Kitabı oku: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37», sayfa 3

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Hans-Ernst Schiller

In der Spanne eines Augenblicks

Messianische Motive bei Benjamin, Adorno und Horkheimer1

Anleihen am politischen Messianismus sind gefährlich, wie wir aus dem 1000-jährigen Reich der Deutschen wissen. Wer sich messianischen Motiven bei kritischen Theoretikern zuwendet, tut deshalb gut daran, sich der Tradition der Aufklärung zu versichern. Er muss sich abgrenzen gegen die messianische Verkleidung autoritärer Führer, die ihrer reaktionären Politik eine pseudoreligiöse Form zu geben suchen. Aus der Verehrung des einen Gottes, welche die Menschheit vereinigen soll, wird die Berufung auf eine höhere Macht, die das nationale Kollektiv begünstigt. Aus der Utopie des Friedens wird das Ziel einer imperialistischen Herrschaft, gegen die keiner mehr aufzumucken wagt. Und die Idee der Gerechtigkeit verwandelt sich in das maßlose Verlangen, den nationalen Stolz zu befriedigen. Wo hingegen die Anknüpfung an die messianische Tradition legitim ist, ruht sie auf einer universalistischen Moral, die sich aus der menschlichen Vernunft begründet.

1. Philosophie und messianischer Offenbarungsglaube bei Kant

Nach Kant liefert die autonome Moral die Gründe, welche Überzeugungen der Religion Gültigkeit beanspruchen können. Wenn der religiöse Glaube begründet ist, kann er »Vernunftglaube« heißen.2 Vernunftglaube ist also kein Glaube an die Vernunft, sondern ein religiöser Glaube, der durch die Vernunft legitimiert ist. Er ist zu unterscheiden vom Offenbarungsglauben, der sich auf die Autorität heiliger Schriften beruft. Die Gründe des Vernunftglaubens sind moralischer Natur. Sie erweisen den notwendigen Zusammenhang der Moral mit den Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Diese Ideen gelten als Möglichkeitsbedingungen zur Verwirklichung des von der praktischen Vernunft gebotenen Endzwecks, des höchsten Guts. Aber die Verbindung von Religion und Moral darf nicht die Autonomie der praktischen Vernunft gefährden; der moralisch Handelnde muss sich allein durch die kategorischen Forderungen der praktischen Vernunft bestimmen lassen, ohne auf eine irdische oder überweltliche Belohnung zu schielen. Religion ist durch Moral notwendig, aber nicht zur Moral.3

Das für Kant maßgebliche Dokument des Offenbarungsglaubens ist die Bibel.

»Der biblische Glaube ist ein messianischer Geschichtsglaube […] und besteht aus einem mosaisch-messianischen und einem evangelisch-messianischen Kirchenglauben, der den Ursprung und die Schicksale des Volks Gottes so vollständig erzählt, daß er von […] dem Weltanfang (in der Genesis), anhebend, sie bis zum Ende aller Dinge (in der Apokalypsis) verfolgt«4 .

Zwischen Vernunftglaube und Offenbarungsreligion besteht nach Kant nicht nur ein Gegensatz. Allerdings muss die Schrift so ausgelegt werden, dass sie mit dem Vernunftglauben in Übereinstimmung steht. Dabei müssen freilich die meisten Dogmen der auf die Bibel sich berufenden Religionsgemeinschaften verabschiedet werden, so z. B. die Messianität Jesu in dem spezifisch christlichen Sinn seiner Gottessohnschaft. Nachfolge bedeutet, in Jesus das Symbol der moralischen Vollkommenheit der Menschheit zu sehen, denn wenn er

»als die in einem wirklichen Menschen ›leibhaftig wohnende‹ und als zweite Natur in ihm wirkende Gottheit vorgestellt wird: so ist aus diesem Geheimnisse gar nichts Praktisches für uns zu machen, weil wir doch von uns nicht verlangen können, daß wir es einem Gotte gleich thun sollen, er also in so fern kein Beispiel für uns werden kann […].«5

Der Endzweck des moralischen Handelns ist das höchste Gut. Es wird bei Kant definiert als Verbindung von Moral und Glückseligkeit in ihrer Vollkommenheit. Bezogen auf die Gesinnung existiert diese Verbindung in einer unsichtbaren Kirche, dem Reich Gottes, das auf Erden in einer sichtbaren Kirche erscheint.

»Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts […] nicht selbst realisieren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich vor ihm der Abgrund eines Geheimnisses von dem, was Gott hiebei thue, […] indessen daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anderes erkennt, als was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein.«6

Grübeln über das Zutun Gottes ist also sinnlos, seine nähere Bestimmung bloße Einbildung. Wie die Vorstellung von Jesus als göttlicher Person uns von der Erfüllung unserer moralischen Pflichten eher ablenkt als uns zu ihr anspornt, so schwächen alle messianisch-apokalyptischen Phantasien die Autonomie der praktischen Vernunft, die Unbedingtheit ihrer Forderung.

Neben der metageschichtlichen Dimension des höchsten Guts, dem inwendigen Reiche Gottes, in dem die moralische Gesinnung herrscht und das in einer Kirche nur erscheint, gibt es für Kant auch eine geschichtlich-politische Dimension. Es ist die des Rechts, das die äußeren Verhältnisse der irdischen Vernunftsubjekte zueinander betrifft. Das von praktischer Vernunft gebotene Ziel ist die Verrechtlichung der Verhältnisse der Individuen in den Staaten und der Verhältnisse der Staaten in einem Völkerbund. Ohne die Herrschaft des Rechts gibt es keinen Frieden. Da sich Kant bewusst ist, dass die Idee des Friedens historisch zunächst im Zusammenhang messianischer Hoffnung stand, bemerkt er: Auch die Philosophie könne ihren Chiliasmus haben.7

Kant meint natürlich nicht, dass die Philosophie es der Offenbarung des Johannes gleichtun und ein messianisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit voraussagen könne, welches buchstäblich 1000 Jahre bis zum Ende dieser Welt währen soll.8 »Chiliasmus« ist hier vielmehr ein Bild, das auf einer Analogie, einem Vergleich ähnlicher Verhältnisse beruht. Wer sagt, dass die Flossen die Beine des Fisches sind, behauptet nicht, dass der Fisch Beine hat. Er hat vielmehr einen Vergleich unter dem abstrakten Begriff des Fortbewegungsorgans angestellt, der beides, Flosse wie Bein, umfasst. Wer das Marx’sche Kapital als »Bibel der Arbeiterklasse«9 bezeichnet hatte, konnte im Ernst nicht meinen, dass dieses Buch eine göttliche Offenbarung ist. Er hat vielmehr, mit welchem Recht auch immer, Ähnlichkeiten zwischen der Haltung der Autoren oder der Rezipienten festgestellt: So wie der Gläubige nicht am Wort Gottes, so zweifeln Proletarier nicht an den Analysen und Prognosen des Karl Marx. Bei der kantischen Formulierung, dass auch die Philosophie ihren Chiliasmus haben könne, ist der abstrakte Vergleichspunkt sowohl der Inhalt der irdischen Zielvorstellung als auch sein Verhältnis zur Transzendenz. Im Medium der Begriffe, genauer: der Rechtsbegriffe, die in der Vernunft ihren Ursprung haben, wird, wie im Medium der religiösen Vision, die Idee des irdischen Friedens artikuliert; und beide Male ist sie nicht ein Letztes, sondern wird von der Hoffnung auf eine universale Gerechtigkeit, die auch den Toten zuteil wird, übertroffen.

Indem bei Kant an die Stelle der biblischen Geschichten die Begriffe der Vernunft treten, werden Moral und Theologie aus einer ausschweifenden kirchlichen zu einer knappen philosophischen Angelegenheit. Nicht jede Verbegrifflichung ergibt, wie der kantische »Vernunftglaube« zeigt, eine Verweltlichung oder »Säkularisation«. Das freilich ist der Fall bei der Verwandlung von Hoffnungen, die sich mit der Gestalt eines Messias verbanden, in Zielbegriffe menschlich-geschichtlichen Handelns.

