Kitabı oku: «Ende einer Reise», sayfa 3

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III

Geschlossen trotteten wir los. Der blonde Cowboy mit der schwarzen Lederjacke, die gar nicht in den Sommer passen wollte, vorn, dahinter wir, die Berliner Sommergäste, und am Ende ABV Schmidt mit der Schwalbe, gefolgt von einer Schar braungebrannter neugieriger Kinder. Ein Kreuzzug ins geheiligte Land, daran erinnerte zumindest die inzwischen erbarmungslos brennende Sonne. Doch statt durch die kleinasiatischen Weiten gen Jerusalem zogen wir vorbei an den Kiosken von Hiddensee, in denen mancherlei Kram, wie bunte Fähnchen, Sonnenbrillen, Luftballons und Ansichtskarten, angeboten wurde, vorbei an der ersten HO-Gaststätte, vor der eine unendlich lange Menschenschlange hoffte gegen Mittag einen Platz zu ergattern und dem ehemaligen »Hotel zur Ostsee«, dessen Nebengebäude einst »Freeses Gasthof« war. Hier logierte Gerhart Hauptmann, der aus der schlesischen Heimat meiner Vorfahren stammte, bereits vor der Jahrhundertwende. Eine schäbige Tafel erinnerte an den bekanntesten Dichter der Insel, der im Gasthof Teile der »Versunkenen Glocke« verfasst hatte. Sein Leben und seine Lebensansichten, die ihn zwischen ausgelassenen bacchantischen Gelagen, Frauenabenteuern, Weltschmerz und Verzweiflung pendeln ließen, fanden in jedem der Orte Hiddensees eine Heimstatt. Hauptmann hatte sie alle gezeichnet, auf seine literarische, künstlerische, ja menschliche Weise.

Vieles an diesem Gerhart Hauptmann war mir nicht fremd, vielleicht war es sogar dies, was einen besonderen Reiz auf mich ausübte. Auch die Erinnerungen der Zeitgenossen hinterließen der Nachwelt ein faszinierendes Bild. Kein Wunder, dass die Insel seinen Leichnam bekam, obgleich er ihr nicht zustand.

Die Situation ließ mir leider keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn unsere Gesetzeshüter drängten zur Eile, was mir und meinen Begleitern einige Sorgen bereitete. Und selbst das Meer, das wir in der Ferne an der Westküste der Insel rauschen hörten, vermochte uns jetzt nicht von einer bösen Vorahnung zu befreien.

Das hat uns noch gefehlt, bemerkte ich stöhnend. Besser hätte der Urlaub nicht beginnen können. Und das alles in fünf Tagen!

Abenteuerurlaub, erwiderte Franklin. Betrachte es als Abenteuerurlaub im Grenzgebiet. Und das in netter Begleitung.

Claudia rollte mit den Augen.

Sind Sie still, fuhr uns der blonde Mann lautstark an, wohl auch um zu zeigen, dass er das Kontroll- und Untersuchungshandwerk beherrschte. Sie reden nur noch, wenn Sie gefragt sind, sonst müssen wir Sie gleich isolieren. Sein Gesicht wirkte ernst.

Der Weg führte zu einem der Einfamilienhäuser in der Dorfmitte. »Abschnittsbevollmächtigter« stand mit schwarzer Schrift auf einem Aluminiumschild am Gartentor. Im gepflegten Vorgarten empfingen uns blühend rote und gelbe Rosen, blauer Rittersporn und dunkelrote große Bauernmalven. Ein schmaler, mit Steinplatten ausgelegter Weg führte zur verglasten Veranda, die gleichsam als Eingangsbereich des Hauses diente. Von dort aus öffnete sich der Flur mit den seitwärts gelegenen Zimmern.

Nehmen Sie hier Platz, befahl Unterleutnant Schmidt und wies vier Holzstühle in der Veranda an, während der Cowboy an der Haustür Posten bezog. Dann verschwand der ABV durch den Flur ins Dienstzimmer. Durch die offen gebliebene Tür waren ein aufgeräumter Schreibtisch, das schwarze Telefon, die Lehne des Schreibtischstuhles, ein weiterer Holzstuhl und ein alter Aktenschrank zu sehen. Das Zimmer wirkte trotz der militärisch preußischen Ordnung der Dinge nicht ungemütlich.

