Kitabı oku: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37», sayfa 5

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Thomas Khurana

Impuls und Reflexion

Aporien der Moralphilosophie und die Moral der Aporien nach Adorno

Wenn nach bleibenden philosophischen Beiträgen von Theodor W. Adorno gefragt wird, so werden meist drei mögliche Kandidaten erwogen: seine Analysen der spätkapitalistischen Kultur und Gesellschaft, seine Ästhetische Theorie und der von ihm entwickelte besondere Typ philosophischer Kritik, der unter dem Titel negative Dialektik bekannt ist. Seltener, wenn überhaupt, wird jemand die Ansicht vertreten, ein bleibender Beitrag Adornos bestehe in einer besonderen Moralphilosophie. Zwar trägt das am weitesten verbreitete Werk Adornos, die Minima Moralia,1 die Moral bereits im Titel. Jenes Buch aber hebt schon in den ersten Zeilen mit der These an, dass die Lehre vom richtigen Leben heute nicht mehr der eigentliche Bereich der Philosophie sein könne, da das, was der Philosophie einmal »Leben hieß, […] zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden«2 sei. Statt einer Lehre vom guten Leben bleibt für die Philosophie nur eine Reflexion auf seine Beschädigung möglich. Wo immer Adorno sich der Moralphilosophie selbst zuwendet, markiert er in diesem Sinne vor allem ihre Antinomien und Aporien. Die Annahme liegt nahe, dass die Herausstellung solcher Widersprüche nur darauf zielen kann, uns vorzuführen, dass die Moralphilosophie ihren Gegenstand nicht – oder: nicht mehr – zu denken vermag und allenfalls expressive Funktionen hat für eine Gesellschaft, die von Antagonismen durchzogen ist.3 Eine positive Theorie der Moral scheint in diesem Sinne durch die Form unserer Gesellschaft und die ihr korrespondierenden Formen des Denkens verstellt.

Gegen diese durchaus begründete Lesart möchte ich im Folgenden die These vertreten, dass Adornos Beiträge in diesem Feld noch eine weiterreichende Deutung erlauben. Die Aporien der Moralphilosophie verweisen nicht allein auf ihnen unterliegende gesellschaftliche Widersprüche, sondern zugleich auf innere Spannungen, die dem moralischen Handeln wesentlich sind: In der kritischen Reflexion auf die moderne Moralphilosophie und moralisches Handeln in der modernen Gesellschaft gewinnt Adorno eine dialektische Bestimmung dieses Handelns, dergemäß es sich dadurch auszeichnet, dass es Widersprüche des Handelns auf besondere Weise austrägt. Die ›Aporien der Moralphilosophie‹ verweisen für Adorno so auf eine ›Moral der Aporien‹ – sie verweisen auf innere Spannungen, die für das Moralische selbst konstitutiv sind.4 Moralisches Handeln ist dadurch charakterisiert, dass es die Spannungen von Besonderem und Allgemeinem, Freiheit und Gesetz, Natur und Geist, die menschliches Handeln wesentlich ausmachen, als Spannungen aushält und austrägt. Eine aporetische Moralphilosophie verweist so nicht zwingend auf die schlichte Unmöglichkeit ihres Gegenstands oder ihre eigene Unangemessenheit. Im Herausstellen innerer Widersprüche des Moralischen kann vielmehr im Gegenteil eine Erkenntnis des Moralischen liegen: eine Erkenntnis seiner dialektischen und gespannten Natur.5 In eben diesem Sinne schätzt Adorno den zugleich von ihm scharf kritisierten Kant, da seine Moralphilosophie in ihrem Ansatzpunkt »aporetisch«6 ist. In ihren Widersprüchen erlaubt diese Philosophie für Adorno das Auffinden der heutigen Form und der eigentümlichen Möglichkeit moralischen Handelns. In diesem Sinne will ich Adornos ›Moral der Aporien‹ im Folgenden dadurch herausarbeiten, dass ich seine kritische Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie nachzeichne.7