2. Messianismus und Benjamins Löschblatt

2.1 Theologiekritische Voraussetzungen und messianische Motive

»Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.«10 Diese Äußerung Adornos zeigt, dass bei ihm nicht nur die »Rationalisierung« der Religion, wie sie im Zeitalter der Aufklärung vollzogen wurde, historische Voraussetzung ist, sondern auch die ihr folgende Religionskritik von Autoren wie Feuerbach und Marx. Adorno sieht »keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichen Offenbarungsglauben gegenüber«11 und verwirft zugleich die Begriffsreligion Kants, die er freilich missversteht.12 Horkheimer erinnert an Schopenhauer, dem zufolge »Gläubige, die einen Weltschöpfer, gar einen gütigen, anbeten, […] irregeleitet« sind.13 Benjamin schließlich hat seiner theologiekritischen Haltung einen wunderbaren metaphorischen Ausdruck verliehen: »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«14

Von »Messianismus« in ursprünglicher Bedeutung dürfte unter dieser Voraussetzung eigentlich keine Rede mehr sein. Der Messias, der Gesalbte – griechisch Christos – ist nämlich, was immer er sonst sein möge, ein Auserwählter und Gottgesandter, ein Werkzeug des Herrn. Unter theologiekritischen Prämissen kann es nur »messianische Motive« geben, Motive also, die sich der Auseinandersetzung mit dieser religiösen Tradition verdanken, von ihr angeregt sind, sie aber auch den neuen gedanklichen Vorausetzungen gemäß verändern, ihnen anverwandeln. »Motive« werden dabei die messianischen Offenbarungen in einem genauen Sinn: Beweggründe des menschlichen Handelns, in dem allein, wenn irgend, sich jene Hoffnung verwirklichen können.

Der Gang vom Messianismus zu den messianischen Motiven ist ein Prozess der Säkularisation. Verweltlicht werden die Ziele durch rationale Begründung und die Mittel als menschliche Taten. Wer freilich Motive ausmachen will, die sich einer Säkularisierung von Vorstellungen über das Wirken des Messias verdanken, muss sich zunächst im Klaren darüber sein, dass es »den Messias« in der Religionsgeschichte nicht gibt. Zu unterscheiden sind zumindest der jüdische und der christliche Messianismus, wobei sich auch im Islam messianische Vorstellungen finden lassen.15 Selbst »innerhalb des Judentums wie innerhalb des Christentums [existieren] unterschiedliche Messias-Vorstellungen mit gänzlich verschiedenen Zeit-, Zwischenzeit-, Epochen-, Geschichts-, Reichs- und Weltvorstellungen nebeneinander […], und zwar schon in den Quelltexten der jeweiligen heiligen Schriften.«16 Wir beschränken uns hier auf biblische Texte,17 wobei sich im Hinblick auf unsere Absicht zwei Fragestellungen unterscheiden lassen. Die eine betrifft die Gestalt des Messias, sein Verhältnis zum historischen Geschehen und die Begleitumstände seines Auftretens. Die andere Fragestellung betrifft die Verheißungen, die sich an sein Auftreten knüpfen, die Bestimmungen des messianischen Zustands.

2.2 Das Werk des Messias: Gerechtigkeit und Friede

Diese Bestimmungen des messianischen Zustands lassen sich unter den Begriffen der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit und des Friedens zusammenfassen. Im messianischen Zustand gibt es keine Abgötterei und keinen Verstoß gegen die göttlichen Gebote. Es gibt somit keine Ungerechtigkeit, insbesondere keine Ausbeutung.18 Vom Friedensfürsten heißt es in Psalm 72: »Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. […] er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. […] Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen […].« Ein solcher durch Gerechtigkeit geschaffener sozialer Friede ist das erste messianische Motiv, dem sich eine säkulare, von theologischen Voraussetzungen unabhängige Form geben lässt.

Die Vorstellung des sozialen Friedens ist schon in den biblischen Verheißungen eingebettet in die Utopie eines Völkerfriedens. Die eindrucksvollste Stelle findet sich bei Micha, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wirkte (sie ist von seinem Zeitgenossen, dem ersten Jesaja übernommen worden): Der Herr »wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben […]« (Micha 4, 3 f.). Bemerkenswert an solchen Visionen – man denke an Deuterojesaja 45, 22 f. und 49, 6 – ist ihre universalistische Dimension, die philosophisch vor allem von Hermann Cohen hervorgehoben wurde.19 Schließlich ist die Friedensutopie bei einigen Propheten auch auf die den Menschen umgebende Natur ausgedehnt: Da »werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben« (Jesaja 11, 1-9).