Mehr dürfte auch kaum in das Zimmer passen, stellte ich fest und schob meinen Kopf neugierig um die Ecke, als vermisste ich noch etwas. Doch mein Blick blieb schnell auf dem Bild über dem Schreibtisch haften, denn dort thronte er wieder mit dem ewigen Lächeln: der Genosse Generalsekretär und Vorsitzende des Staatsrates und oberste Hüter im sozialistischen Heimatland der Werktätigen. Er lächelte, als wäre er Teil dieser vertrauten Welt zwischen einem gepflegten Vorgarten und Schmidts Dienstzimmer in einem kleinen Einfamilienhaus auf Hiddensee.

Unterleutnant Schmidt trat an seinen Schreibtisch und begann in dicken Unterlagen zu blättern, die er vorher aus dem Aktenschrank geholt hatte. Bis in unsere Glasveranda drang das Rascheln von Papier, das beim Blättern, Sortieren, Auf- und Zuschlagen von Büchern entstand und eine Geschäftigkeit vortäuschte, die ich Schmidt, der zunächst irgendwie unbeholfen wirkte, gar nicht zugetraut hatte. Dann ratterte auch noch die Telefondrehscheibe, ein untrügliches Zeichen für die Suche nach Hilfe oder Verstärkung. Unruhig rutschten wir auf den knarrenden Holzstühlen umher.

Doch kein Wort folgte dem Rattern der Drehscheibe, niemand wollte an diesem frühen Freitagnachmittag mit Unterleutnant Schmidt reden.

Claudias Blick ging inzwischen nervös in den Vorgarten, von dort hinauf in den strahlend blauen Himmel und wieder zurück zur Tür, wo unser Cowboy Wache hielt.

Der Generalsekretär schien die Unruhe in der Veranda nicht bemerkt zu haben. Sein Lächeln lag still und vertrauensselig über der Szene. Zeit genug, um mir zu überlegen, wann mir dieses Lächeln das erste Mal begegnet war. Aber ich konnte mich nicht mehr erinnern. War es im Kindergarten, in der Schule?

Irgendwann war es da und es blieb, wie ein vertrautes Zeichen, ein Muttermal einer eingegrenzten Welt. Zeitlos lag es über dem Land und gab jedem öffentlichen und halböffentlichen Gebäude eine besondere staatstragende Würde. Es war immer dasselbe Lächeln, sodass man schon fürchtete, dass es erstarren würde. Oder erfrieren im Gold- oder Holzrahmen.

Millionenfach lächelte es von da oben, als wäre es ein höheres göttliches Lächeln, aber nicht das heilige eines feisten dick gewordenen Franziskus, das dem Inselparadies den schönen Schein rauben konnte. Nein, dieses Lächeln auf Litfaßsäulen oder Wandzeitungen, in Postämtern und Bahnhöfen, in Krankenhäusern und Gaststätten, in Schulen und Universitäten, in Kindergärten und Ferienlagern, in den Kasernen der Nationalen Volksarmee und in den volkseigenen Betrieben war ein anderes, bedeutungsschwereres und allgegenwärtiges. Und dieses Lächeln ließ niemals nach.

Wer das Licht der Welt erblickte, musste es eigentlich schon sehen, irgendwo an einer Wand im Kreißsaal und er sollte es das letzte Mal sehen, bevor er die Augen in einem der staatlichen Altersheime schloss. Doch das Altern selbst war diesem Lächeln fremd geworden, das da jahrzehntelang aus allen Amts-, Schul- und Betriebsstuben starrte. Dem Genossen Generalsekretär war, von wem auch immer, nicht nur die ewige Jugend versprochen, er hatte sie geradezu gepachtet und in seinen Fotos und Bildern verewigt. So ist das mit Überirdischen. Und der Generalsekretär war ein Überirdischer, auch wenn er jetzt freundlich lächelnd von der gelben Tapetenwand aus Schmidts Dienstzimmer auf den aufgeräumten Schreibtisch, das schwarze Telefon und durch die halb geöffnete Tür hinaus in den Flur und die verglaste Veranda blickte.

Fast hätte ich erwartet, dass er mich grüßen würde, so wie man alte Bekannte begrüßt, die man an unvorhergesehenen Orten wiedertrifft. Aber der Genosse Generalsekretär grüßte nicht.