Die Stoßrichtung von Adornos positiver Formbestimmung des Moralischen kann dabei durch eine doppelte Absetzung bestimmt werden: die Absetzung von der am Gesetzesbegriff orientierten Vorstellung abstrakter Moralität einerseits sowie die Zurückweisung der tugend- oder sittlichkeitstheoretischen Vorstellung einer zweiten Natur andererseits. Die Bedeutung von Adornos Moraltheorie für die nachkantische Moralphilosophie liegt wesentlich darin, dass sie eine Position zu formulieren versucht, die die Alternative von Gesetz und Tugend, Moralität und Sittlichkeit überschreitet. Moralisches Handeln, als ein wesentlich freies Handeln, kann weder durch die Unterwerfung unter allgemeine und abstrakte Gesetze realisiert werden noch durch die Ausbildung einer zweiten Natur, die darin so verstanden würde, dass in ihr Sosein und Gutsein schlicht zusammenfallen.8 Es verlangt vielmehr eine Komplizierung des Verhältnisses zum Allgemeinen, die durch einen besonderen Typ offener Reflexion und eine eigentümliche Sorte moralischer Impulse geleistet wird. In der Dialektik von Impuls und Reflexion werden die Spannungen von Besonderem und Allgemeinem, von Freiheit und Gesetz, von Natur und Geist tatsächlich ausgetragen, statt nur zu einer Seite aufgelöst zu werden (wie in der Gesetzesvorstellung) oder in einem Dritten bruchlos aufgehoben zu werden (wie in der Konzeption einer zweiten Natur). In der reflexiv und impulsiv modifizierten Beziehung zum Allgemeinen zeigt sich das moralische Handeln als Verwirklichung einer Freiheit, die über die Unterwerfung unter selbstgegebene Gesetze hinausgeht.

Um diese positive Auskunft über die Form des moralischen Handelns herauszuarbeiten, gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst (I) werde ich nachzeichnen, wie Adorno anhand von Kants Freiheitskonzeption aus der Kritik der reinen Vernunft eine grundlegende Spannung im Freiheitsbegriff aufzuweisen versucht, die Kant durch seine Auflösungsversuche verdeckt oder vereinseitigt. Sodann (II) werde ich verfolgen, wie Adorno diese Diagnose auf die Figur der Autonomie bezieht, um schließlich drittens (III) die komplizierenden Momente von unwillkürlichem Impuls und ungebundener Reflexion zu erläutern, die Adornos konstruktive Antwort wesentlich ausmachen.

I. Freiheit: Zwischen Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit

Adorno entwickelt die »Probleme und notwendigen Widersprüche, die die Sphäre des Moralischen ausmachen«9, wesentlich anhand der kantischen Konzeption der Freiheit. Freiheit erscheint dabei als der »Ort des richtigen Handelns«10 überhaupt, ihre Probleme als die »eigentliche Grundfrage der Moralphilosophie«11. Diese fundamentale Bedeutung der Freiheit für das Moralische ergibt sich daraus, dass ich »nur dann, wenn ich frei handeln kann […], von so etwas wie moralischem Handeln […] überhaupt reden kann«12. Nur jenes Verhalten, das ich frei vollziehe, ist im vollen Sinne ein Handeln, das ich verantworte, und eröffnet mithin überhaupt das Reich des Moralischen. Freiheit ist dabei für Adorno allerdings nicht allein eine formale Voraussetzung moralischen Handelns – die Moralität eines Handelns hängt vielmehr innerlich mit dem Grad und dem Ausmaß zusammen, in dem das Handeln Freiheit verwirklicht.

Um den Begriff der Freiheit grundlegend zu charakterisieren, greift Adorno nun in seiner Vorlesung überraschender Weise nicht unmittelbar auf Kants praktische Schriften, sondern zunächst auf die dritte Antinomie aus der Kritik der reinen Vernunft zurück, in der er eine grundlegende Spannung im Begriff der Freiheit aufweisen will. In der dritten Antinomie stehen sich bekanntlich zwei sich scheinbar ausschließende Thesen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Kausalität aus Freiheit gegenüber, zwischen denen die Vernunft hin und her gerissen ist: Die Thesis besagt, dass die Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht die einzige sei, aus der die Erscheinungen der Welt insgesamt abzuleiten sind, und dass es zur Erklärung derselben notwendig sei, auch eine Kausalität aus Freiheit anzunehmen. Freiheit wird mithin auf Seiten der Thesis als weitere Quelle von Bestimmung und Verursachung gefordert, um den Kausalitätszusammenhang der Welt zu schließen. Die Begründung der These geschieht bei Kant durch das Vorführen der Unhaltbarkeit der Gegenthese: Würde man keine Kausalität aus Freiheit annehmen und würde alles nach dem Prinzip der Kausalität nach Gesetzen der Natur entspringen, dann würde jede Ursache immer als Wirkung einer ihr vorangegangenen Ursache und diese erneut als Wirkung einer Ursache und so weiter ad infinitum verstanden werden müssen. Das würde aber bedeuten, es gäbe nie einen ersten, sondern immer nur subalterne, abgeleitete Anfänge.13 Diese stets nur sekundären Ursachen bleiben aber, da sie immer weiter Vorausliegendes implizieren, unterbestimmt und erscheinen mithin unzureichend dafür, dass etwas tatsächlich geschehe. Eben darum, so schließt Kant, muss »eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen«14.

