Kitabı oku: «Ende einer Reise», sayfa 2

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II

Es waren keine dreihundert Meter, die wir auf unserer Insel zurücklegten. Und was sind schon dreihundert Meter. Da trat ein schlanker blonder Mann mittleren Alters, mit einem karierten Hemd und einer schwarzen Lederjacke bekleidet, aus einem der weißen Häuser mit den blühenden Vorgärten und stellte sich bedrohlich in unseren Weg. Fragend schauten wir uns an.

Die Dokumente bitte, sagte der Mann und zog dabei die Worte wie einen Kaugummi auseinander. Nicht Ausweise, nicht Papiere, nein Dokumente, sagte er, was jeder Art von amtlichem Papier immer eine besondere Würde verleiht. Und er sagte es in diesem weichen sächsischen Tonfall, den man eigentlich an der Küste nicht vermutet und der wie ein rauschender Bach dahinsäuselt, sodass an der Ernsthaftigkeit der Anweisungen und Fragen gezweifelt werden könnte, würde der Mann die fehlende Ernsthaftigkeit nicht mit einem durchbohrenden, geradezu tschekistischen Blick und großer Lautstärke ausgeglichen haben. Gleichzeitig fingerte er aus seiner schwarzen Lederjacke eine kleine, mit Stempeln versehene Karte.

Noch bevor jemand die amtlich wirkende Karte lesen konnte, steckte der Mann sie wieder ein. Dann strich er sich mit der Rechten das glatte blonde Haar aus der linken Gesichtshälfte und schob beide Hände in die Gesäßtaschen seiner hellen Hose. So stand er da, wippte ein wenig in den Kniekehlen, dass sich ein kleines Bäuchlein im Rhythmus aus der geöffneten Lederjacke schob, und machte ein ernstes Gesicht. Nur der Hut fehlte dem Mann, dachte ich im ersten Moment, dann würde er aussehen wie ein Cowboy.

Ein Cowboy aus Sachsen im Einsatz auf Hiddensee. Seine Lippen waren breit und von der Sonne aufgerissen. Nur die Colts an einem breiten Patronengürtel fehlten.

Vielleicht tat ich dem Mann in diesem Moment unrecht, denn seine schwarze Lederjacke könnte auch an einen Geheimdienstmann erinnern, wie ich ihn aus einem schlecht gemachten Hollywood-Film kannte.

Warum den Ausweis?, fragte Claudia erstaunt. Schon diese Frage war typisch für sie, denn sie fand das Leben, wider besseres Wissen und meiner vielfachen, leider vergeblichen Einwände, schön und heil. Sie lebte in dieser Schönheit, die sie auch selbst einzubringen hatte. Alle Unbilden des Daseins, versuchte sie zu negieren oder bestenfalls mit gesellschaftlichen Zwängen zu erklären.

Lächerlich, wie ich angesichts der jüngsten Ereignisse fand, aber mit der Überzeugung, mit der sie eine vermeintliche Unschuld der Welt zu kultivieren trachtete, war gegen diese Art weiblicher Blauäugigkeit kein Kraut gewachsen.

Fragen Sie nicht, zeigen Sie die Dokumente, antwortete der sächsische Cowboy in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Franklin zog als Erster seinen Ausweis, der bekanntlich nur ein Hilfsausweis war, aus der Tasche und übergab ihn dem Mann. Das Gesicht des Mannes mit dem tschekistischen Blick erhellte sich. PM 12, sagte er leise, als hätte er das schon geahnt und blätterte in dem zweiseitigen Dokument mit der bekannten Aufschrift: Für eingezogenen Personalausweis.

Ja, PM 12, gab Franklin auch ohne besondere Aufforderung kleinlaut zu und konnte das Zittern in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Dabei hatte er, anders als sein großer vagabundierender Pariser Vorgänger, weder einen mittelalterlichen Priester noch einen zeitgenössischen Volkspolizisten auf dem Gewissen.

Dennoch verriet dieses Zittern eine gewisse Anspannung, die er sich sonst niemals eingestehen würde, denn im Gegensatz zu mir empfand er den Einzug seines Personalausweises und die damit einhergehende Deklassierung eher als Kinderei, denn als einen unerklärlichen oder gar merkwürdigen Willkürakt eines staatlichen Verwaltungsorgans. Während ich fürchtete, auf diese Art irgendwie brutal aus dem Leben geworfen zu werden, sah Franklin, ganz Boheme, darin eine Chance, die letzten gesellschaftlichen Bindungen wie eine Last abzustreifen.