Warum auch sollte er drei Berliner Sommergäste grüßen, die bewacht auf einer kleinen Veranda in Vitte auf Hiddensee saßen, mit sich und ihren Gedanken allein und die, im Gegensatz zu ihm, keine Zeit hatten? Denn abwechselnd schauten sie auf ihre Uhren und dann auf den Cowboy, der an der Tür Wache hielt.

Claudia stöhnte leise. Ihre Augen hatten trotz des hellen Tages an Glanz eingebüßt.

Die Sonne war bereits weit nach Süden gewandert und neigte sich dem offenen Meer zu.

Im Dienstzimmer versuchte Schmidt noch immer zu telefonieren. Hallo, hallo!, rief er immer lauter werdend in den Apparat, ist dort Stralsund?

Stralsund meldete sich nicht.

Wütend warf er den Hörer auf die Gabel. Wir schauten uns achselzuckend an.

Schmidt trat jetzt aus der Tür. Freitagnachmittag, sagte er zu dem blonden Mann, das ist nicht leicht. Dann kratzte er sich am fast kahlen Kopf und verschwand wieder im Dienstzimmer. Diesmal schloss er die Tür hinter sich.

In der Veranda blieb es still. Nur das Schlurfen unserer Füße, die wir von Zeit zu Zeit über den dunklen Dielenboden zogen oder anders übereinanderlegten, weil wir bald nicht mehr so oder so sitzen konnten, unterbrach die Stille.

Das kann jetzt dauern, stöhnte Franklin und atmete tief aus.

Sind Sie still, fuhr der blonde Wachposten, der jetzt am Eingangstor lehnte, dazwischen. Hier wird nicht geredet!

Nicht mal reden? Wir sind doch keine Verbrecher!, erboste sich Claudia, der offenbar die Wartezeit in Schmidts Veranda und das Nichtstun zugesetzt hatten.

Sei ruhig, beschwichtigte ich sie und legte meine Hand auf ihren Unterarm.

Aber Claudia stieß die Hand zur Seite und sprang auf. Was werfen Sie uns denn vor?, wandte sie sich anklagend an unseren Bewacher und konnte dabei das Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Das müssen Sie mal unsere Sache sein lassen, junge Frau!, schrie der blonde Cowboy zurück, dessen Autorität unter den Anwürfen Claudias zu leiden drohte und der den Autoritätsverlust nun durch größere Lautstärke auszugleichen versuchte.

Schmidt war der Lärm in seinem Dienstzimmer nicht entgangen. Was ist denn los?, rief er, als er aus der Tür geeilt kam.

Ach, diese Leute führen sich hier auf, beschwerte sich der Cowboy. Denken wohl, sie sind was Besonderes. Nur weil sie aus Berlin sind.

Das ist doch gar nicht wahr, versuchte sich Claudia zu verteidigen und hätte ihre Frage nach dem Vorwurf auch gleich noch an Schmidt gerichtet.

Aber der ließ erst gar keinen Widerspruch zu. Setzen Sie sich, forderte Schmidt Claudia auf und wies mit der Hand auf den leeren Platz. Was denken Sie, wo Sie sind?

Claudia setzte sich ohne Widerrede. Ihre Lippen zitterten.

Schmidt schüttelte den Kopf und zog den blonden Mann am Ärmel in den Flur, um ihm dort etwas ins Ohr zu flüstern. Genosse Cowboy nickte.

Das wird jetzt eine Weile dauern, sagte Schmidt, als er wieder in der Glasveranda stand. Die Genossen in Stralsund werden sich in Berlin erkundigen. Dann sehen wir weiter.

Könnten wir denn nicht so lange im Ort spazieren gehen oder ans Meer, schlug Claudia leise vor. Es ist doch unser Urlaub und dann das Wetter! Sie haben doch unsere Ausweise, sozusagen als Pfand und in einer Stunde sind wir wieder da.

Das ist eine gute Idee, ergänzte Franklin. Verschwinden können wir doch von der Insel sowieso nicht, der nächste Dampfer geht erst morgen früh.

Ich wusste nicht, ob das Vortragen dieser Idee geschickt war. Zwar wurde einerseits klar, dass wir wie die Verbannten auf einer sibirischen Insel ohnehin nicht fliehen konnten, andererseits fürchtete ich, dass insbesondere der junge Wächter, sich in seiner Autorität verletzt fühlen müsse, sollten die durch sein Engagement Festgesetzten noch Privilegien genießen dürfen.

Schmidt kratzte sich am Kopf, was ich als deutliches Zeichen seines Nachdenkens interpretierte.