2.3 Messianismus und Eschatologie; Auferstehung

Der Friede in und mit der Natur ist das letzte Motiv, das in der neueren Philosophie verweltlicht wurde. Nicht schon in der Aufklärung, sondern erst unter dem Eindruck der mit der Industrialisierung unvorhersehbar gesteigerten Naturbeherrschung wird der Naturfriede zu einem Moment der Utopie, die in menschlicher Praxis wirklich werden muss. Es nimmt mit Tritojesaja eine eschatologische Form an: »Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird« (Jes. 65, 17). Die messianische Utopie tritt in Beziehung zur Vorstellung des Endes aller Tage, der letzten Dinge, so zum ersten Mal bei Deuterojesaja (51, 6), aus den letzten Jahren des babylonischen Exils.20 Vom zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins erste Jahrhundert n. Chr. wird die Eschatologie in einer weit verzweigten apokalyptischen Literatur ausgearbeitet, von der nur das Buch Daniel kanonisch wurde. Die Katastrophen, die als geschichtliche in Form sozialer Bedrückung und kriegerischer Eroberungen, Zerstörung und Verschleppung dem Kommen des Messias vorausgehen, erhalten in der Eschatologie eine kosmische Dimension. Ideengeschichtlich ist diese Weiterung auf den Einfluss der persischen Religion zurückzuführen, die den jüdischen Eliten im babylonischen Exil bekannt wurde. Die Vereinigung der Messias-Tradition mit der Eschatologie hat zu unterschiedlichen Konzeptionen geführt.21

Mit der Eschatologie verbindet sich ein Motiv, das für unsere Säkularisierungsproblematik von entscheidender Bedeutung ist: die Auferstehung der Toten und der Sieg über den Tod. Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch Daniel aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts: »Zu jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einem zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande« (Daniel, 12, 1 f.). Schließlich wird die Verheißung von der Wiederkehr Christi mit dem Gedanken der Auferstehung, des Totengerichts und des endgültigen Siegs über den Tod verbunden. Die Offenbarung des Johannes nimmt das Gesicht (die Vision) des dritten Jesaja auf: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde […] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. […] Siehe, ich mache alles neu!« (20,1-59).

2.4 Säkularisierung der messianischen Eschatologie bei Walter Benjamin

Auf den ersten Blick lässt sich die Vorstellung von Auferstehung und Sieg über den Tod nicht mehr säkularisieren. Tatsächlich aber ist eben dies in Benjamins Geschichtsdenken unter den Begriffen der Rettung, des Eingedenkens und der Aktualisierung (Vergegenwärtigung) geschehen. Diese Transformation der Auferstehungshoffnung ins Historische hat auf die Stellung zum Messianischen insbesondere bei Adorno einen unübersehbaren Einfluss, wenn sie auch keineswegs unmittelbar übernommen wird. Für Benjamin ist in seiner materialistischen Phase der messianische Begriff der Erlösung von dem historischen der Befreiung nicht zu unterscheiden. Die klassenlose Gesellschaft, um die der historisch-revolutionäre Kampf geführt wird, ist eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität.«22 In ihr gibt es universale Erinnerung oder vielmehr ein Eingedenken, in dem das Vergangene »zitiert«, vollzogen und so vergegenwärtigt und in diesem Sinne auch verlebendigt wird. Das bringt die dritte These über den Begriff der Geschichte zum Ausdruck:

»Der Chronist, welcher die Ereignisse hergezählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit die Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.«23

Im Unterschied zum eschatologischen Vergessen des Alten ist der Stand der Erlösung für Benjamin eine historische Existenz: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tag entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.«24

Natürlich liegt der Einwand nahe, dass auch eine solche historische Transformation der Auferstehungshoffnung die Toten nicht wirklich lebendig macht und die eschatologische Vorstellung sich somit nicht ohne Rest säkularisieren lässt. Während wir bei der Utopie des Friedens wenigstens denken können, dass ihre Verwirklichung das Resultat menschlicher Anstrengung ist, und wir einzelne Schritte angeben können, die uns diesem Ziel vielleicht näher bringen, kann dies für die Hoffnung gegen die Endgültigkeit des Todes nicht gelingen. Wir müssen also damit rechnen, dass sich an die Gestalt des Messias eschatologische Hoffnungen knüpfen, die sich nicht ohne Rest säkularisieren lassen, ohne darum an Berechtigung und Bedeutung zu verlieren.