Diese Folgerung steht nun aber der Antithese gegenüber, für die die Vernunft ebenfalls Gründe beibringt: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur«15. Die Rechtfertigung dieser Antithese geschieht durch Zurückweisung der ihr entgegengesetzten Annahme: Verhielte es sich anders und existierte ein Vermögen, eine Reihe von Folgen schlechthin anzufangen, so würde dadurch der Universalität des Kausalgesetzes widersprochen und mit dem Zwang ginge zugleich der »Leitfaden der Regeln« zugrunde. Existierte Freiheit als eine Freiheit von den Gesetzen der Natur, dann würde der ganze Zusammenhang geordneter Erfahrung aufgelöst. Denn die Freiheit, die hier den Gesetzen der Natur zur Seite steht, kann nicht so begriffen werden, dass sie statt Gesetzen der Natur einfach Gesetze der Freiheit einsetzt. Denn um Freiheit im strengen Sinne handelt es sich nur, wenn diese nicht nach Gesetzen bestimmt ist: »[W]enn die[…] [Freiheit] nach Gesetzen bestimmt wäre, [wäre] sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anderes als Natur«16. Natur und Freiheit unterscheiden sich wie »Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit«17, und mithin ist kein Ergänzungsverhältnis zwischen ihnen denkbar, wie es die Thesis ins Auge fasst.

Durch diese Argumentation führt Kant vor, dass sowohl die Annahme der Thesis wie die Annahme der Antithese ebenso notwendig wie unzulänglich erscheinen. Adorno bringt die Unzulänglichkeiten in beiden Fällen auf den Nenner, die Vernunft breche ihr Geschäft hier jedes Mal auf gewisse Weise zu früh ab. Unterstellt man die These von einer freien Verursachung, hält man die Forderung nach der Universalität des Kausalitätsprinzips nicht durch und geht in der Erforschung der Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht weit genug; vertritt man hingegen die Antithese, ist man nur in der Lage subalterne und derivative Ursachen anzugeben und unfähig den Erfahrungszusammenhang durch die Angabe einer ersten Ursache zu schließen.18 Für Kant zeigt sich an diesem Patt, dass die Vernunft in diesem Falle einer gewissen »Anmaßung«19 erliegt und ihr Gebiet über alle Grenzen der Erfahrung zu erweitern versucht hat. Darüber hinaus versucht Kant zu zeigen, dass These und Antithese recht verstanden in verschiedener Hinsicht nebeneinander bestehen könne. Sofern man den Unterschied von Erscheinung und Ding an sich beachte, können man einsehen, dass eine Wirkung »in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg […] nach der Notwendigkeit der Natur« angesehen werden könne.20