Entsprechend neidisch schaute ich auf den Ausweis, auch wenn er nur zwei Seiten hatte, gleichsam nicht zum Grenzübertritt Richtung Osten, gen Westen war eh illusorisch, berechtigte und den Beginn des staatsbürgerlichen Abstiegs im »real existierenden sozialistischen Alltag« einläutete oder gar fortsetzte. Aber der Besitzer war damit wenigstens noch zweitklassig, denn in diesen Seiten gab es sogar ein Passfoto, das keinen Zweifel an der Identität des Trägers ließ, und eine ordentlich eingetragene Adresse. Und das Ganze auf hellblauem Spezialpapier, nicht auf dem grauen Klopapier, das ich als meinen Ausweis auszugeben hatte, und das nicht einmal ein Passbild kannte. Vor allem aber war es kein abgegriffener, sich selbst degradierender DIN A5 Zettel, der geradezu alle Polizisten, Ordnungshüter, Sicherheitskräfte und Verwaltungsorgane dieser Welt in Zivil oder Uniform auf den Plan rufen musste.

Noch aber war ich nicht an der Reihe, denn als Nächste überreichte Claudia ihren Personalausweis. Es war ein reguläres Dokument des ordentlichen Staatsbürgers mit dem blauen Einband, dem Wappen und den Insignien des Arbeiter- und Bauernstaats. Aber den schaute sich der zivile Ordnungshüter erst gar nicht an.

Und, sagte er und beobachtete mich von der Seite. Ihren Ausweis, mein Herr!

Ich suchte lange, verdächtig lange. Vielleicht, weil ich schon ahnte, was kommen würde. Zögernd reichte ich das graue Blatt Papier mit der Aufschrift »Gültig als Ausweis«, das meinen staatsbürgerlichen Absturz in die dritte Klasse dokumentierte. Die Miene des Mannes verfinsterte sich zusehends. Das Wippen nahm ein jähes Ende. Was ist denn das?, fragte er laut und hielt den Schein zwischen Daumen und Zeigefinger gegen die Sonne, als prüfte er einen Geldschein auf sein Wasserzeichen.

Mein Ausweis, gestand ich, als würde ich mich selbst für das Papier, das meine Drittklassigkeit aufzeigte, schämen. Dabei hätte ich mich doch nur erinnern müssen, dass ausgerechnet jene deutsche Republik, auf deren Territorium ich mich befand, das hehre Ziel einer klassenlosen Gesellschaft propagierte. Dazu musste ich nicht einmal im Schulunterricht mit seinen Staatsbürgerstunden aufgepasst haben.

Das sehe ich, antwortete der Mann unfreundlich und schaute sich trotzdem hilfesuchend um. Aber nur ein paar neugierige Kinder hatten sich zu uns gesellt und betrachteten jetzt auch diesen merkwürdigen grauen Schein, der in zwei Meter Höhe in der Hiddenseer Ostseeluft flatterte und den Mann zum Schweigen brachte.

Was ist denn los?, fragte ein kleines blondes Mädchen mit Strohhut, dem die offensichtliche Unsicherheit des Mannes nicht entgangen war.

Eine Antwort musste der blonde Cowboy nicht geben, denn die herbeigeeilte Mutter schob das Mädchen unter Protest weiter.

Haben Sie keinen anderen Ausweis?, fragte der Mann, schon um von seiner eigenen Hilflosigkeit abzulenken.

Nein, versicherte ich, der Schein gilt als Ausweis, und zeigte mit dem Finger auf den entsprechenden Aufdruck.

Das seh ich selbst, entgegnete der Cowboy und begann nervös in dem Papier zu lesen. Doch viel Text fand sich in meinem Ausweis nicht, denn außer meinem Namen, Vornamen, dem Geburtsort und dem Geburtstag, sowie meiner Wohnadresse und einer vierstelligen Nummer bot er nicht viel, sieht man einmal von dem amtlichen Hinweis auf den Meldezyklus ab: Alle fünf Tage!

Auch ich wurde nervös, denn die unfreundliche Art des in Zivil gekleideten Mannes, der entweder selbst bei der Polizei war oder wohl eher bei einem landesweit bekannten Organ der inneren Ordnung unter Vertrag stand, beunruhigte mich.

