Kitabı oku: «Die Erinnerten», sayfa 2
»Wo läufst denn du hin, Johann, du läufst ja rauf? Runter zum Bären müssen wir!«
Johann antwortete nicht, war schon längst hinter dem vorbeilaufenden Alfons über die Kirchengasse und weiter die Bildgasse rauf. Wie ein Gehetzter kam er sich vor. Er riss seinen linken Arm vor, zeitgleich stieß er seinen rechten Fuß nach vorn, ein Bein am Boden, eines in der Luft, Bewegung ist Kraft mal Wille und – zack – jetzt der rechte Arm, das linke Bein – zack – der heiße Rhythmus eines Sklaven auf der Flucht, aber wohin, wohin? Sein Kopf pulsierte, diese Hitze innen und die ansetzende Feuchtigkeit im Nacken, bei den Achseln, der ganze Rücken, der Druck auf den Schläfen, der Schweiß, der ihm von der Stirn zu rinnen begann, und dieser sanfte Wind, der ihm angenehm ins Gesicht fuhr – zack – zack – er sprang vom Gehsteig, blickte nach hinten: Kann sein, kann es sein, dass mich jemand verfolgt? Ein weiterer tanzender Umriss, der unten die Kirchengasse runterlief, mit einer Rute, mit einem Stock, war das einer von uns, einer von denen?
Er spuckte aus, bog links um die Ecke, ein unerwarteter Zusammenprall, ein kurzer Rempler, leichte Rückenlage, er ruderte mit den Armen, drehte die Hüfte, stieß den rechten Fuß in ein schlammiges Loch, rutschte, setzte nach, glitt, machte Tempo, trat in eine Lache – aus einer schwierigen Situation Geschwindigkeit machen, alles zu seinen Gunsten drehen, das ist die hohe Lebenskunst. Im Rutschen Tempo machen. So ist das fliehende Kämpferherz, kam ihm kurz in den Sinn, als er mit den Armen ruderte.
Er zog mit der linken Schulter das Sakko, das ihm im Drehen und Winden über die Schulter gerutscht war, wieder nach oben, riss den Kopf in die neue Richtung, sprang über ein Mäuerchen, stand in einer Wiese, sprang wieder zurück auf die Straße, vollendete die Kurve und rannte plötzlich wieder runter. Nur nicht die Dorfgasse, wenn sie mich da sehen, ist es aus, dachte er, beim Haus vorbei, über einen Zaun, er holperte einen kleinen Abhang hinunter, stampfte und bremste mit dem linken Fuß auf einem Maulwurfshügel, kippte mit dem Oberkörper nach vorn und sprang, um den Schwung nicht zu verlieren, über eine kleine Kuppe, ein, zwei Meter, stieß bei der Landung mit beiden Fersen in die Wiese, in den Hang, die Taschen des Sakkos flogen auf beiden Seiten nach vorn und hinauf. Das Taschenmesser, das in ein Taschentuch gewickelte Taschenmesser, schlug an seine Hüfte, er spürte es, dann rutschte er, die Hände am Boden, den Hintern auf Grashöhe, richtete sich auf, er fand den Tritt wieder und ritt in springenden Schritten die Wiese hinunter. Von hinten hörte er plötzlich jemanden schreien: »Bleib stehen, du Trottel! Was ist denn los? Was rennst denn so? Ist der Teufel hinter dir her?«
Dann der Zaun. Der ist zum Überspringen, der ist zu schaffen. Mit Schwung. Nur mit Schwung. Wer vor einem Hindernis stehen bleibt, hat verloren. Das ist eine alte Weisheit. Hindernisse nur im vollen Lauf, mit Geschwindigkeit. Der Schwung. Das ganze Universum würde in sich zusammenfallen, würde es nicht pausenlos rennen. Alles läuft, alles läuft wie geschmiert. Wohin nur? Es dämmerte bereits. Die Sonne stand schräg über dem Oberinntal. Ein Licht wie gelbes Feuer. Schatten. Die Schatten der knorrigen Obstbäume. Ein Baum stand genau vor dem Zaun und der Ast ragte hinüber, zeigte in voller Blüte auf Innsbruck hinunter, dass alles kräftig ist, treibt und wächst. Nichts machte es dem Baum, dass die Bretter an seinem Stamm festgenagelt wurden, er zu einer Zaunstütze wurde. Das hinderte ihn kein bisschen daran, im Frühling zu blühen und Früchte zu tragen, aber wie jetzt? Der Zaun, der Baum, springen? Hechten? Durchrollen? Seitensprung? Alles Möglichkeiten, und plötzlich ein erstes Brennen in den Oberschenkeln. Zu leicht wäre es, gäbe es immer nur eine Möglichkeit zum Weiterkommen, aber meistens, und das ist das Schwierige, gibt es zwei, drei. Daran scheiterten die Menschen. Selten an der Ausweglosigkeit. Selten landeten sie in einer Sackgasse. Meist waren es die freien Felder, die Wüsten, das offene Meer, wo sich die Menschen verliefen. Im Gebirge ist die Anzahl der Wege überschaubar. Das ist es, was er mochte. Eine überschaubare Anzahl von Möglichkeiten.