Diese Auflösung erscheint Adorno, ohne dass er Kants Argumente dafür explizit und im Detail in Erwägung zieht, mit Blick auf sein materiales Interesse an der Frage der Freiheit unzureichend. Statt den Streit auf einen transzendentalen Schein zurückzuführen und letztlich »departemental« aufzulösen, indem zwischen Sinnenwelt und intelligibler Welt unterschieden werde und der Naturkausalität für die Sphäre der theoretischen Vernunft und der Freiheit für die praktische Vernunft das Primat gegeben wird, will Adorno an dem Widerspruch zunächst festhalten und »durch den Austrag des Widerspruchs selbst in den Sachverhalt zu dringen« versuchen.21 Das geschieht in dem Sinne, dass die kantische Formulierung der Antinomie daraufhin befragt wird, auf welche Spannung sie im Begriff der Freiheit selbst verweist.22 Diese Spannung bewegt sich, wie soeben schon angedeutet, zwischen den Polen der Gesetzlosigkeit und der Ordnung. Während die Thesis Freiheit als Supplement der Kausalität nach Gesetzen der Natur ins Auge fasst und im Grunde als Quelle von Ordnung figurieren lässt, die die Determination der Welt zu schließen hilft, unterstreicht die Antithese, dass die Freiheit im strengen Sinne verstanden nicht nach Gesetzen bestimmt sein könne, soll sie etwas anderes als Natur sein. Ist die Freiheit im Sinne der These eine Instanz der Stiftung von Ordnung und der Schließung von Zusammenhang, führt die Freiheit im Sinne der Antithese ein Element der Gesetzlosigkeit in unsere Erfahrung ein, durch das der Leitfaden aller Regeln sich aufzulösen beginnt. Der Begriff der Freiheit oszilliert mithin zwischen den Polen einer letzten Quelle der Ordnung und einem Moment der Anomie. Diese Oszillation oder Spannung wird bei Kant aus Adornos Perspektive in Kompromissformeln kenntlich. Die erste, die für Adornos Lektüre Modellcharakter besitzt, ist die Rede von einer Kausalität aus Freiheit. Adorno hebt hervor, dass die Formulierung »absonderlich« erscheint23 und letztlich auf eine »paradoxale Konstruktion«24 verweist, wenn man berücksichtigt, dass Kausalität, verstanden als gesetzmäßige Determiniertheit durch Ursachen, zunächst einmal gerade als Gegensatz zu dem erscheint, was Freiheit zu nennen wäre. Das anomische Moment der Freiheit wird in dieser Formel durch die enge Bindung an eine Kausalität eingehegt und verdeckt. Durch die Rede von einer Kausalität aus Freiheit ist das Freiheitsmoment auf den Anfang eines Geschehens begrenzt, das, einmal angestoßen, nach kausalen Gesetzen abläuft. Selbst der anfängliche Punkt der Freiheit wird dabei in das Gefüge der Ordnung dadurch eingeholt, dass er nur insoweit gefordert wird, wie er notwendig ist zur Schließung des Kausalzusammenhangs der Welt.

Der tiefere Grund, der Kant aus Adornos Perspektive zu solch einer Konstruktion veranlasst, liegt in der »doppelte[n] Schwierigkeit, daß es so etwas wie die Sphäre des Humanen weder in absoluter Gesetzlichkeit noch in absoluter Freiheit geben kann«:25 Ein Handeln, das absolut frei im Sinne von gesetzlos wäre, wäre bloß negativ und würde dazu führen, dass – paradoxerweise scheinbar in Gestalt der Freiheit – »die amorphe, ungeformte Natur über jedes Vernunftprinzip triumphieren müßte«26. Ist aber umgekehrt die Kausalität nach Gesetzen absolut, so wird dadurch jede Möglichkeit der »Übernatur«27 ausgelöscht. Absolute Freiheit wie absolute Gesetzlichkeit lassen beide eine Sphäre bloßer Natur erstehen, in der menschliche und vernünftige Freiheit nicht Platz greifen kann. Die praktische Vernunft untersteht eben darum einer doppelten Forderung, die sie zur Bildung komplexer Kompromissformationen zwingt: »Die Vernunft fordert also in sich ebenso etwas wie eine universale Gesetzmäßigkeit, weil sie nur als Gesetzmäßigkeit überhaupt diesem Blinden und Amorphen [der Natur] zu widerstehen vermag, wie sie andererseits Freiheit fordert, weil Freiheit gegenüber diesem Amorphen der einzig mögliche Gegensatz überhaupt ist«.28 Um aus der Natur hervorzugehen, bedarf die Vernunft in diesem Sinne sowohl einer eigenen von den Gesetzen der Kausalität unterschiedenen Gesetzmäßigkeit, als auch eines Moments von gesetzloser Freiheit, die diese Gesetzmäßigkeit daran hindert, den Naturzwang einfach auf neuer Ebene zu reproduzieren. Das Argument, das Adorno hier verfolgt, hat eine wesentlich genealogische Dimension, durch die die von Kant vorgenommene Unterscheidung eines Reichs der Freiheit und eines Reichs der Natur kompliziert wird: Die Vernunft ist Adornos These zufolge »ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser«29. Die so verstandene Vernunft geht aus der Natur hervor, setzt sich in dieser Bewegung von ihr ab und steht dabei stets in Gefahr, in Natur zurückzuschlagen. Um aus der Natur hervorzugehen, muss sich die Vernunft gegen die Natur – in Gestalt eigener Gesetze – durchsetzen, bleibt so im Modus der Gesetzlichkeit aber der Natur zugleich verhaftet und bedarf zu wirklicher Vernünftigkeit auch eines Moments der Freiheit, das in Gesetzlichkeit nicht aufgeht. Dieses Moment gesetzloser Freiheit beschwört zugleich seinerseits eine eigene Gefahr herauf, in Natur zurückzuschlagen. Nur im Spannungsfeld von eigenem Gesetz und gleichzeitiger Distanz zu diesem, erhält die Vernunft sich in ihrer Herkunft aus und ihrer Differenz zur Natur.