Der Mann las inzwischen, der Vorschrift entsprechend, unsere Namen laut vor. Dabei schaute er abwechselnd zu uns auf, als bedurfte es unserer Bestätigung seiner Leseleistung. Auch wir schauten uns wechselseitig an und hoben hilflos die Schultern.

Körner, Claudia, sagte der Mann und beobachtete dabei die Genannte.

Claudia nickte, was dem Zivilbeamten nicht reichte.

Körner, Claudia, wiederholte er deshalb lauter.

Ja, antwortete Claudia, nachdem sie einen leichten Stoß von Franklin empfangen hatte.

Schreiner, Frank!

Ja, bestätigte auch dieser seinen aus dem zweiseitigen Dokument mit der amtlichen Bezeichnung PM 12 vorgelesenen Namen, auch wenn ihn diese klare Antwort alles andere als leichtfiel. Viel lieber hätte er jetzt Francois Villon zur Antwort gegeben oder gar Gerhart Hauptmann. Wie war noch mal Ihr Name? Gerhart Hauptmann! Das Gesicht des blonden Cowboys, so stellte ich mir amüsiert vor, würde sich zerknautschen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Aber auch das nur unter der Voraussetzung, dass der Cowboy etwas mit dem Namen anfangen konnte, was bei Lage der Dinge nicht gesichert war.

Doch den Spaß gönnte sich Franklin nicht mal selbst. Und so war ich an der Reihe und bestätigte meine Existenz und die Übereinstimmung mit jenem Herrn Markus Marten auf dem grauen Stück Papier, ein Name, der auch wirklich meiner war.

Na bitte, sagte der Mann und atmete tief durch, so als habe er soeben das mehrseitige Plädoyer einer Anklage verlesen. Alles klar.

Was ist klar?, fragte Claudia, der dieser Tonfall Angst machte.

Alles, wiederholte der Mann und zog die Augenbrauen in die Höhe.

Dann können wir ja gehen, hoffte Franklin die Lage zu entspannen und lächelte freundlich.

Doch der Mann überhörte die Bemerkung. Aus Berlin sind Sie also, sagte er und musterte uns noch einmal.

Ja, antworteten wir fast im Chor.

Ich auch, rief eines der umstehenden Kinder dazwischen, was dazu führte, dass auch ein zweites und drittes Kind ihre Herkunft verrieten. Und das so lautstark, als fürchteten sie, mit dem Nichtaufruf etwas verpasst zu haben.

Der Mann überhörte die Mitteilungen der Kinder, schließlich war er bei der Arbeit. Berlin also.

Prenzlauer Berg, ergänzte Franklin, in der Hoffnung für seine Auskunftsbereitschaft strafmildernde Umstände geltend zu machen.

So genau wollte ich es nicht wissen, gab der Cowboy schroff zurück. Mich würde vielmehr interessieren, was Sie hier wollen. Dabei wandte er sich Franklin zu.

Wir möchten Urlaub machen, beeilte sich Claudia mit einer Antwort und glaubte mit dieser Geste vorauseilenden Gehorsams den Mann freundlicher zu stimmen.

Sie habe ich nicht gefragt, fauchte sie der Cowboy an.

Wir möchten Urlaub machen, wiederholte deshalb Franklin.

Und wo? Wo werden Sie wohnen?

Franklin hob die Schultern und schaute sich hilfesuchend nach Claudia um.

Wir haben einen Bekannten, versuchte Claudia eilig zu erläutern, der hat …

Fräulein Körner!, unterbrach der Mann. Sind Sie Herr Schreiner?

Claudia könnte mit ihren großen braunen Augen alles behaupten, aber das nun wirklich nicht. So blieb ihr nichts anderes übrig, als wahrheitsgemäß den Kopf zu schütteln.

Also, Sie habe ich gar nicht gefragt, klärte der Mann noch einmal auf.

Wir haben einen Berliner Bekannten, wiederholte Franklin. Der arbeitet hier oben in der Saison. Dort bekommen wir eine Adresse.

Aha, sagte der Cowboy, und wo bitte soll die Adresse sein?

