Kitabı oku: «Die Illusion der Unbesiegbarkeit», sayfa 2
»Jahrelange Erfolgsgeschichten können zu einem nicht zu rechtfertigenden Selbstvertrauen führen, zur irrigen Annahme, ›Wir kriegen das schon hin‹.«
PROF. DR. IRIS LÖW-FRIEDRICH, TOPMANAGERIN UND MULTI-AUFSICHTSRÄTIN
Kein Aufstieg ohne Fall? Ein Blick auf die Fortune 500
Alljährlich veröffentlicht das Magazin Fortune die Liste der Top 500. Hier sind sie versammelt: die Big Player, die umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Doch kaum eine Organisation schafft es, ihren Spitzenplatz im Wirtschaftsolymp dauerhaft zu halten. Ist der Moment des größten Triumphs womöglich auch der der größten Verwundbarkeit? Trägt jeder außergewöhnliche Erfolg schon den Keim des Scheiterns in sich? Anders gefragt: Gibt es keinen Aufstieg ohne Fall? Wenn Weltreiche zusammenbrechen, Hochkulturen wie die der Incas innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit versinken, woher nehmen Unternehmensführer und Manager unserer Zeit die Zuversicht, dass ihr Erfolg von heute auch morgen und übermorgen noch andauern wird? Und wichtiger noch: Gibt es Warnsignale für den drohenden Untergang? Diese Frage betrifft selbstverständlich nicht nur Großunternehmen. Wir alle kennen schließlich Start-ups, die nach einem kometenhaften Aufstieg ebenso spektakulär scheiterten, und traditionsreiche Mittelständler, deren Erfolgskurve nach vielen Jahrzehnten scheinbar urplötzlich zu Ende war.
Wer spricht heute noch von Nokia?
Wenn Sie heute einen Smartphone-gewieften Dreizehnjährigen fragen, was er von Nokia hält, wird er Sie wahrscheinlich verständnislos anblicken: »Hä – Nokia?« Dabei war das finnische Unternehmen noch vor wenigen Jahren ein echtes Schwergewicht: Von 1998 bis 2011 dominierte es den weltweiten Markt für Mobiltelefone, als weltgrößter Handy-Hersteller und Marktführer. 2004 belegte Nokia in der Fortune-Liste der 500 größten Unternehmen der Welt einen stolzen Platz im vorderen Drittel (Rang 122). Ein kleines Land mit rund fünf Millionen Einwohnern beherrschte souverän eine Zukunftsbranche.
Die Geschichte von Nokia könnte Stoff für ein Hollywood-Drama liefern: 1865 baut der Ingenieur Fredrik Idestam am Fluss Nokianvirta im Süden Finnlands eine Zellstoffmühle und Papierfabrik und nennt sie »Nokia«. Gut drei Jahrzehnte später, 1898, gründet Eduard Polón eine Fabrik, die Gummistiefel und Radmäntel produziert, die Finnish Rubber Works. Und noch einmal knapp 15 Jahre später entstehen die Finnish Cable Works, gegründet von Arvid Wickström. Ab 1963 produzieren die Cable Works auch kabellose Telefone für die Armee. Die drei Unternehmen kooperieren bereits 45 Jahre miteinander, als sie 1967 zum Technologiekonzern Nokia verschmelzen. Forstwirtschaft, Gummi, Kabel, Elektronik und Stromproduktion bleiben Geschäftsbereiche, bis die Deregulierung des europäischen Telekommunikationsmarktes Anfang der Achtzigerjahre die Weichen neu stellt. Als das skandinavische Mobilfunknetz NMT (Nordic Mobile Telephone) entsteht, produziert Nokia 1981 das weltweit erste mobile Autotelefon und ab 1987 auch Mobilfunktelefone.1 Ab da geht es Schlag auf Schlag: Nokia konzentriert sich auf Mobiltelefone und wächst und wächst und wächst. Andere Geschäftsbereiche wie Gummi, Kabel oder Stromerzeugung werden abgestoßen. Das Unternehmen begeistert mit technischen Neuerungen wie dem Smartphone-Vorläufer »Communicator« (1996); vor allem aber überschwemmt es den Markt mit günstigen und robusten Handys für jedermann. 