Die dritte Antinomie scheint Adorno triftig genau insofern, wie sie diese doppelte Forderung in Gestalt von zwei Freiheitsmomenten exponiert: Freiheit als eine über die Natur hinausgehende Quelle gesetzmäßiger Bestimmung und Freiheit als gesetzloses Moment. Das Problem, das Adorno an Kants Lösungen für diese doppelte Anforderung ausmacht, ist die Priorisierung des Gesetzesmoments der Vernunft. Durch dieses wird der anomische Impuls verdeckt, der aus Adornos Perspektive ein ebenso irreduzibles Moment der Freiheit ausmacht. Diese Verdeckung schlägt sich auf eine für die Moralphilosophie folgenreiche Weise nieder in der Fassung der Freiheit als Autonomie: Durch die Bestimmung der Freiheit als Selbstgesetzgebung wird die Freiheit ganz an das Paradigma des Gesetzes gebunden. Statt Gesetz und Gesetzlosigkeit zu konfrontieren, wie Kant dies in der Antinomie der reinen Vernunft zunächst tut, unterscheidet er in der Kritik der praktischen Vernunft zwei Formen der Gesetzlichkeit und korrelativ zwei Typen der Natur. Der allgemeinste Begriff der Natur, der sich dann in sinnliche und übersinnliche Natur aufgliedern lässt, ist insgesamt bestimmt als »die Existenz der Dinge unter Gesetzen«30. Während die sinnliche Natur vernünftiger Wesen ihre Existenz »unter empirisch bedingten Gesetzen« bezeichnet, liegt die übersinnliche Natur vernünftiger Wesen in ihrer Existenz nach Gesetzen, »die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind« und mithin zur »Autonomie der reinen Vernunft« gehören. Beide Formen der Natur bezeichnen so eine Existenz unter Gesetzen, so dass auch die Freiheit ganz unter der Form der Gesetzlichkeit gedacht wird. Das anomische Moment der Freiheit, das Adorno selbst für irreduzibel hält, wird so in der Autonomie tendenziell verdeckt.