Das erfahren wir doch erst, wenn wir den Bekannten getroffen haben, erwiderte Franklin und spielte damit auf Franziskus, einen alten Berliner Freund und Stammgast einschlägiger Prenzelberger Szenekneipen an, der seit einigen Jahren seine Sommer auf Hiddensee verbrachte. Hier wollte er allen weltlichen Gelüsten entsagen und sich ganz und gar der Kontemplation, bestenfalls der Poesie hingeben. Im Gegensatz zum gleichnamigen Heiligen hatte unser Franziskus dabei innerhalb weniger Jahre eine steile, ganz unchristliche Karriere gemacht, die er seinem Redetalent und offensichtlichen Geschäftssinn verdankte. So fing er, der sich eigentlich auf der Insel verkriechen wollte, um eins mit Gottes Natur zu werden, als Heizer im Hotel Dornbusch in Kloster an, wurde nach der ersten halben Saison Hausmeister und schon im nächsten Jahr Kellner. Im dritten Jahr schließlich legte er seine Barschaft, die er dank üppiger Trinkgelder erfolgreich vermehrte, gewinnbringend an, kaufte den Fischern in Vitte einen alten Geräteschuppen ab und vermietete dieses notdürftig hergerichtete Domizil zu Höchstpreisen. Dass dies bei einer Fülle von Unterkunft suchenden Urlaubern nicht schwerfiel, lag auf der Hand.

Inzwischen hatte Franziskus noch weitere »Etablissements«, wie er die spartanisch ausgerüsteten Bretterbuden nannte, in Verwaltung genommen und machte sich so manch Einheimischen durch die Vermittlung der letzten abrissreifen Kate an zahlende Urlauber zum Freund.

Interessanterweise war Franziskus nach Hiddensee gegangen, weil er wegen eines Ausreiseantrages vielfache Probleme mit verschiedenen Staatsorganen hatte und in Berlin keinen Job fand. So verdingte er sich lieber auf der Insel als Saisonkraft, womit er hoffte, wenigstens so viel Geld zu verdienen, um bei seiner kontemplativen Selbsterfahrung nicht zu verhungern.

Das Ergebnis dieses Abtauchens war ungewohnter Wohlstand. Aus dem Aussteiger war mitten im Heimatland des werktätigen Volkes, das im antikapitalistischen Kampf um die tägliche Planerfüllung rang, ein echter Kapitalist geworden, dessen körperliches Aussehen und Physiognomie den Wandel auf anschauliche Weise begleiteten. Der quirlige schlanke Bursche bekam innerhalb weniger Jahre einen mächtigen Bauch und eine Glatze, wurde feist und behäbig und trug zu allem Überfluss als Zeichen seiner neuen gesellschaftlichen Stellung eine dicke Bernsteinkette um den Hals. Damit ähnelte er irgendwie mehr der vergoldeten Buddhastatue in Gerhart Hauptmanns Insel-Arbeitszimmer, als dem christlichen Heiligen, dessen Namen er trug. Aber Franziskus war auch das egal.

Der heilige Franziskus als Immobilienhai, brachte Franklin den Zustand auf eine Kurzformel und fügte kommentarlos hinzu: Der Sozialismus siegt!

Franziskus rechtfertigte seinen Wohlstand mit der Erklärung, dass er sich selbst das Schicksal nicht ausgesucht habe und er auch nichts dafür könne, wenn es auf Hiddensee nun mal so viel Geld wie Sand und Sanddorn gäbe. Letzteres mochte übertrieben sein, doch korrumpierte ihn der Gewinn so gründlich, dass er darüber seinen Ausreiseantrag vergaß und drauf und dran war, in die Fischerfamilie einer Neuendorferin einzuheiraten.

Merkwürdigerweise schien den blonden Mann in der schwarzen Lederjacke aber der Name des Bekannten nicht zu interessieren, dabei hätten wir die allergrößte Mühe gehabt, ihn preiszugeben. Denn natürlich wollten wir ihn nicht kompromittieren und damit seine glanzvolle und ganz unheilige Karriere beenden.

Zu unserer Beruhigung blätterte der Cowboy lieber in den Papieren und hob dann zu seiner nächsten Frage an: Finden Sie nicht auch, dass es ungewöhnlich ist, ohne Adresse, also wenn Sie so wollen, ohne jegliche Planung, nach Hiddensee zu reisen?