2002 stammt jedes dritte auf der Welt verkaufte Mobiltelefon von Nokia (Marktanteil 35,8 Prozent), nur jedes sechste von Motorola (15,3 Prozent) und nicht einmal jedes zehnte von Samsung (9,8 Prozent). Das bestverkaufte Handy aller Zeiten ist das Nokia 1100, das sich bis 2013 mehr als 250 Millionen Mal verkauft haben wird:2
Das Unternehmen aus dem finnischen Espoo scheint unbesiegbar. Und leider fühlt man sich auch so. Denn auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Macht bringen sich neue Wettbewerber in Stellung. Als 2004 die ersten Klapphandys erscheinen, setzt Nokia weiter auf »bewährte« Modelle, und als Apple 2007 das erste Smartphone mit Touchscreen herausbringt, hält CEO Olli-Pekka Kallasvuo das iPhone wörtlich für ein »Nischenprodukt«. Obwohl die Nokia-Techniker immer wieder neue Ideen liefern und nicht selten Vorreiter sind – etwa beim ersten Kamera-Handy (Nokia 7650) oder beim Internet Tablet 770 –, reagiert das Unternehmen zu langsam und schwerfällig. Zu allem Überfluss bricht in der Führungsetage ein Streit aus: Soll man die Smartphone-Entwicklung forcieren oder weiter besonders günstige Handys bauen? Der langjährige Leiter des Deutschland-Geschäfts, Razvan Olosu, zeichnet »das Bild einer riesigen Behörde, voller Handy-Beamter auf Lebenszeit«.3 Die Mitarbeiter am deutschen Standort Ratingen benennen zu Beginn der Krise die eigenen Meeting-Räume vielsagend um: Aus »Helsinki«, »Berlin« oder »London« werden die Räume »Funktioniert hier nicht«, »Wird nie approved« und »Global will das«.4 Mit »Global« ist übrigens die zögerliche Zentrale gemeint. Das nennt man wohl Galgenhumor.
Genauso rasant, wie es zehn Jahre zuvor aufwärts ging, geht es nun bergab. Ab 2008 sinkt der Marktanteil von Nokia drastisch, ab 2011 schreibt das Unternehmen Verluste. Im gleichen Jahr einigt man sich mit Microsoft auf eine Kooperation: Das eigene Betriebssystem wird aufgegeben, stattdessen wird nun MS Windows auf Nokia-Handys installiert. Die Branche spottet derweil über zwei rostige Schlachtschiffe, die gemeinsam Fahrt aufnehmen wollen. Gegen Apples iPhone und das auf Geräten von Samsung, LG und anderen Unternehmen genutzte Android-System bleibt man erfolglos. Zwei Jahre später übernimmt Microsoft die Mobiltelefonsparte von Nokia. »Das finnische Handywunder ist zu Ende«, urteilt das Branchenmagazin connect. Heute definiert sich Nokia als führender Anbieter von Netzwerktechnologie. Der Aktienkurs seit 1999 gleicht einem Hochgebirge mit Schwindel erregenden Höhen um die Jahrtausendwende, das ab 2009 in eine konstant flache Ebene übergeht. Wer 2000 über 60 Euro für eine Nokia-Aktie bezahlte, bekam Anfang 2016 weniger als 5 Euro dafür.