2.5 Die Gestalt des Messias, Art und Umstände seines Eingreifens

Auch was die Gestalt des Messias und die Weise seines Auftretens betrifft, lassen sich der biblischen Tradition Bestimmungen entnehmen, die sich als messianische Motive bei Benjamin (sowie bei Adorno und Horkheimer) wiederfinden lassen. Der Ausdruck »Messias« leitet sich aus dem Partizip Perfekt des hebräischen Worts für »Salben« ab. Der Gesalbte ist ursprünglich König, Priester oder Prophet, die Salbung selbst Ausweis einer göttlichen Legitimation. Zum Verheißenen und Erwarteten wird der Messias erst unter dem Eindruck der politischen Katastrophen, denen die Nachfolgestaaten des Reichs Davids ausgesetzt waren. Ein restauratives Moment in den Verheißungen der Propheten wird darin deutlich, dass der Messias aus dem Hause Davids stammen soll.25 Dabei ist die Rolle eines Messias in den Verheißungen der Propheten keineswegs zentral. Was sich ankündigt, ist der Tag des Herrn, der vor allem ein Tag des Gerichts und der Strafe ist. Erst im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr., übrigens im Zusammenhang mit einer Ausweitung apokalyptischer Erwartung, gewinnt die Hoffnung auf den Messias als gottgesandten Menschensohn – sei er Priester, König oder Prophet – an Bedeutung. Wie die Resonanz der Taufpredigten Johannes des Täufers zeigt, hat die messianische Erwartung im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen hohen Grad der Erregung und Verbreitung erreicht.

Die Vorstellung des Messias als einzelner Person ist einer Säkularisierung eigentlich nicht zugänglich. Wo sie aus ihrem theologischen Kontext gelöst und aufrechterhalten wird, verkommt sie zu einer irrationalen Führerideologie, die mit den unklaren Sehnsüchten der Massen spielt. Andererseits muss eine Kollektivierung der Messiasvorstellung nicht ohne weiteres ihre Verweltlichung bedeuten. Für Hermann Cohen ist – kantianisch, aber abweichend von der dem Judentum wenig gewogenen Bibellektüre Kants – der Messias das »Symbol« der zukünftigen, im Glauben an den einen Gott vereinten Menschheit: »[…] die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit, das ist der Inhalt der Messiasidee«26. Säkularisiert ist dieser Gedanke in Erich Fromms Interpretation der prophetischen Verheißung, der zufolge der Messias »ein Symbol der eigenen Anstrengung« ist.27

Ebenfalls kollektiviert und säkularisiert ist die Messiasgestalt in Benjamins Vorstellung von der Praxis des revolutionären Proletariats oder allgemeiner: vom »Subjekt der Geschichte«, welches »die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation« ist.28 Dem Proletariat sei eine »schwache messianische Kraft mitgegeben«29 – und ebenso dem Historiker, der das Bild der Vergangenheit festzuhalten und zu entfalten sucht, das im Augenblick der Gefahr und der revolutionären Aktion aufblitzt. Die Messianität des Subjekts der Geschichte – der geschichtlichen Tat sowohl wie der ihr zugehörigen Geschichtsschreibung – ist also zunächst definiert durch die Aufgabe, Vergangenes für das universale Eingedenken zu retten. Es gilt, ein unwiederbringliches Bild festzuhalten, »das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.«30 Die Verwendung der religiösen Termini ist in Benjamins eigener Reflexion eine »Indienstnahme« der Theologie für die Praxis und Theorie der sozialen Revolution. »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.«31 Die Selbstinterpretation in theologischen Begriffen – und deren Instrumentalisierung ist schon ihre Verweltlichung – kommt der revolutionären Sache in Benjamins Augen vor allem deshalb zugute, weil Hass und Opferwillen »sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Bild der befreiten Enkel«32 nähren.