II. Autonomie

Autonome Wesen entsprechen der Forderung der Vernunft nach universaler Gesetzmäßigkeit in sich, insofern sie Wesen sind, die sich durch die Vorstellung von Gesetzen leiten lassen. Frei jedoch scheinen sie darin, dass sie sich die Gesetze, denen sie unterworfen sind, (zumindest virtuell) selbst gegeben haben. Die freie Selbstgebung der Gesetze, denen sie unterworfen sind, macht die besondere Würde dieser Wesen aus. Ganz in diesem Sinne – und wahrscheinlich ohne Bewusstsein der Doppeldeutigkeit des in Parenthese angeführten Beispiels – schreibt Robert Brandom: »Our dignity as rational beings consists precisely in being bound by rules we endorse, rules we have freely chosen (like Odysseus facing the sirens) to bind ourselves«31. Der eigentlich paradox anmutende Gedanke, man möge frei wählen, sich zu fesseln, ist hier in seiner Paradoxalität dadurch gemildert, dass er zur Seite der freien Entscheidung hin aufgelöst scheint: Alles Gebunden- und Gefesseltsein stellt sich als vernünftig und frei dar, da wir nur durch solche Regeln gebunden sind, die wir uns frei erwählt haben, die wir uns eigentlich selbst gegeben haben. Das Bild des Gefesseltseins macht jedoch schon auf den Zwangs- und Unterwerfungscharakter aufmerksam, der dem Gebundensein nichtsdestoweniger zueigen scheint. Brandom exponiert diesen Herrschaftscharakter auch dadurch, dass er Kants Freiheitsbegriff anderenorts unmittelbar durch den Begriff der Beschränkung definiert und explizit an die Konformität mit sozialen Normen bindet. »[F]reedom«, so bemerkt Brandom mit Bezug auf Kant, »precisely consists in being constrained by norms rather than merely by causes«32. In dieser Reformulierung der kantischen Position tritt mithin der Umstand besonders scharf hervor, dass das autonome Subjekt, das sich die Gesetze »selbst« gibt, darin wesentlich dem Gesetz unterworfen ist. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass sich das Subjekt durch das Gesetz, das es selbst, gleichsam in der Rolle des Autors, miterlässt, zugleich zum Unterworfenen macht. Es gilt in dem noch vorgängigen Sinne, dass es eine Beschränkung erfahren muss, um überhaupt die Gestalt eines solchen Selbst anzunehmen, das sich zu unterwerfen vermag und als Zurechnungsinstanz einer solchen Freiheit in Frage kommt. Eben mit Blick darauf haben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung die Selbst-Fesselung des Odysseus auf die Konstitution des Selbst und die Frage bezogen, welche Form von Gewalt und Zwang in die Schaffung dieses Selbst eingegangen ist, das hier den Freiheitscharakter und die Vernünftigkeit alles Gebundenseins durch die Selbstgebung der Gesetze verbürgt. Die Fesselung, von der die Odyssee spricht, zeugt in dieser Lesart nicht schlicht von der freien Entscheidung, sich auf eine beschränkende Regel zu verpflichten, sondern von dem andauernden unablässigen Bemühen, jenes Selbst zusammenzuhalten, das eine solche freie Wahl treffen und aufrechterhalten kann: »Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an«33, wie Adorno und Horkheimer schreiben. Eben in diesem Sinne versucht Odysseus auch nicht, »frei den Versucherinnen zuzuhören«34, sondern lässt sich – in Anerkennung der Übermacht des Gesangs der Sirenen – eben gerade fesseln und spannt seine Gehilfen ein, die sein »Ich« zusammenhalten: ihn fester fesseln, sobald er versucht sich loszumachen.35 Nur weil diese Gehilfen »taub […] auch gegen den verzweifelten Schrei des Befehlshabers«36 sind, weil sie also einen Typ blinden Gehorsams zum einst gegebenen Befehl verkörpern, gelingt dies. Wenn unsere Gestalt als rationale Wesen tatsächlich derjenigen des Odysseus im Angesicht der Sirenen gleicht, wie Brandom sagt, dann verweist uns das zugleich darauf, dass wir diese Gestalt nur um den Preis einer gewaltsamen Selbstbeherrschung gewinnen konnten. In dieser Beherrschung im Dienste der Selbsterhaltung des Ich erweist sich das Subjekt in Adornos und Horkheimers Diagnose gerade in dem Maße, in dem es sich über die Natur zu erheben versucht, dieser verwandt: dem Muster blinder Determination und dem Prinzip der Selbsterhaltung verhaftet.37