Wenn man sich mit der Geschichte der Incas beschäftigt, hat man bei der Lektüre der Nokia-Firmengeschichte gleich mehrere Déjà-vus. In beiden Fällen verändert ein kleines Volk die Welt, weil es findiger, konsequenter und damit zunächst erfolgreicher ist als potenzielle Konkurrenten. Dabei nutzen beide die Gunst der Stunde. Der Aufstieg der Incas vom unbedeutenden Andenvolk zur Großmacht begann circa 1100. Was für Nokia die Deregulierung des Mobilfunkmarktes und das Know-how in Sachen drahtloser Telekommunikation, waren für die Incas ungewöhnliche Kälteperioden in den Anden und entlang der Pazifikküste, in denen sich ihre Kenntnisse in Agrarwirtschaft, Bewässerungswesen und Anbautechniken als überlegen erwiesen. Während andere Völker die kalten Hochebenen verließen, Dürre am Pazifik und extreme Niederschläge andernorts zu Landflucht und kriegerischen Auseinandersetzungen führten, handelten die Incas getreu ihrem Motto, »Ordnung in die Welt bringen«. Sie legten an steilen Hängen tausende Terrassen an, bauten Bewässerungsanlagen, leiteten Flüsse um. Sie kultivierten gezielt jene Feldfrüchte, die den klimatischen Bedingungen angepasst waren, etwa eine Kartoffelart, die sich leicht gefriertrocknen ließ. Die Expansion der Incas basierte stark auf ihrem (land)wirtschaftlichen Erfolg durch innovative Anbaumethoden. Wie die Finnen, die mit robuster, nicht zu teurer Technik weltweit erfolgreich waren, exportierten die Incas ihre Erfolgsrezepte in Nachbarregionen und gewannen so immer mehr Einfluss. Ihr goldenes Zeitalter mit großen Landgewinnen begann unter der Regentschaft Pachacutec Yupanquis (1438–1471). Doch wie die Finnen, die sich kaum vorstellen konnten, dass ihre Siegesserie einmal enden könnte, klammerten die Incas sich auch dann noch an bewährte Rezepte, als sie sich mit einem Gegner konfrontiert sahen, der nach völlig anderen Regeln spielte. Wo man sich bei Nokia nicht vorstellen konnte, dass Apple mit einem einzigen, noch dazu teuren Gerät wie dem iPhone der Nokia-Produktvielfalt günstiger Geräte den Rang ablaufen könnte, war es für die Incas unmöglich, sich auf einen Gegner einzustellen, der mit den bewährten Methoden der »freundlichen« Übernahme oder aber Unterwerfung nicht zu fassen war: die spanischen Konquistadoren unter Francisco Pizarro.
In beiden Fällen besiegelten interne Konflikte den Untergang. Bei den Incas war es der Bruderkrieg, der ausbrach, als Huayna Cápac 1527 das Reich unter seinen beiden Söhnen Atahualpa und Huáscar aufteilte. Beide Brüder scharten die Volksgruppen ihrer verschiedenen Mütter und weitere Verbündete hinter sich und kämpften erbittert. Als 1532 Francisco Pizarro das Inca-Reich erreichte, war es bereits stark geschwächt und daher leichte Beute für die Invasoren. Den Niedergang von Nokia beschleunigte der Richtungsstreit in der Führungsetage unter Olli-Pekka Kallasvuo ab 2007, in dem Befürworter und Gegner einer Strategieänderung weg vom günstigen Handy und hin zum Smartphone sich gegenüberstanden. Und in beiden Fällen versanken die einst so mächtigen und scheinbar Unbesiegbaren innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit: hier die »Könige der Anden«, dort die Herrscher des Handy-Marktes. Kann es sein, dass mit einem grandiosen Aufstieg unweigerlich jene Hybris geboren wird, die den späteren Absturz schon vorprogrammiert?
Rasante Gipfelstürmer, schockierende Abstürze
Die Beschäftigung mit den umsatzstärksten Unternehmen der Welt lehrt Demut. Die erste globale »Fortune 500«-Liste des US-Magazins Fortune erschien 1990, basierend auf den Umsatzdaten des Vorjahres. Vergleicht man die Top Ten dieser Aufstellung mit den Spitzenreitern der 2000 und 2015 veröffentlichten Listen, gewinnt man einen ersten Eindruck, wie fragil außergewöhnliche Unternehmenserfolge sind. Nach zehn Jahren finden sich nur noch fünf der ersten Spitzenreiter unter den Top Ten (farbig hinterlegt), nach weiteren 15 Jahren sind es noch drei der 1990 platzierten (farbig hinterlegt).
Abb. 1: Die Top 10 der »Fortune 500«-Listen 1990, 2000 und 2015
Die Liste bildet auch die tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft ab: Wo noch 1990 die USA mit sechs Unternehmen dominierten, gefolgt von Japan mit zwei Organisationen, sind es 2015 noch ganze zwei US-Unternehmen und ein japanisches, dafür aber gleich drei aus der Volksrepublik China. Herausgefallen sind klangvolle Namen wie IBM (1990 das fünftgrößte Unternehmen der Welt; 2015 auf Rang 82) oder General Electric (2015 Rang 24). Der Spitzenreiter von 1990, General Motors, belegt 2015 Rang 21. Riesige Öl- und Gasproduzenten dominieren heute mit fünf der ersten sechs Plätze.