Er entschied sich, ohne weiter zu überlegen. Er war instinktiv, elegant, geschmeidig und sah eine leichte und erfrischende Variante. Er griff mit der linken Hand auf die oberste Latte des Zauns, beugte sich mit dem Schwerpunkt auf der linken Seite nach vorn, stieß ein Bein auf den Stamm, setzte das zweite nach, lief ihn mit ein, zwei Schritten hoch, streckte den linken Arm durch, der ganze Körper stieg immer weiter empor, bis er knapp über dem obersten Zaunbrett angelangt war – und jetzt sprang er schließlich drüber, mit der linken Hand am Zaun, der rechte Arm wehte durch die Luft. So landete er mit beiden Beinen parallel auf der anderen Seite. Elegant. Doch der Untergrund war weich. Richtig weich war er nur auf der rechten Seite, eine Mulde gab es da, und Johanns rechter Fuß, sein Talfuß, gab nach, sein Knie, sein Talknie gab nach, seine ganze rechte Seite, seine Talseite, wurde weich und sackte ein, als er in dem Moment nach links oben, zum Zaun und zum Obstbaum und den ganzen Hang hinaufblickte, da sah er zwei, drei Gestalten ebenfalls die Wiese hinunterpoltern wie eine Herde wild gewordener Ochsen, schnaubende und stöhnende Körper, die außer Tritt geraten waren, die den Hang heruntersprangen und -rutschten.
Scheißdreck! Verfluchter Scheißdreck!, dachte sich Johann. Klare Worte kamen ihm durch den Kopf. Doch er fing sich wieder. In der Furcht lernt man laufen.
Runter. Jetzt nur noch runter. Er überquerte einen weiteren Weg, dann über die nächste Wiese, stolpernd, jagend, was die Beine hergaben, was der Boden zuließ. Wir sind nichts weiter als Geröll am Abhang. Die ganze Menschheit, eine einzige Lawine, die alles zudrückt und unter sich vergräbt. Die großen Zeiten sind große Katastrophen, dachte er sich, und dann sah er diese Kleinigkeit, dass sich auf den letzten Metern sein Schuhband geöffnet haben musste, die beiden Bänderhälften schlenkerten wild durch die Gegend. Albtraum. Bei dieser Geschwindigkeit den Hang runter, in einem solchen Lauf offene Schuhbänder, da war ein Sturz vorgezeichnet, das war wie das »Bitte Lächeln« beim Fotografen, und dann Puff! Das ist wie im Bilderbuch, wie es Vater, Mutter, Oma, Opa, alle Verwandten, sogar die Nachbarn, alle erwachsenen Menschen immer berichtet hatten, das sich immer irgendwie zeigte und unausweichlich war.
Und jetzt waren seine Schuhbänder offen. Wie irre schwangen die beiden Enden der Bänder links und rechts über den linken Schuh. Was sollte er tun? Da kam schon die nächste Querung, ein Weg, davor eine Senke. Es drückte ihn rein, links weiter, straucheln, rutschen, in die Knie gehen, ausgleichen, die Arme links, rechts, rudern, Flügel schlagen, es geht weiter, alles stabil. Er lief die Straße nach oben, eine kleine Steigung, riss das linke Bein hoch. Er sprang, so gut es ging, mit dem rechten weiter, auf einem Bein hüpfte er die Straße entlang, mit kräftigen Sprüngen, das linke Bein angewinkelt, sein Körper leicht vorgebeugt, hochkonzentriert, hüpfend, in gleichmäßiger Fortsetzung seines springenden Rhythmus’: Nur nicht das Gleichgewicht verlieren!, und mit den Händen schnell, aber ohne Hektik, mit Ruhe, die beiden Enden des Bandes wieder zu einer Masche bringen, mit geschickten Fingern, sie verknoten und dabei das rechte Bein mit voller Kraft vorwärts stoßen, mit laut aufschlagender Sohle – und fertig! Beide Beine wieder am Boden, rechts hinunter, wieder in der Dorfgasse, ein guter Laufweg, fester Boden, vorbei am ersten Bauernhaus, seitlich der Garten, wie schön es wächst!