Nur unser Cowboy aus der sächsischen Prärie dachte erst gar nicht nach. Wie befürchtet, prustete er ungehalten los: Das könnte Ihnen so passen! Für wen halten Sie uns?

Die Frage hätte ich gern ehrlich beantwortet oder auch Franklin die Antwort überlassen, aber jetzt schien es angebrachter zu schweigen. Allein die ernste Miene, mit der der Mann wieder seinen Postendienst an der Verandatür aufnahm, verriet nichts Gutes und die Art, wie er es tat, ließ mich glauben, dass er in jedem Moment einen Sturmangriff auf seine Bastion, die einem Wehrturm glich, erwartete. Von dort oben trompetete er über die Zinnen: Hier bestimmen wir, wo es langgeht!

Irgendwie schien der Mann damit die Losung vom Hafen verinnerlicht zu haben: Wissen, Wachsamkeit und Tat – für den sozialistischen Friedensstaat. Und in der Tat drängte sich mir der Eindruck auf, als müsste genau dieser Cowboy mit seiner Verbissenheit den Weltfrieden retten, der durch niemand anders als durch uns gefährdet war.

Schmidt nickte. Wir müssen erst genaue Anweisungen von Stralsund und Berlin haben, sagte er. Vorher passiert hier nichts. Dann ging er zurück in sein Dienstzimmer.

Eine weitere Stunde verging. Inzwischen hatte sich der Himmel bedeckt. Ein dunkelblaues Band zog sich langsam über die Nachmittagssonne. Der Wind wurde stärker.

Es wird bald regnen, stellte ich leise fest und versuchte in dem Hauptmann-Gedichtbändchen zu lesen. Doch weit kam ich mit dem Gedicht »Die Insel« nicht. Bereits hinter den so passenden schönen Zeilen war Schluss:

Wir waren zu drein

Vor Jahrtausenden mag es gewesen sein.

Es war einsam hier,

tief, tief!

So waren auch wir.

Mit dem Hinweis, dies sei keine Lesestube, sondern ein amtlicher Verwaltungs- und Untersuchungsort, verbot unser Weltfriedensretter, die Lektüre. Sich dagegen aufzulehnen bedeutete Gefahr zu laufen, dass das Gedichtbändchen als mögliches Beweisstück eines wie auch immer gearteten Vergehens konfisziert würde.

Widerstandslos steckte ich das Bändchen wieder ein.

Wir sitzen wenigstens trocken, ergänzte also Franklin und lehnte sich nach hinten, um seinen Hinterkopf an eine der vielen kleinen Verandascheiben zu legen.

Ruhe, hab ich gesagt, mahnte der blonde Bewacher.

Auch ich hatte nun den Hinterkopf an eine Scheibe gelegt. In dieser Haltung beobachtete ich Claudia, die eingeschlafen war. Dabei musste ich an unsere erste Begegnung während eines Open-Air-Konzertes denken. Wer, was spielte, konnte ich nicht mehr sagen, möglicherweise war es eine der bekannten Berliner Bluesbands mit Namen wie Engerling oder Monokel. Was ich sicher weiß, ist, dass es eine laue Sommernacht mit unzählig vielen Menschen war, die sich bei ausgelassener Stimmung prächtig amüsierten. Es war Zufall, dass sich unsere großen Freundeskreise, genau an diesem Tag und an diesem Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt überschnitten. Und es war wiederum kein Zufall, denn Berlin war eben doch manchmal auch nur ein großes Dorf. Und erst recht dörflich mit einer eingeschworenen Gemeinschaft Gleichgesinnter ging es im Prenzlauer Berg zu, wo in der sogenannten Szene jeder über Dritte und gegebenenfalls Vierte erschließbar war. Das mochte an den einschlägig bekannten Cafés und Kneipen mit den klangvollen Namen »Wiener Café«, »Fengler«, »Hackepeter« oder »Dorle« gelegen haben, in denen die Szene und damit auch jene Bohemiens wie Franklin verkehrten, oder an den kiezbekannten Partys, heimlichen Lesungen, alternativen Ausstellungen und nicht ganz legalen Konzerten auf Dachböden, in Kellern und in Hinterhöfen, in denen früher oder später jeder jedem einmal über den Weg lief. Die Gemeinde traf sich eben auch, wenn das Dorf gute Hunderttausend Seelen zählte.