Auch das Auftreten des Messias und seine Begleitumstände können ein säkulares Denken der Befreiung inspirieren. Da ist zunächst das Beieinander von Unheil und Heil wie noch in Hölderlins Patmos-Hymne: »wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.« In der Bibel sind Gefahr und Rettung das Wirken Gottes. In einer säkularen Betrachtung gibt es für das Katastrophische zunächst zwei Möglichkeiten: Es ist entweder Manifestation der durch die Zivilisation unterdrückten finsteren Natur des Menschen oder eine Reaktion auf die Einschränkungen, die Zivilisation der menschlichen Natur überhaupt auferlegt, also eine innerhistorische Kraft, kein Ausbruch von unten. Möglicherweise können diese beiden Modelle auch ergänzt und kombiniert werden, wichtiger jedoch ist, dass es eine weitere Möglichkeit der Säkularisierung gibt, nämlich die strikte Veralltäglichung des Katastrophalen, wie sie von Walter Benjamin vollzogen wird: Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe – natürlich nicht für die jeunesse doreé, sondern für die im Dunkeln.33 Angesichts dieser Alltäglichkeit des Katastrophischen, die im Ablauf der Zeit Trümmer auf Trümmer häuft, kann der wahre Fortschritt nur darin bestehen, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.«34 Diese Zeitvorstellung ist in der Tat »messianisch«, denn auch »der Tag des Herrn« setzt ein Ende, bricht eine historische Dauer ab, ist nicht das immanente Ziel einer Entwicklung. In der Metapher des Sprengens aber kommt die Immanenz der befreienden Kraft zum Ausdruck.

Die Vorstellung, dass das Anwachsen und die Vollendung des Negativen das Heil, die Erlösung, fördert oder sein Nahen anzeigt oder zumindest sein Wesen verdeutlicht, gehört zu den unverkennbar messianischen Motiven auch in der Philosophie von Adorno und Horkheimer. Es ist dann auch nur konsequent, wenn eine wirkliche Veränderung nur noch von dem Augenblick erwartet wird, für den es keine Vorbereitung gibt, der also schon der nächste sein kann.35 Der Minima Moralia zufolge schließt »die vollendete Negativität, einmal ganz anders ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils«36 zusammen. In der Dialektik der Aufklärung heißt es zur Ideologie des faschistischen Tickets: »Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe, von der die Urteilslosen einzig durch die volle Einbuße des Denkens getrennt zu halten sind.«37 Es ist eine original messianische Haltung, die Befreiung in jedem Moment zu erwarten, gerade weil die Last so drückend geworden ist, dass keine planende Vorbereitung mehr möglich scheint. Aber diese Haltung ist eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung auch da, wo sie sich so eindrucksvoll äußert wie in Horkheimers Worten von 1941:

»So verstümmelt alle auch sind, in der Spanne eines Augenblicks könnten sie gewahr werden, daß die unter dem Zwang der Herrschaft durchrationalisierte Welt sie von der Selbsterhaltung entbinden könnte, die sie jetzt noch gegeneinander stellt. Der Terror, der der Vernunft nachhilft, ist zugleich das letzte Mittel, sie aufzuhalten, so nah ist die Wahrheit gekommen.«38

3. Messianische Motive bei Adorno

3.1 Motiv der Rettung; Auferstehungshoffnung und Transzendenz

Das messianische Motiv, das im philosophischen Denken Adornos im Mittelpunkt steht, ist das Motiv der Rettung. Sie sei »der innerste Impuls jeglichen Geistes«.39 Erstaunlicherweise zieht Adorno die säkularisierte Version dieses Motivs, wie es sich bei Benjamin findet, nicht in Betracht. Für ihn ist nicht mehr und nicht weniger gemeint als »leibhafte Auferstehung«, die ihm als Inhalt christlicher Dogmatik vor Augen steht.40 Angesichts der oben erwähnten theologiekritischen Voraussetzungen kann Adornos Position nur in Paradoxa gipfeln: »Wer an Gott glaubt, kann deshalb an ihn nicht glauben. Die Möglichkeit, für welche der göttliche Name steht, wird festgehalten von dem, der nicht glaubt.«41 Das gleicht von ferne dem Leitmotiv der Bloch’schen Religionsphilosophie, nach der nur ein Atheist ein guter Christ sein kann, aber eben nur von ferne. Denn bei Bloch wird der Gegensatz von Erlösung und göttlicher Herrschaft betont, während sich Adorno für einen Abbruch der Reflexion einsetzt: »Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.«42 Aus welchem anderen Grund aber sollte ihre Reflexion der eschatologisch gefassten Hoffnung entgegenarbeiten, als dass sie deren Grundlosigkeit zu Tage fördern könnte? Eine Hoffnung, die nicht mehr gedacht werden kann, hat jedoch keinen Inhalt mehr und verdient diesen Namen nicht. Eschatologische Hoffnung verdankt sich der Verheißung oder wenigstens einem Vernunftschluss, der auf Transzendentes – ein Anderes als diese Welt – geht. Wird weder das eine noch das andere geglaubt, kann sich jene Hoffnung nicht erhalten. Sie zieht sich zurück auf ein unbestimmtes Sehnen: »Keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht.«43 Aber die Sehnsucht beweist nicht, dass es das Ersehnte gibt. Was bleibt, ist eine wehmütige Erinnerung, die von der stets sich erneuernden Sehnsucht wach gehalten wird. Für sie kann allerdings gelten, dass ihr Fehlen das Menschliche um eine wichtige Dimension ärmer macht.