Franklin machte ein unschuldiges Gesicht, doch eine Antwort musste er nicht mehr geben, denn inzwischen war die Staatsmacht eingetroffen. Unterleutnant Schmidt, um genau zu sein, Abschnittsbevollmächtigter, so stellte er sich vor. Der Titel eines ABV, so auch die offizielle Abkürzung, verdeutlichte eine gewisse Machtfülle, die auf einer Insel von den Ausmaßen Hiddensees umso nachhaltiger wirkte.

Schmidt hatte wenigstens eine Uniform, was die umstehenden Kinder zu einem ehrfürchtigen Rückwärtsschritt zwang. Dazu passend hatte er ein grünes Moped. Die »Schwalbe«, ein eigentümliches Gefährt mit langen vor den Knien nach oben gezogenen Schutzblechen aus der Suhler Simson Produktion war eine Art Markenzeichen aller motorisierten ABVs der Republik. Sie entfaltete auf Hiddensee, auf dem jeder private motorisierte Verkehr untersagt war, eine besondere Wirkung und das nicht nur, weil der Zweitaktmotor einen zwar kurzen, aber dennoch unnachahmlichen Gestank hinterließ. Zumindest unterstrich sie, mit und ohne blaue Zweitaktfahne, auf der autolosen Insel das Privileg der Staatsmacht.

Schmidt zog seine Dienstschwalbe mit beiden Händen auf den Mopedständer, den er vorher mit einem Fußtritt ausgeklappt hatte. Die zwei kurzen Eisenfüße drückten sich knirschend in den hellen Sand der Hauptstraße. Dann nahm er mit beiden Händen den weißen Schutzhelm ab, der auf seinem breiten Kopf wie eine umgestülpte Schale wirkte. Damit waren auch die wenigen, bereits grauen Haare zu sehen, die auf seinem schweißnassen Kopf klebten. Mit einem Taschentuch wischte sich Unterleutnant Schmidt Stirn und Kopfhaar trocken.

Mit getrocknetem Haar sah der ABV freundlicher aus, aber vielleicht lag das auch an seinem mecklenburgischen Schädel, der so gedrungen wirkte, dass die Mundwinkel manchmal schon von selbst nach oben gingen.

Schauen Sie mal, sagte der blonde Mann mit der Lederjacke und reichte, als hätte er etwas Außergewöhnliches, Schmidt die verschiedenen Dokumente. Mit einer Kopfbewegung ergänzte er nicht ganz ohne Stolz: Ich habe sie hier aufgegriffen. Dann schob er seine Hände wieder in die Gesäßtaschen und begann erneut in den Knien zu wippen.

Claudia wollte etwas sagen, vermutlich weil ihr das Wort aufgegriffen nicht behagte, doch Franklin hielt sie mit einer Armbewegung zurück.

Schmidt betrachtete die Papiere und schüttelte den Kopf. In Berlin, sagte er ungläubig, hat wohl jeder einen anderen Ausweis. Einen PM 12 habe ich schon mal gesehen, auch bei Leuten, denen der Ausweis eingezogen wurde, aber so einen Schein als Ausweis, der hat ja nicht mal ein Passbild. Und eine Berufsbezeichnung gibt es auch nicht.

Hilflos zuckte ich mit den Schultern, wohl auch, weil ich konstatierte, dass der allmächtige Apparat sich mittlerweile durch das Anlegen unzähliger Vorgänge, Verwaltungsanordnungen und Ausführungsvorschriften selbst infrage stellte. Und zwar durch eine Verkomplizierung und Überorganisation des Systems, sodass am Ende der Abschnittsbevollmächtigte auf Hiddensee nicht mehr wusste, was die hauptstädtischen Dienststellen zum Schutz der inneren Sicherheit verordneten. Der Weg zwischen oben und unten ist eben nicht nur geografisch weit und weiter noch, wenn ein großes Wasser zwischen den Beteiligten liegt.

Wie gern hätte jetzt der sächsische Cowboy vor ABV Schmidt mit der neuen Dienstanweisung aus Berlin geprahlt, aber so blieb auch ihm nur, seine Unwissenheit zu überspielen. Wer weiß, ob der überhaupt arbeitet, gab er also zu bedenken.

Natürlich arbeite ich, bestätigte ich. Beim Theater, wenn Sie es genau wissen wollen, Deutsches Theater in Berlin.