Claudia fiel mir sofort auf, was auch bei ihrer Erscheinung nicht verwunderte. Sie trug eine knallenge hellblaue Jeans und eine weiße Bluse mit aufgestelltem Kragen. Und wie immer hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, das nicht nur ihre weißen Zähne zeigte, sondern auch eine ganze Umgebung in Verzückung versetzte. Da sie in einer großen Gruppe stand, hatte ich alle Mühe, mich ihr irgendwie unauffällig zu nähern, um sie dann selbst anzusprechen. Dafür war der Abstand zu groß, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mich die große Zahl der Zuhörer abgeschreckt hätte. So begnügte ich mich mit meinen Beobachtungen, die mein Interesse an der jungen Frau nur verstärkten.

Sie trank Bier und aus der geradezu graziösen Geste, wie sie das Glas hielt, erkannte man, dass sie niemals Bier, sondern offensichtlich nur Wein zu trinken gewohnt war. Aber in der Unbeholfenheit im Umgang ihrer schmalen Hände mit dem Bierglas, das wie ein Weinkelch behandelt wurde, lag etwas Faszinierendes. Vielleicht sogar etwas Zerbrechliches, das in mir kurzzeitig die Hoffnung weckte, auf jenen Moment zu warten, in dem ihr das Glas aus den Fingern gleiten würde. Als fürsorglicher Helfer wollte ich dann mit wohlgeformten Worten, die ich mir schon zurechtgelegt hatte, genau in jenem Moment des Schrecks in Erscheinung treten. Doch den Gefallen tat sie mir nicht und so vergingen weitere drei Wochen, bis ich sie im »Wiener Café« wieder traf und in Anspielung auf das besagte Konzert das Gespräch eröffnen konnte.

Sie erinnerte sich natürlich nicht an mich, wie ich erst später erfuhr, aber ließ mich trotzdem gewähren. Es folgte ein unendlich langes Gespräch, an deren Ende ich sie auch noch im Vorgefühl eines neuen Glückes nach Hause bringen konnte. Fortan trafen wir uns häufiger und es begann eine Freundschaft, die ich nicht mehr missen wollte.

IV

Der Himmel hatte sich dunkel über die Insel gewölbt. Während der Wind die Blumen in Schmidts Vorgarten zu Boden drückte, begann er im Reet zu pfeifen. Die ersten Regentropfen trommelten auf das Verandadach.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Mit geschlossenen Augen hörte ich, den Hinterkopf noch immer an eine Scheibe der Veranda gelehnt, dem Trommeln zu. Es war, als würde jemand unaufhörlich an eine Tür klopfen. Das Klopfen kam mir bekannt vor, so schloss ich die Augen, um besser zu hören. Und da wusste ich es: Es war meine Wohnungstür, Kopenhagener Straße 73, Zweiter Hinterhof, drei Treppen. Claudia, schoss es mir durch den Kopf. Genauso war es: Ich drehte mich im Bett und rieb mir die Augen. Das Klopfen an der Tür nahm kein Ende. Leicht benommen wanderte mein Blick im Zimmer umher, vom alten Eisenbett zum Schreibtisch, dann weiter zum Bücherregal, das bis zur Decke reichte, hinauf zur Messinglampe mit den sechs Schalen und wieder hinunter zum ausgetretenen Teppich, auf dem mehrere Bücher- und Zettelstapel lagen. Über dem Klavier hingen verschiedene Kleidungsstücke, die in einiger Eile dort abgelegt wurden. Langsam erhob ich mich und torkelte, nur mit einer kurzen Unterhose bekleidet, schlaftrunken zur Tür, um diese gähnend zu öffnen.

Da stand sie, schlank, schön und mit langem, dunklem Haar. Ihr Gesicht und die Arme, die sie vor der Brust verschränkte, hatten einen verführerischen braunen Glanz, als müsste sie persönlich den Sommer in den zweiten Hinterhof der alten dunklen Mietskaserne tragen. Warum öffnest du nicht?, fragte sie vorwurfsvoll. Hast wohl noch geschlafen?

Warum nicht, sagte ich und schaute erschrocken auf meine Armbanduhr. Dann fasste ich mich an den Kopf, so als müsse ich prüfen, ob er noch dran sei.

Du musst doch bald ins Theater, sagte sie. Oder stellen sich die Kulissen heute selbst.