Das Denkverbot über die Hoffnung ist umso unverständlicher, als Adorno behauptet, dass Erkenntnis auf den Gedanken der Erlösung, Wahrheit auf den des Absoluten, Geist auf eschatologische Hoffnung angewiesen ist. Reklamiert wird »die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.«44 Adorno setzt die Erfahrung dem Argument entgegen, aber metaphysische Erfahrung selbst, in der das Moment des Dabeiseins des individuellen Subjekts betont werden soll, ist notorisch unverlässlich.45 Deshalb ist es auch für Adorno nicht möglich, den Antinomien des Argumentierens durch die Berufung auf Erfahrung auszuweichen. Dass der Gedanke, wenn er sich lebendig halten will, in die Transzendenz der eschatologischen Hoffnung münden muss, wird in einer erkenntnistheoretischen Überlegung behauptet. Es ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der spezifischen Weise, in der Adorno Philosophie und Theologie verbindet, dass er dabei nicht, wie Kant und Bloch, von der praktischen Vernunft ausgeht, sondern wahrheitstheoretisch zu argumentieren sucht.46

3.2 Wahrheitsbegriff und eschatologische Hoffnung

Das zentrale Argument besagt, dass die Wahrheit dauern muss, um Wahrheit zu sein. Es bleibt allerdings unklar, wo hier die Beziehung zum individuellen Tod sein soll. Der Gedanke, »der Tod sei das schlechthin Letzte«, ist nach Adorno »unausdenkbar«. »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere«47. Nun lässt sich daraus, dass ein mit einem Zeitindex versehener empirischer Satz zu jedem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, gültig sein muss, sicher nicht schließen, dass er in alle Ewigkeit muss ausgesagt werden können. Dies würde bedeuten, dass jede relative Wahrheit Element eines absoluten Wissens sein muss, das an keinen Zeitindex mehr gebunden ist. Möglicherweise ist der Begriff eines absoluten Wissens notwendig, um die Relativität des menschlichen Wissens zu erkennen; daraus folgt aber nicht – so hatte schon die kantische Kritik der theoretischen Vernunft argumentiert – dass es das Subjekt dieses Wissens gäbe.

Jedoch bedeutet Adornos Argument vielleicht nicht mehr, als dass es für die Anstrengung der Erkenntnis notwendig ist, für jemanden zu schreiben, der, wenn die Mitwelt taub und die Nachwelt womöglich noch unzugänglicher wäre, nur ein »eingebildeter Zeuge«48 oder gar einzig der totgesagte Gott sein kann.49 Und das ist schwerlich völlig falsch: Denn jeder Versuch, etwas zu sagen, das nicht den gängigen Konventionen sich unterordnet, geht an die Grenzen der Sprache, enthält ein individuelles Moment, das nur missverstanden werden kann, und wendet sich so an einen imaginären, unbekannten Hörer. Der Gedanke einer so verstandenen Dauer ist freilich nicht mehr als die subjektive Bedingung dafür, die Anstrengung der Erkenntnisarbeit auf sich zu nehmen; in diesem Sinne kann der Satz verstanden werden, ohne Transzendenz würde sich Erkenntnis zum absolut Gleichgültigen.50