischdidaktik bzw. Schulpädagogik gemeinsam mit ihren Studierenden in Material in Form von Arbeitsblättern umsetzen, die die Lehrer*innen dann in ihrem Unterricht verwenden oder noch verändern könnten. Organisatorisch ist die Sache also schnell in trockenen Tüchern.
Aber wie steht es um die Inhalte? Es wird rasch klar, dass Silke Borg durch Gespräche mit einer befreundeten Lehrerin ein Konzept von Individualisierung im Kopf hat. Besonders fasziniert ist sie von der Idee, dass die Schüler*innen in diesem Konzept selbst bestimmen dürfen, wann sie sich Leistungskontrollen unterziehen wollen. Thomas Gaber möchte mit Hinblick auf die Kompetenzprüfung vor allem, dass die Schüler*innen in seinem Unterricht höhere eigenständige Sprechanteile in der Fremdsprache erhalten. Die Forscher*innen hingegen haben stärker kooperative Vorstellungen im Kopf: Also Gruppenarbeit als routinisierte Arbeitsform in verschiedener Gestalt von Think-Pair-Share bis Projektarbeit. Schon hier ist aber vollkommen klar, dass die am Projekt beteiligten Lehrer*innen ihren Weg letztlich selbst finden und gehen sollen. Es kommt allen darauf an, zu einem für die Lerngruppen und die Schule im Alltag umsetzbaren Konzept zu gelangen und nicht ein methodisches Raumschiff zu landen. Am Ende der zahlreichen Gespräche kommen alle überein, das Projekt anzugehen. Thomas Gaber wird seinen Kollegen Christoph Schiers, Silke Borg ihre Kolleginnen Yvonne Kuse und Anke Rolffs anfragen, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Die Forscher*innen würden nach weiteren Mitstreiter*innen an der Universität bzw. Hochschule suchen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass beide Seiten Lernende sein werden, denn die Forscher*innen nahmen den Impuls der Lehrer*innen auf, auch Individualisierung zu berücksichtigen und fanden in der Forschungsliteratur einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen wieder (vgl. Kap. 2.2).