In der Welt der Wirtschaft gilt: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Der Erfolg von gestern ist kein Garant für den Erfolg von morgen. Leider gerät das in guten Zeiten offenbar fast automatisch in Vergessenheit und kann zu waghalsigen Manövern verführen. So ist das Gastspiel des deutschen Autobauers Daimler in den Top Ten des Jahres 2000 der Fusion mit Chrysler zu verdanken, laut CEO Jürgen Schrempp damals eine »Hochzeit, die im Himmel geschlossen« wurde. Schrempps ehrgeiziges Ziel: die »Welt AG«, ungeachtet aller gängigen Erfahrungen mit der Schwierigkeit von Fusionen und ungeachtet der Skepsis der eigenen Händler. »Was wollen die bloß mit diesem amerikanischen Schrott«, zitiert die Süddeutsche Zeitung einen ratlosen Mercedes-Verkäufer. Er sollte recht behalten. 2009 endete die himmlische Ehe mit einer 40 Milliarden teuren Scheidung. Der Fall DaimlerChrysler ist ein Musterbeispiel für brachiale Egomanie eines Topmanagers und für eine verfehlte Merger-Strategie. Von diesen Fallstricken und der Schwierigkeit, ihnen auszuweichen, wird im achten Kapitel (»Ego schlägt Sache«) ausführlich die Rede sein. Denn vor »Ego-Tripping« ist kaum jemand gefeit, der es mit Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen bis an die Spitze geschafft hat. Die Frage ist: Wie gelingt die Gratwanderung zwischen Ehrgeiz und Egomanie, zwischen visionärer Kraft und Größenwahn? Wie verhindert man seine persönlichen »Indiana-Jones-Momente«?
Sie fragen sich, was dagegen sprechen könnte, dem beliebten Film-Abenteurer nachzueifern? Nun, nüchtern betrachtet ist der Archäologe Indiana Jones alles andere als ein Vorbild: Am Ende jeder seiner Reisen hat er zwar den begehrten Schatz gefunden, zugleich aber reihenweise zerstörte Tempel und Monumente hinterlassen. Wie der von Harrison Ford verkörperte Dr. Jones neigen auch viele Manager dazu, Eigeninteressen als Dienst am »großen Ganzen« zu verbrämen. So erweisen sie ihrem Unternehmen in Wahrheit einen Bärendienst. Wir wissen, wovon wir reden, und werden im letzten Kapitel von unseren persönlichen Indiana-Jones-Momenten berichten. Davor widmen wir uns im sechsten Kapitel der Frage, aus welchen weiteren Gründen zahlreiche Unternehmensfusionen ähnlich wie die von Daimler und Chrysler radikal scheitern und was moderne Unternehmensführer womöglich von den Incas und ihrer ausgeklügelten »Integrationspolitik« lernen können.
Zurück zu den Fortune 500. Die Automobilindustrie ist eine Branche, an der sich viele Abstiegsfallen illustrieren lassen. Dazu gehört das Thema Werte. Wie sich der Umsatz von Volkswagen, im Jahr 2015 Platz 8 der Fortune 500, angesichts des Abgasskandals entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Zumindest in den USA war der Absatz im Februar 2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat um satte 13 Prozent zurückgegangen.5 In US-Werbespots hatte VW seine Dieselfahrzeuge als super sauber präsentiert: Eine ältere Dame hält bei laufendem Motor ein schneeweißes Tuch vor den Auspuff, und das Tuch bleibt blütenrein. Wer so offensichtlich Werte-Kulissen bewegt, wird abgestraft (unser Thema in Kapitel 4). Dass Werte mehr sind als Textbausteine für Neujahrsversammlungen und Kick-off-Meetings, illustriert auch die Führungskultur von Volkswagen, die der Spiegel einmal als »Nordkorea minus Arbeitslager« beschrieb.6 Wo alle vor dem Herrscher zittern, kann es den Kopf kosten, wenn man gesetzte Ziele zu den gesetzten Kosten nicht erreicht. Also wurde geschwiegen und getrickst, und der Konzern muss jetzt mit weitaus höheren Kosten für den daraus resultierenden Betrug rechnen. Fatalerweise setzte sich das Werte-Dilemma bei VW auch nach Entdeckung der »Schummel-Software« fort: So bestand das Topmanagement im Frühjahr 2016 auf Millionen-Boni, während Mitarbeiter längst um Arbeitsplätze bangten und Einschnitte hinnehmen mussten. Dabei zeichnet sich ab, dass immer häufiger Managementerfolge nachträglich neu bewertet und Forderungen nach Rückzahlung von Boni laut werden. Offenbar ist es schwierig, auf Top-Ebene die Bodenhaftung zu behalten, wenn einem kaum noch jemand unangenehme Wahrheiten sagt. Wie umgeht man diese Falle?