Besser wär es, antwortete ich und ging zurück in die Wohnung. Aber den Gefallen werden sie mir nicht tun.

Claudia schüttelte den Kopf.

Wo bleibst du, rief ich aus der Küche.

Sie trat in den Flur, schloss die Haustür und lehnte sich an die hölzerne Einfassung der Küchentür. Das Türblatt fehlte. Ich hatte inzwischen den Wasserhahn aufgedreht und hielt den Kopf unter das fließende Wasser. Das kalte Wasser tat mir gut.

Schöne Begrüßung, sagte sie.

Was sagst du?, rief ich aus dem Abwaschbecken.

Claudia winkte ab.

Ich drehte den Wasserhahn zu und trocknete mir mit einem Handtuch, das über einem Stuhl hing, die Haare, die nun zerzaust nach allen Seiten standen. Dann trat ich ganz dicht an sie heran.

Entschuldigung, murmelte ich und gab ihr einen kurzen Begrüßungskuss, der immerhin lang genug war, um den Duft eines blumigen Parfüms in der Nase zu haben. Den zog ich genüsslich ein und bedauerte, die Nacht allein verbracht zu haben. Manchmal möchte ich in diesem Duft aufwachen, provozierte ich, wohl wissend, dass die Grenze zwischen einer platonischen und einer wirklichen Liebe auch fließend sein konnte. Vielleicht war das Spiel an dieser Grenze der besondere Reiz und ließ eine besondere Offenheit untereinander zu. Sie wandte sich kopfschüttelnd ab.

So muss es wohl im Elysium riechen, bemerkte ich lächelnd. So verdammt verführerisch, da müsste man eigentlich …

Sich schnell anziehen, antwortete sie schroff und drehte sich mir wieder zu.

Wenn du meinst, wandte ich mich ab und verschwand im Wohnzimmer. Als ich wieder in der Küche stand, noch immer barfuss, trug ich eine ausgewaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Jetzt erst sah ich ihr neues Kleid. Es war aus einem hellen, fast durchsichtigen Leinenstoff und hätte mir wegen der Farbe und Transparenz längst auffallen müssen. Glücklicherweise wurde ich nicht gleich belehrt, dass ich mal wieder nichts mitbekommen würde und sie sich schon nackt in die Tür stellen müsse, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. So aber hatte ich, obgleich ein schlechter Charmeur, noch genügend Zeit, selbst mit einem Kompliment aufzuwarten, bevor mich der Vorwurf der Ignoranz ereilte.

Meine Güte, sagte ich und drehte einen ehrfürchtigen Halbkreis um die Freundin. Vom Onkel, was?

Sie nickte. Rom, sagte sie stolz und ließ mich ganz neidisch darüber nachdenken, wie es jetzt in Rom sein müsste, wo der Bruder ihres Vaters an der Botschaft irgendein drittklassiger Angestellter war. Immerhin reichte es für den kleinen Beamten der Konsular­abteilung aus, um aus Feindesland Paketsendungen in das Heimatland der Werktätigen zu versenden, wo eine Schar von Verwandten sehnsüchtig auf jedes neue West-, in diesem Fall Südpaket wartete.

Tja, an so einer Botschaft müsste man sein, bemerkte ich vielleicht zu trocken. Da kann man sogar auf den letzten Schrei mit dem klangvollen Namen Präsent 20 aus den hiesigen Schaufensterauslagen verzichten. Jetzt ist mir auch klar, warum dein Onkel das so lange an der vordersten Klassenkampffront aushält. Zugegeben war die Anspielung auf die, vom volkseigenen Modeinstitut kreierte und alles andere als beliebte Modelinie, die eher an die Trends vergangener Jahrzehnte, als an tragbare zeitgemäße Kleidungsstücke erinnerte, starker Tobak. Aber irgendwie war es für mich schon unverständlich, dass ausgerechnet die Verteidiger der sozialistischen Planwirtschaft, auf teure Importe setzten, statt aus Solidarität mit ihren Landsleuten auch jenem angepriesenen Präsent 20-Fummel zu huldigen, der so manchen Zeitgenossen zur wandelnden Vogelscheuche machte.

Mach dich nicht lustig, sagte sie.