Wie ist nun die hier implizierte Spannung – einer freien Fesselung oder gefesselten Freiheit – in ihrem allgemeinen Sachgehalt näher zu verstehen? In der Figur der Autonomie ist eine Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit impliziert, die aus Adornos Perspektive auf das tatsächliche Problem der Freiheit durchaus bezogen ist. Die Formel der Autonomie verdeckt aber zugleich auf gewisse Weise das implizierte Problem, sofern sie, wie es in der Vorlesung zu den Problemen der Moralphilosophie heißt, als »Indifferenz von Freiheit und Notwendigkeit«38 auftritt: Freiheit ist in der Formel der Autonomie nichts anders als Gebundensein durch eine bestimmte Form von Gesetz. Das Freiheitsmoment wird so gänzlich in einen – wenn auch spezifischen – Typ von Notwendigkeit überführt. Zwar sind die sittlichen Gesetze noch immer Gesetze der Freiheit, sofern ich sie mir als vernünftiges Wesen selbst gebe, ohne von irgendeinem Äußeren beeinflusst zu sein; zugleich aber setzen sie die Konstitution eines solchen vernünftigen Wesens voraus und haben den Charakter einer nötigenden Gesetzmäßigkeit, die dem empirischen Subjekt entgegentritt und von ihm eine Fesselung verlangt. Für Adorno besteht das Problem darin, dass eine Freiheit, die ganz unter der Form des Gesetzes gedacht wird, einen »repressiven« Charakter annimmt.39 Das zeigt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen impliziert die abstrakte Moralität, indem sie die Abstraktion von den Regungen und Impulsen des Subjekts und die Beherrschung der inneren Natur des Subjekts verlangt, eine Repression des Subjekts. Zum anderen enthält der Formalismus und die Abstraktion der Gesetzesvorstellung überdies eine Unterdrückung der Besonderheiten der moralischen Situation. Durch den bloß formalen Charakter des vom Gesetz spezifizierten Guten fehlt dem Gesetz das Vermögen, tatsächlich moralisches Erkennen und Handeln in der Praxis zu instruieren. Die Kluft zwischen dem formalen Sittengesetz und der konkreten moralischen Situation ist so groß, dass die abstrakte Moralität die Praxis nicht wirklich anzuleiten, allenfalls unter Absehung von der Besonderheit der Situation abstrakt zu beherrschen vermag. Sowohl das Subjekt als auch der Gegenstand der moralischen Situation sind in diesem Sinne einer Repression ausgesetzt.40

Die in der kantischen Konzeption implizite Vorstellung von Vernunft als einer Form der »Naturbeherrschung«41 und Unterdrückung der inneren Natur sowie der in den Begriffen der Nötigung und der Pflicht markante »Zwangscharakter«42 und »Rigorismus«43 der Moral sind häufige Gegenstände der Kritik Adornos – und sie legen einen scheinbar ebenso bekannten, wenngleich in sich unklaren, Ausweg nahe: ein versöhntes Verhältnis zur Natur. Die Frage jedoch ist, ob eine solch einseitige Kritik (und ihre Lösungsperspektive) wirklich zureichend und weiterführend erscheinen kann, wenn die praktische Vernunft sich Adorno zufolge zugleich nur im Heraustreten aus Natur konstituieren kann und dabei einer doppelten Aufgabe untersteht: sich weder einfach den Gesetzen der Natur zu überlassen, noch sie bloß durch Gesetze einer sozialen Natur zu ersetzen. Gerade um der Freiheit willen scheint Adorno eine Überwindung oder Transformation der Natur und darin auch ein Moment des Zwangs unvermeidlich. Adorno schreibt ganz in diesem Sinne, dass »[o]hne die Einheit und den Zwang von Vernunft […] nie ein der Freiheit Ähnliches auch nur gedacht, geschweige denn gewesen« wäre.44 Die Kritik kann sich vor diesem Hintergrund nicht einfach gegen jedes Moment von Zwang und jedes Element der Überwindung von Natur richten, sondern muss spezifischer ansetzen und die Frage nach der Art und Weise stellen, in der dieses Zwangsmoment ins Werk gesetzt wird.45 Das Ziel dabei ist mit einer Formulierung Benjamins eine Form der Naturbeherrschung, die nicht die einseitige Beherrschung der Natur durch den Geist ist, sondern eine Beherrschung des Verhältnisses von Natur und Geist.46 Statt also Beherrschung und Zwang einfach vermeiden zu wollen, geht es Adorno um eine andere Weise ihres Vollzugs: eine andere Unterwerfungsweise. Es geht in diesem Sinne nicht um eine Zurückweisung der Idee der Autonomie, sondern um ihre Reformulierung. Die Frage ist, wie das Zwangsmoment auf eine solche Weise zu denken und zu verwirklichen wäre, dass es nicht zur bloßen Beschränkung, sondern zugleich zu einer »Bedingung« der Freiheit wird: als Ausgangspunkt erscheint, von dem aus Befreiung möglich wird?47 Adorno schreibt, dass Freiheit gerade an den wechselnden Gestalten der Repression, im Widerstand gegen diese konkret werde. Freiheit ist in diesem Sinne kein mit sich einiges Reich und kein einfacher Zustand, sondern eine stets gespannte Bewegung – Freiheit gibt es immer nur als Befreiung: »Freiheit […] ist derart mit Unfreiheit verfilzt, daß sie von dieser nicht bloß inhibiert wird, sondern sie zur Bedingung ihres eigenen Begriffs hat«48. Freiheit ist nur möglich auf Grundlage eines Moments des Zwangs, von dem aus Befreiung – die bestimmte Negation von Unfreiheiten – geschehen kann.