Darüber hinaus gibt es noch weitere Komponenten des Unternehmenserfolgs, die wir in diesem Buch auf den Prüfstand stellen: Wann gehen die gern pathetisch beschworenen Unternehmensvisionen nach hinten los (Kapitel 1)? Wieso gelang den Incas über viele Jahrzehnte, woran viele Unternehmen scheitern: tatsächlich die Talentiertesten mit Führung zu betrauen (Kapitel 2)? Was zeichnet glaubwürdige Führung aus (Kapitel 3)? Wie vermeidet man ruinöse Machtkämpfe, die nicht nur das Inca-Reich zu Fall brachten, sondern bis heute Unternehmen gefährden? Und wie bewahrt man nüchterne Urteilskraft angesichts der oft interessegeleiteten und daher tendenziösen »Briefings« anderer? Auch in diesem Punkt stimmt die Geschichte der Incas oder besser gesagt unser Blick auf diese nachdenklich: 500 Jahre lang wurde das Bild der Incas durch katholische Missionare und gierige Eroberer geprägt, Eindringlinge, die ihr brutales Vorgehen durch die Abwertung einer vermeintlich »primitiven« Kultur rechtfertigen mussten. »Wer erzählt mir was mit welchen Hintergedanken?«, lautet eine Frage, die sich auch im Unternehmensalltag regelmäßig zu stellen lohnt (vgl. Kapitel 7 »Urteilskraft«).
Eine »Logik des Niedergangs«?
»Nichts ist so beständig wie der Wandel«, stellte der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus schon vor rund zweieinhalb Jahrtausenden fest. In der Bibel warnt Joseph den Pharao, dass auf »sieben fette Jahre« sieben magere folgen werden (1. Mose 41). Auf mittelalterlichen Darstellungen dreht Fortuna das Glücksrad, unerbittlich und ohne Ansehen der Person. Die Botschaft: Wer gerade noch oben auf ist, dessen Schicksal kann sich schon bald wenden. Fortuna befördert ihn unaufhaltsam nach unten, immerhin mit der Chance, irgendwann wieder obenauf zu sein. Auch Goethe glaubte offenbar nicht an stabiles Glück: »… alles muss in Nichts zerfallen, / wenn es im Sein beharren will«, dichtete er und empfahl »umzuschaffen das Geschaffne, / damit sich’s nicht zum Starren waffne«.7
Der Gedanke der Wankelmütigkeit des Erfolgs ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Für Unternehmen heißt das: Kometenhafte Aufstiege sind jederzeit möglich, aber auch rasante Abstürze. Dazu muss man nicht den modischen Hinweis auf »disruptive« Technologien bemühen; im Kern steckt diese Idee schon in Joseph Schumpeters bekannter (und mehr als 70 Jahre alter) These der »kreativen Zerstörung«. Danach wird der Kapitalismus durch Innovationen vorangetrieben – neue, bessere Verfahren und Technologien bedrohen fortlaufend die bestehenden, die Spielregeln der Produktion ändern sich. Auch der mechanische Webstuhl oder die Dampfmaschine waren so gesehen Auslöser einer »Disruption« und verschwanden nach einer weiteren Drehung des innovativen »Glücksrades«.