Aha, sagte Schmidt und machte ein nachdenkliches Gesicht. Doch ich war froh, dass er nicht nochmals nachhakte, um herauszufinden, dass er nur einen kleinen Kulissenschieber vor sich hatte, der eigentlich seit Jahren darauf wartete, irgendwann einmal Literatur studieren zu können. Vielleicht würde er dann erst recht hellhörig werden und seiner Vermutung neue Nahrung geben, dass etwas mit mir nicht stimmte. Denn genauso wenig wie ich eine Erklärung für den Einzug meines Ausweises bereithalten konnte, hätte ich eine Erklärung für meine dauerhaften Ablehnungen zum Studium finden können. Irgendwie ging auch ich davon aus, dass es eine, mir nicht bekannte staatliche Verordnung gibt, die diese Frage regelte. Vielleicht, so tröstete ich mich, fehlte mir eben doch jene klassenbewusste Einstellung, die nicht nur an den Sieg des Sozialismus über den kranken dahinsiechenden Kapitalismus glaubte, sondern auch diesen Glauben durch eine Mitgliedschaft in einer der staatstragenden Organisationen unter Beweis stellte. Kein Wunder, wenn die führende Partei ihren Untergliederungen aufgab, bei der Auswahl zukünftiger Eliten den Spreu vom Weizen oder besser den potentiellen Querulanten vom gestählten Klassenkämpfer zu trennen.

Aber natürlich gab es noch mehr, viel mehr Unerklärliches, das immer mit unserer verräterischen Sprache zu tun haben musste. Die Sprache war es, die einen Vorgang begründete und einen Verwaltungsapparat in Gang setzte, soviel war sicher.

Doch was sagt das schon? Vielleicht, dass meine Studienbewerbungen schon deshalb erfolglos bleiben mussten, weil ich nicht die richtigen Worte fand?

Möglicherweise reicht auch das als Erklärung nicht aus. Durch Zufall und Dank der Indiskretion einer frustrierten Mitarbeiterin erfuhr ich wenigstens aus dem renommierten Literaturinstitut, bei dem ich mich beworben hatte, dass eine einflussreiche Instanz dem Institut aufgab, mich, der ich unter einer Vorgangsnummer registriert war, mit einer von dieser Instanz gleichsam vorgegebenen Begründung vom Studium fernzuhalten.

Das System also funktionierte und es funktionierte noch besser, weil sich, wie mir die Frau empört wie mutig erläuterte, auch noch Professoren, die täglich die Freiheit des Wortes proklamierten, bereitfanden, jener Instanz Analysen meiner literarischen Bewerbungstexte abzuliefern. Und das völlig freiwillig, weil allein die Vorgangsnummer vermuten ließ, dass es sich um einen, der einzig wissenschaftlichen Weltanschauung gegenüber, kritisch wahrgenommenen oder mit Worten zu nachlässig umgehenden Zeitgenossen handeln könnte. Aber wohl auch, weil die professoralen Untertanen schnell Solidarität mit den Behörden übten, schon um allem möglichen Verdacht gegen sich selbst zu entgehen.

Bei der Analyse oder besser Umstellung der vermeintlichen Konterbande aus Worten und Sätzen wurden die Herren Professoren – oder sollte ich besser Folterknechte sagen –, auch noch fündig, weil sie diese unter der Folter, wie der Verdrehung von Satzinhalten und der langsamen Sezierung, zu jeder Aussage zwingen konnten. Worte sind eben erpressbar und halten den Folterwerkzeugen ihrer Peiniger seltener stand.

Dabei war mir klar, dass man spätestens seit Heinrich Heine die Konterbande besser im Kopf, als im öffentlichen Text verstecken sollte, und ich hütete mich bewusst vor jeder missverständlichen Äußerung. Doch das Versteckspiel meiner Partisanen half nichts und die Leichtsinnigkeit, mit der sich manchmal die Sätze selbst verrieten, hätte mir zu denken geben müssen und eigentlich eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit der Sprache geboten.

Ja, sagte der blonde Mann und zeigte noch einmal auf die Dokumente in Schmidts Hand, das jedenfalls scheinen hier ganz besondere Exemplare zu sein.

Meine Zustimmung für den Satz, die freilich anders begründet wäre, unterdrückte ich lieber, denn wie der Mann es wirklich meinte, entnahm ich besser seiner Kopfbewegung. Und diese verhieß in Verbindung mit den verzerrten Gesichtszügen, die sogar den aufgerissenen Lippen zu einer besonderen Geltung verhalfen, nichts Gutes.