Statt an Kants Konzeption die in ihr enthaltenen Zwangsmomente schlicht zu verurteilen, geht es Adorno in diesem Sinne um die besondere Seins- und Wirkungsweise der Zwänge. Innerhalb der kantischen Moralkonzeption erscheint Adorno zum einen problematisch, dass das Zwangsmoment nicht ausreichend als sozialer Zwang und Unterwerfung einer inneren Natur reflektiert wird, sondern hinter der Vorstellung eines »zwanglosen Zwangs der Vernunft« verschwindet. Neben einer solchen Naturalisierung des Zwangs problematisiert Adorno überdies, dass der Zwang, den das Sittengesetz ausübt, allein dadurch aufgewogen werden soll, dass er auf eine ursprüngliche Freiheit zurückgeführt wird. Die Rede von »Kausalität aus Freiheit« ebenso wie die von »Autonomie« verortet die Freiheit jeweils im Ursprung (der Kausalität oder des Nomos), nicht aber in deren Verwirklichung.49 Ist der Ursprung des Gesetzes frei in dem Sinne, dass ich selbst sein Autor bin, darf es – so scheint die kantische Position nahe zulegen – mit jedem nötigen Zwang und absoluter Strenge verwirklicht werden. Beschränkt sich das Freiheitsmoment aber nur auf den vermeintlich freien Ursprung, so besteht die Gefahr, dass im Folgenden das Gesetz fetischisiert wird und sich gegen eben jene Freiheit richtet, die es zu vollziehen sucht.50

Die Frage, die man sich also zu stellen hätte, lautet: Wie kann dem Freiheitsmoment in der Verwirklichung des Gesetzes Rechnung getragen werden, ohne umgekehrt die Forderung nach der Stiftung einer normativen Ordnung zu ermäßigen, die irreduzibel ist, wenn Vernunft überhaupt über Natur hinaus gelangen soll? Wie kann das Zwangsmoment der Freiheit so ins Werk gesetzt werden, dass es die Freiheit nicht zerstört, sondern zur Bedingung immer wieder neuer Befreiung werden kann? Die Antwort, die Adorno in seinen Vorlesungen gibt, liegt in einer anderen Haltung zu und einer anderen Form der Aktualisierung der allgemeinen Normen. Diese Normen erscheinen in Adornos Darstellung nur in dem Maße als gerechte und freie, wie unser Verhältnis zu ihnen auf doppelte Weise kompliziert wird. Wir benötigen erstens ein reflexives Verhältnis zu diesen Normen, in dem wir der problematischen Genealogie und Phänomenologie der Gesetze Rechnung tragen: in dem wir zu der Gewalt, die ihre Instituierung erfordert hat, ein Verhältnis einnehmen, über die Triftigkeit der Normen im je besonderen Fall reflektieren und die womöglich ironisch selbstunterminierende Wirkung der Befolgung der Gesetze bedenken. Da eine solche Operation offener moralischer Reflexion ohne natürliches Ende ist und uns die Aporien der allgemeinen Normen vorführt, bedarf es zugleich eines zweiten Elements: einer Orientierung an moralischen Impulsen, durch die die allgemeinen Normen auf eine idiosynkratische Weise aktualisiert werden. Die praktische Vernunft, deren Bild Adorno hervortreten lässt, ist so zwischen den Momenten von Impuls und Reflexion gespannt. Die Form einer solchen praktischen Vernunft ist für Adorno durch Normen gekennzeichnet, die in einem tiefer greifenderen Sinne »frei« sind als solche Regeln, die an ihrem virtuellen Ursprung selbst gegeben, im Folgenden aber als schier zu befolgende und wie von selbst sich aktualisierende verstanden werden. Die Normen der Vernunft entfalten eine freie Geltung, insofern sie reflexiv gebrochen und nur impulsiv verwirklicht werden, statt sich unbefragt und automatisch zu aktualisieren. Wie kann man diese Form der Freiheit genauer verstehen?

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