Wer bestehen will, muss sich daher rechtzeitig wandeln – nur was sich verändert, bleibt. Wir alle kennen Beispiele von Unternehmen, die den Zug der Zeit verpassten, unverdrossen Schreibmaschinen produzierten, während der Personal Computer Einzug hielt, auf mechanische Uhrwerke setzten, obwohl billigere Digitaluhren den Markt überschwemmten, usw. Neben solchen externen Faktoren können aber auch hausgemachte Fehler ein Unternehmen Talfahrt aufnehmen lassen, siehe DaimlerChrysler, Schlecker oder Volkswagen. Gilbert Probst und Sebastian Raisch von der Universität Genf haben in diesem Zusammenhang schon 2004 die Frage aufgeworfen, ob es so etwas wie eine »Logik des Niedergangs« gibt. Dazu analysierten sie die 100 größten Unternehmenskrisen der vorausgegangenen fünf Jahre in den USA und Europa, d. h. die fünfzig größten Insolvenzen sowie 50 Fälle, in denen Unternehmen binnen dieses Zeitraums mindestens 40 Prozent ihres Börsenwertes eingebüßt hatten. Probst und Raisch identifizierten vier Merkmale eines dauerhaften Unternehmenserfolgs:
starkes Wachstum,
Bereitschaft zur permanenten Veränderung,
eine starke (»visionäre«) Führung und
eine leistungsorientierte Unternehmenskultur.8
70 Prozent der scheiternden Unternehmen besaßen all das – jedoch im Übermaß. Zu schnelles Wachstum, hektische Veränderungsprozesse, übermächtige (starrsinnige) CEOs und eine »überzogene Erfolgskultur« führten diese Organisationen auf Dauer an den Abgrund. Eine extreme Erfolgskultur etwa, mit hohen Gehältern und Boni, schürt Konkurrenzdenken und Söldnermentalität. Geht es dem Unternehmen schlechter, verlassen davon angezogene Mitarbeiter eilig das sinkende Schiff und beschleunigen seinen Untergang. Extremes Wachstum ist häufig Folge zahlreicher Unternehmensaufkäufe in (zu) kurzer Zeit. Dies erschwert nicht nur die Integration, sondern bürdet den Käufern häufig hohe Schulden auf, die in umsatzschwächeren Zeiten zum Problem werden. Beispiele sind der US-Mischkonzern Tyco oder ABB. Unkontrollierter Wandel führt zur Orientierungslosigkeit auf allen Ebenen. Nach 60 Übernahmen und zahlreichen Restrukturierungen und Richtungswechseln wusste bei ABB zeitweise niemand mehr, wofür das Unternehmen eigentlich steht. Der letzte Sargnagel ist dann eine Führungsspitze, die den Ernst der Lage verkennt, weil der bisherige Erfolg sie selbstherrlich und blind für Gefahren gemacht hat. Das Unternehmen brennt aus, schlittert in die Insolvenz (wie etwa Enron nach einem Wachstum von 2000 Prozent in nur vier Jahren, von 1997 bis 2001) oder wird durch riesige Schuldenberge belastet (wie zeitweise British Telecom, Deutsche Telekom und France Télécom). Probst / Raisch sprechen vom »Burn-out-Syndrom«. Aktuellere Beispiele für dieses Syndrom wären die Porsche AG, die in den VW-Konzern eingegliedert wurde, nachdem sie sich selbst an einem Übernahmeversuch verhoben hatte, die wechselhafte Geschichte von Infineon, die Talfahrt von Valeant, die wir in Kapitel 6 analysieren, oder auch die Drogeriekette Schlecker, die u.a. an einer explodierenden Zahl von Filialen und einem beratungsresistenten Firmenpatriarchen scheiterte.