Eine Erklärung meinerseits hätte die Sache auch nicht besser gemacht.

Schmidt kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Wieso haben Sie denn so einen Ausweis?, fragte er interessiert und geradezu entblößend offen für einen allwissenden Vertreter der Staatsmacht.

Ich weiß nicht, ich hatte eine Vorladung zur Polizei. Klärung eines Sachverhalts, hieß es. Aber was geklärt werden musste, weiß ich nicht. Nach drei Stunden Wartezeit, in denen nicht passierte, musste ich meinen Ausweis abgeben und bekam diesen Schein. Zugegeben war diese Antwort eine wenig einleuchtende Erklärung, aber in Ermangelung von Alternativen die ganze Wahrheit.

Und Sie wissen nicht warum?, hakte Schmidt nach, der eigentlich wissen müsste, dass polizeiliche Maßnahmen keiner Erklärungen bedürfen und die eine Ebene des Apparates nichts vom Handeln der anderen wusste, ja manchmal sogar nichts wissen durfte. Der Apparat hatte schließlich seine eigenen, für den Laien undurchschaubaren Regeln.

Eine Erklärung wollte man mir nicht geben.

Und wir sollen Ihnen das glauben, was?, fuhr der Cowboy dazwischen.

Ich hob wortlos die Schultern.

Sie wollen uns also weismachen, dass man Ihnen so ohne Weiteres den Personalausweis einzieht und dafür diesen Schein gibt, erboste sich der blonde Mann in der Lederjacke. Wollen Sie uns für dumm verkaufen?

Ich sag doch nur, was ich weiß, stotterte ich. Eine Erklärung, so meine Polizeiinspektion, brauche man mir nicht geben, damit habe ich mich abzufinden, schließlich sei es das Gesetz. Dann wurde ich weggeschickt.

Die Genossen der Hiddenseer Staatsmacht schauten sich fragend, aber gleichsam sprachlos an. Es schien, als hätte das Wort Gesetz auf sie eine magische Wirkung.

Die Pause nutzte Franklin, die Hände in die Taschen der weiten und dennoch viel zu kurzen Hosen zu vergraben, mit einer seiner filmreifen Vorstellungen und zitierte mit gehobener Stimme und verzerrtem Gesicht Villon:

Auch hat Francois die Treu gebrochen

und über mich sehr schlecht gesprochen

und, ohne dass er es bedacht,

viel Drangsal über mich gebracht.

Schmidt und der blonde Mann verstanden nichts mehr. Doch bevor sie explodierten, mischte sich Claudia mit ihrem ganzen Charme in die Szene: Stellen Sie sich mal vor, sogar am nächsten Tag war er wieder bei der Polizeiinspektion und wollte wissen warum. Schließlich konnte es sich doch nur um eine Verwechselung handeln. Aber er hat wieder keine Antwort erhalten.

Ich wusste nicht, warum Claudia glaubte, ausgerechnet bei zwei Herren der Staatsmacht um Verständnis für meine Lage werben zu können, aber das sie es tat, entsprach ihrer Vorstellung von einer Welt, die keine Ungerechtigkeiten zuließ.

Und eine Vermutung haben Sie bestimmt auch nicht!, ergänzte der Cowboy in einem Ton, der deutlich zeigte, wie wenig er Claudias Ausführungen glaubte.

Nein, beteuerte ich, da müssten Sie schon in Berlin fragen.

Worauf Sie sich verlassen können, drohte der Mann.

Damit war mein Auftritt erst einmal beendet.

Und bei Ihnen ist es bestimmt genauso, wandte sich der Zivilbeamte Franklin zu.

Franklin schüttelte den Kopf. Ich kann es wenigstens vermuten, aber auch das muss ein Missverständnis sein. Und zwar ein ganz großes!

Na prächtig, rief der Mann. Dann mal raus!

Es waren aber auch nur Gedichte, mehr nicht. Warum Franklin dies sagte, blieb mir schleierhaft, hatte er wirklich geglaubt, wegen seiner Gedichte hier Milde zu empfangen? Die Zeiten, in denen man auf der Insel mit Lyrik überzeugte, waren doch längst vorbei. Selbst Ringelnatz wäre nicht in diese Falle getapst! Oder war es wieder seine Lust an der Provokation, die mit ihm durchging? Eine Antwort fand ich nicht.