Mach mich gar nicht lustig, verteidigte ich mich, dachte nur darüber nach, wie schwer das sein muss, in Rom mit revolutionärer Wachsamkeit den Klassenkampf gegen das Böse der Welt zu führen und das allein mit dem Glauben an die historische Mission der Arbeiterklasse und ihre wissenschaftliche Weltanschauung. Ja, zwischen Trajansforum, Kolosseum und Peterskirche bekommt die Parole »Dein Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden« eine besondere Bedeutung. Das ist eine aufopferungsvolle Aufgabe, ach was eine revolutionäre Heldentat!

Hör auf!, unterbrach sie. Du willst doch auch, dass ich gut aussehe. Oder wär dir eine graue Maus lieber?

Nein, die braungebrannten mit ihren schönen Kleidern sind mir schon am liebsten, erwiderte ich, legte den Kopf zur Seite und drückte mich an Claudia, die eine unglaubliche Wärme verströmte. Vor allem, wenn sie so schick sind, legte ich also nach, denn da kann man sich eigentlich überhaupt nicht beherrschen.

Du wirst es verkraften, sagte sie lächelnd und schob mich zur Seite. Außerdem stinkst du immer noch nach Bier. Fürchterlich sogar!

Hm, wenn du meinst, erwiderte ich und schaute in den Spiegel, wo ich jemand sah, der mir immerhin ähnlich war.

Wo hast du dich denn rumgetrieben? Ich hab doch einen Zettel an der Tür hinterlassen!

Ich konnte mich an keinen Zettel erinnern, obgleich ich ihn hätte sehen müssen. Denn er war von außen auf einen Nagel gespießt, der in der Wohnungstür steckte. Üblicherweise schaute ich immer auf die Zettel, die sich in großer Zahl auf dem Nagel befanden und der simplen Nachrichtenübermittlung von Menschen dienten, die wie ich kein Telefon besaßen, dafür aber handgeschriebene Nachrichten für die abwesenden Empfänger an den Wohnungstüren hinterließen. Aber in der letzten Nacht hatte ich wohl von dieser gewohnten Art von Informationsverkehr oder besser fliegendem Zettelverkehr keine Notiz genommen. Zettel, ja, stotterte ich und wusste nicht weiter.

Lass mich raten, sagte sie und hob die Stimme: »Wiener Café«. Wo sonst! War wohl wieder Franklin da und hat neue Gedichte vorgestellt. Doch alle Macht will zeitlos prangen, will lüstern noch die Ewigkeit … ich kenne das schon. Unseren Verszauberer, der uns die Zukunft lehrt und das Vergessen.

Leider nicht, sagte ich. Bin gar nicht mehr ins »Wiener« gekommen. Im »Weißen Elefanten« war Schluss.

Da gehst du noch hin? In diese … na ja, du weißt schon …

Immerhin sind meine Kollegen vom Theater da, verteidigte ich die kleine Kneipe unweit des Luxemburgplatzes, die in der Tat etwas Anrüchiges hatte. Aber das mag wohl mehr an den Gästen, als an dem runtergekommenen Ambiente einer »Altberliner Bierstube« liegen. Doch gerade dies machte das Flair dieser typischen Kiezkneipe, wie sie es nicht mehr so oft gab, aus. Nicht umsonst hatte Franklin ihr den grausamen Beinamen Genickschussdiele gegeben, obgleich sie mit ihrem eigenen Namen schon genug gestraft war. Mit Kugeln oder anderer Munition wurde allerdings auch nicht geschossen, doch der reichlich ausgeschenkte Alkohol erzielte bei den Besuchern oft die gleiche, in der Regel verheerende Wirkung.

Im »Weißen Elefanten« war, wie Franklin immer betonte, das Volk in allen seinen Schattierungen zu Hause. Hier trafen sich die Zimmerleute, Maurer und Kohlenträger der Nachbarschaft, Kulissenschieber verschiedener Berliner Theater und tätowierte Ex-Häftlinge, gescheiterte Existenzen jeder Couleur und andere zwielichtige Gestalten. Aber auch Studenten, denen das Bier für 45 Pfennige noch immer zu teuer war, und so manche bereits früh verblühte alte Dame, die, während sie über Stunden an einem Kaffee nippte, von längst vergangenen Zeiten träumte. Dazwischen war Marlene, die schöne rassige Kellnerin mit schwarzem wallenden Haar und großen grünen Augen, die neben dem reichlich fließenden Bier, das hauseigene Standardgetränk zum Ausschank brachte. Es war eine Art Pfefferminzlikör, der wegen seiner grünen Farbe und dem zuckerhaltigen Geschmack selbst bei den hart gesottenen Gästen den Namen »Grüner Würger« trug. Zwar setzte ein Würge- und Brechreiz bei den geübten Elefanten-Trinkern nur selten ein, aber sicher war, dass der stark alkoholhaltige Zuckersaft die Kehlen geradezu verklebte. Marlene hatte dann alle Hände voll zu tun, für die ausreichende Spülung zu sorgen, was wiederum den Bierkonsum ankurbelte. Dennoch war sie es, die eigentlich gar nicht in den Elefanten passte und von einer Karriere in einem schicken Restaurant träumte, wo man zuweilen auch Westmark als Trinkgeld erwarten konnte. Trotzdem vollendete ausgerechnet Marlene den morbiden Charme der Eckkneipe auf ihre unnachahmliche Weise. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das ist ja ein feiner Umgang für dich, sagte Claudia. Findet man dich da jetzt öfter?