Der Absturz bis dato erfolgreicher Unternehmen ist also keine schicksalhafte Fügung, kein Produkt »äußerer Umstände« oder »disruptiver« Technologien, sondern oft Folge einer Kette interner Fehler, die in Summe – so Probst / Raisch – eine »Logik des Niedergangs« begründen. So weit, so schlecht. Und leider ist es nicht so, dass ein Unternehmen nur vom Gaspedal gehen muss, um auf sicherem Terrain zu bleiben. Die restlichen 30 Prozent der Unternehmen scheiterten an ihrer Trägheit und an zu schwacher und wenig entscheidungsfreudiger Führung. Frühvergreisung (»Premature Aging«) nennen es die Forscher, wenn Unternehmensumsätze stagnieren, Innovationen versäumt werden, Vorstandschefs Reformen blockieren und eine besonders fürsorgliche Unternehmenskultur notwendige personelle Einschnitte verhindert. Ihre Beispiele: United Airlines, Kodak, Xerox, Motorola. Idealerweise achtet ein Unternehmen also auf die richtige Balance: Es setzt auf gesundes Wachstum und auf einen stabilen Wandel, der den Mitarbeitern Veränderungen abverlangt, ohne sie zu überfordern. Es verhindert (außer in akuten Krisen) autokratische Führer und setzt auf Austausch und gegenseitige Kontrolle auch auf der Top-Ebene. Und es pflegt eine »wehrhafte Vertrauenskultur«, in der Leistung belohnt und Nichtleistung sanktioniert wird, ohne die Organisation in ein Haifischbecken zu verwandeln.9 Vom Topmanagement verlangt all das ein besonnenes und zugleich entschlossenes Handeln.
Doch so plausibel all diese Faktoren in der Rückschau wirken, so anspruchsvoll ist ihre Umsetzung im Unternehmensalltag. Wer vermag schon immer verlässlich zu sagen, ob man sich noch in der Phase gesunder Expansion befindet oder schon auf dem Weg zur Überhitzung? Oder ob die Unternehmenskultur noch ein akzeptables Maß an Wettbewerbsorientierung aufweist oder schon Söldnermentalität provoziert?
Hinzu kommt ein grundsätzliches Dilemma, auf das auch der Management-Vordenker Jim Collins in einem Aufsatz über den Absturz erfolgsverwöhnter Unternehmen hinweist (»How the Mighty Fall«10): Umsteuern muss ein Unternehmen (bzw. sein Management) schon, bevor die Missstände für alle offen zutage treten, also in einer Phase, in der scheinbar noch alles gut läuft. Dem steht aber die menschliche Psyche entgegen, wie Probst / Raisch einräumen, die sich schwer damit tut, eine Strategie »bereits zu einem Zeitpunkt [zu] ändern, zu dem diese (zumindest vordergründig) noch erfolgreich ist«.11 Von den Incas hätte dies beispielsweise erfordert, ihre rastlose Expansionsstrategie schon zu verlangsamen, bevor ihr Reich durch zunehmende Widerstände schwerer regierbar wurde. Oder von großen Versendern wie Quelle oder Neckermann, sich schon um das Online-Geschäft zu kümmern, als das Bestellen per Katalog ihnen noch satte Umsätze und Gewinne bescherte.
Collins’ Analyse der Faktoren, die mächtige Unternehmen zu Fall bringen, überschneidet sich übrigens stark mit der seiner Genfer Kollegen. Der US-Berater nennt auf der Basis der Auswertung von zusammen 6000 Jahren Unternehmensgeschichte die »Hybris« erfolgsverwöhnter Manager, die Gier nach mehr Macht, Umsatz und Größe und das Verleugnen von Risiken und Gefahren als Komponenten des Niedergangs. Lässt sich die Misere nicht mehr ausblenden, folgen hektische Rettungsversuche und schließlich Resignation. Doch auch Collins blickt aus sicherer Entfernung auf die Vergangenheit. Die eigentlich spannende Frage ist: Wie erkennen wir als Verantwortungsträger im Unternehmensalltag die ersten, noch schwachen Warnsignale? Wie steuern wir im Vorfeld der Logik des Niedergangs gegen? Wie schärfen wir unsere Sinne, wie blicken wir hinter die Kulissen des Tagesgeschäfts? Diesen (und weiteren) Fragen sind die folgenden Kapitel gewidmet. Die jeweils wichtigsten Erkenntnisse eines Kapitels bündeln wir am Ende zu einem »Inca-Impuls«. Fangen wir gleich damit an!
INCA-IMPULS
•Der Moment der größten Stärke und des größten Erfolgs ist zugleich der Moment der größten Verletzbarkeit.
•Analysieren Sie Ihre »offenen Flanken« – vor allem dann, wenn Sie sich unbesiegbar fühlen!