Gedichte?, schrie der blonde Mann. Wird ja immer schöner.

Aber die waren wohl nicht so richtig, gestand Franklin und machte hinter der Haarsträhne ein unschuldiges Gesicht. Ich kann Ihnen gern eines vortragen!

Den letzten Satz hätte Franklin besser nicht sagen sollen, denn während mir das Herz in die Hose rutschte, lief der Zivilbeamte unter dem blonden Haarschopf rot an.

Ihnen wird das Lachen schon vergehen!, tobte er in seinem breiten Sächsisch und einem Ernst, den man dieser Mundart gar nicht zugetraut hatte. Zu Schmidt gewandt fuhr er fort: Da ist wohl klar, was zu tun ist. Sie verstehen!

Schmidts Stirn legte sich in Falten.

Wir haben nichts Unrechtes getan, versicherte Claudia. Wollen doch hier nur unseren Urlaub machen.

Das behauptet hier jeder, entgegnete der Cowboy und stemmte die Arme in die Hüften. Dann begann er, uns musternd zu umrunden. Nicht wahr, Genosse Schmidt!

Genosse Schmidt wirkte unsicher.

Und das im Grenzgebiet, ergänzte der blonde Mann. Das erklärt einiges von selbst.

Grenzgebiet?, fragte Claudia erstaunt.

Ja, Grenzgebiet, junge Frau. Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie das nicht.

Die ganze Ostseeküste ist Grenzgebiet, erklärte Schmidt.

Genosse Cowboy nickte.

Schon das Wort Grenzgebiet war wie eine höhere Weihe, die man jeder Untersuchung und Kontrolle, und damit jeder Verordnung und jedem Gesetz, das sich in seiner Wirkung um ein Vielfaches potenzierte, geben konnte. Sollte es Schmidt und dem blonden Cowboy wirklich gelingen, einen solchen Zusammenhang zu konstruieren, verschlechterte sich unsere Situation schlagartig.

Schon die Verbindung des Wortes Vorgang mit dem Wort Grenzgebiet musste alle Alarmglocken schrillen lassen, denn damit war jeder Vorwand gegeben, uns einer ausführlichen Überprüfung zuzuführen. Meine Erfahrungen mit dieser Art Zuführung waren nicht die besten, aber ein Land, das guten Grund hatte, seinen Bürgern zu misstrauen, aus Angst, sie könnten es nicht nur mit allzu kritischen Worten strafen, sondern ihm im schwereren Fall, sogar auch den Rücken kehren, bediente sich nun mal zwangsläufig eigener, manchmal höchst unangenehmer Methoden.

Auch das war nichts Neues, wie ich mir in Erinnerung rief. Denn nicht nur der erwähnte langobardische König, sondern auch die französische Nationalversammlung verbot einst das Verlassen des Landes und drohte bei Zuwiderhandlung mit Verhaftung und Strafe. Allerdings gingen dieser Verordnung die versuchte Flucht des Königs und die Angst voraus, die Fliehenden könnten das monarchistisch geprägte Ausland zum Kampf gegen die neue Ordnung mobilisieren.

Dennoch schien die Partei- und Staatsführung der Republik aus der Geschichte gelernt zu haben, auch wenn der Begriff Grenzgebiet nun einer gewissen geografischen Beliebigkeit anheimfiel.

Das Überschreiten einer Grenze, so leuchtete mir ein, stellte auch die innere Ordnung des Arbeiter- und Bauernstaates infrage, da das System nur dann funktionierte, wenn es einen direkten Zugriff auf seine Bürger sicherte, die in den allgemeinen Prozess der Verwaltung, wie der ökonomischen und politischen Entwicklung eingebunden bleiben müssen.

Also, sagte Schmidt entschlossen und steckte die so unterschiedlichen Dokumente wie die Beweise unserer Schuld in seine lederne Umhängetasche. Dann muss ich Sie bitten, mir zu folgen!

Warum?, fragte Claudia.

Fragen Sie nicht, das ist ein Befehl!, entgegnete der Cowboy.

Wir sind nicht bei der Armee, wehrte sich Claudia.

Aber im Grenzgebiet und das braucht einen besonderen Schutz! Also machen Sie keinen Ärger.

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
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252 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783954620784
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