Warum nicht, antwortete ich. Auch die Kohlenträger von nebenan waren da, revolutionäre Arbeiterklasse, wenn du so willst. Dein Onkel hätte seine Freude daran, wie ich ganz und gar in der einst unterdrückten Klasse aufging.

Mach dich nicht immer lustig und lass vor allem meinen Onkel aus dem Spiel. Also was war denn nun mit dem Elefanten!

Ach so, mit dem Elefanten, sagte ich. Nichts eben, es ging wohl nicht anders.

Was ging nicht anders?

Mit dem Elefanten.

Das kann ja ein schöner Urlaub werden. Ich hoffe du trinkst dann nicht auch so viel!

Was heißt hier trinken? Im Übrigen besteht die Gefahr erst gar nicht.

Was soll das heißen?

Ich nahm den Kamm aus der Schublade, stellte mich vor das Fenster, damit ich Claudia nicht anschauen musste, und kämmte mir das zerzauste Haar. Erst dann sagte ich leise: Dass ich nicht mitfahre.

Was?

Du hast richtig gehört! Ich fahre nicht mit nach Prag. Ich weiß selbst nicht, ob ich diesen Satz in diesem Moment nicht anders hätte sagen sollen, schon um die erwartete Wirkung abzumildern, aber irgendwie war ich nicht dazu in der Lage. Vielleicht wollte ich auch ihre Reaktion abwarten, selbst wenn ich wusste, dass es bessere Möglichkeiten gab, unangenehme Wahrheiten zu verkünden.

Claudia ging langsam zum Fenster, von wo aus sie, zwischen zwei Bücherstapeln hindurch, in den Hof sehen konnte. Aber der lag wie immer leer und verlassen, nur die Sonne war hereingetreten und malte hinter den Wäschestangen lange Schatten auf den Beton. Das sagst du mir erst jetzt, sagte sie leise und in einem Ton tiefer Enttäuschung.

Es ist nicht, was du denkst, sagte ich nun, schon um sie nicht länger im Ungewissen zu lassen.

Was sonst?

Ich zog den grauen, noch ganz jungfräulichen Schein aus der Tasche und reichte ihn ihr.

Was ist das?

Siehst du doch!

Claudia las. Was soll das?

Das würde ich auch gern wissen, antwortete ich und beteuerte meine Unschuld. Jedenfalls kann man damit nicht das Land verlassen und muss sich alle fünf Tage melden. VP-Inspektion, Schönhauser Allee. So ist die Anordnung.

Du bist doch kein Verbrecher!

Vielleicht doch?

Claudias Hände krallten sich in meine Oberarme. Dann schüttelte sie mich mit beiden Armen. Lass den Quatsch!

Ich riss mich los, was schmerzhaft genug war, und ging wortlos in der Küche auf und ab. Vielleicht hätte ich in diesem Moment wütend sein sollen, aber ich war es nicht, schon gar nicht auf Claudia, deren Unmut ich gut verstehen konnte. Ich habe die Gesetze nicht gemacht, sagte ich.

Was für Gesetze?

Ich hob die Schultern. Die Gesetze eben.

Das kannst du unmöglich auf dir sitzen lassen, rief Claudia so laut, dass es in der Küche wie im Chor einer Kirche hallte. Du musst dahin gehen! Wir wollen doch nach Prag! Ihr Gesicht bekam eine rote Farbe, was sie in ihrem Aufzug noch schöner machte.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
252 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783954620784
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