Doch plötzlich sah Johann einen Kuhkopf und dachte an Goebbels. In dem Moment, als dieses Rindvieh den Kopf aus seiner Koppel streckte, in seine Laufbahn hinausstreckte, und er die braunen Kuhaugen erblickte, dachte er an Goebbels. Kuh – Goebbels – Rindvieh – braune Augen, wie kam der Goebbels jetzt hierher? In seinen Gedanken dieser Goebbelskopf mit spitzem Kinn, breiter Stirn, und hier dieser lange Kuhschädel mit den großen Augen und rosa Nüstern, und da vorne, was stehen da so viele Menschen, Uniformierte überall … dieser Kuhkopf von Goebbels …
Ganz verwirrt war der Johann, ausgelaufen war sein Verstand vom vielen Rennen. Von Beginn an hatte ihn die Furcht weggetrieben von der Gruppe, den Berg hinauf, und der Wahn jagte ihn nun wieder hinunter. Wie blind hetzte er auf Wegen, die ihn wegführen sollten und doch wieder zurückführten. Zunächst erkannte er es gar nicht. Er sah den Kuhschädelgoebbels wie ein riesiges Bild vor sich, als er weiter die Dorfgasse hinunterlief, ohne zu beachten, dass sie vorne ja in die Schneeburggasse führte, genau dort, wo das Gasthof Goldener Bär war. Ein paar Schritte noch, vor ihm eine riesige Menschenmenge, die er nicht sah, die Polizei, Arbeiterinnen und Arbeiter, die herumstanden, schreiend, in Hektik, und Hakenkreuzler, die brüllten, im Chaos, und Johnann lief plötzlich nicht mehr weg, sondern direkt auf das Gasthaus zu, mitten in die Menge hinein, doch er sah nichts, hatte die Dorfgasse bereits verlassen und querte die Schneeburggasse wie blind. Aber jetzt, jetzt riss er doch die Augen auf und sah, wo er angekommen war, wollte abdrehen, stehen bleiben, rutschte und stieß mitten in die Annemarie.

So lernten sie sich kennen, die Annemarie und der Johann. Es war natürlich nicht Liebe auf den ersten Blick, aber dieser Zusammenstoß beeindruckte beide. Annemarie war zuerst recht verärgert, als dieser junge, keuchende und schwitzende Mann an ihr klebte, und Johann war es zunächst unangenehm, von einer Frau so abgebremst zu werden. Lieber wäre er in eine Mauer gelaufen. Aber sie kamen ins Reden. Annemarie erzählte, was so vorgefallen war, wie sie die Hakenkreuzler verprügelt hatten, und Johann spielte den Verärgerten, der trotz der Eile zu spät zur Auseinandersetzung gekommen war. Am nächsten und auch am übernächsten Tag trafen sie sich wieder. Der Vorfall beim Gasthaus Goldener Bär, der sich noch über Stunden hinzog – spätabends kam es sogar in Innsbruck noch zu weiteren Auseinandersetzungen –, war auch Tage später noch in aller Munde und ging schließlich als Höttinger Saalschlacht in die lokale Geschichte ein. Ein SA-Mann kam bei der Saalschlacht durch ein Messer zu Tode und wurde in einer groß angelegten Trauerfeier zu Grabe getragen. Beide Seiten hatten einige Verletzte, und etliche mussten ins Krankenhaus. Thusnelda blieb eine Narbe an der Stirn. Der Tiroler Landeshauptmann Dr. Stumpf verurteilte die Ereignisse und sprach von einer schweren Schädigung des Tiroler Fremdenverkehrs und der Tiroler Wirtschaft und von seiner Entschlossenheit, derartige Katastrophen zukünftig zu verhindern. In den Augen der Christlichsozialen und der Nazis lag die Schuld bei den marxistisch verhetzten Arbeiterinnen und Arbeitern und bei ihrem Anführer, dem Kuprian.
Annemarie und Johann saßen am darauffolgenden Sonntag oben beim Planötzenhof und lasen die Zeitung. Sie schimpfte über die Berichterstattung der »Innsbrucker Nachrichten«, bezeichnete es als Naziblatt und meinte, dass die Hahnenschwanzler auch noch draufkommen würden, dass mit den Hitleristen nicht anders umzugehen sei. Johann stimmte ihr zu und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass man sich noch irgendwie mit allen einigen könnte. Das hatte der Kuprian später auch gemeint. Und als Johann über das Inntal schaute, mit dem schönen Innsbruck und den Bergen rundherum, manche waren noch etwas angezuckert, und er die Annemarie reden hörte, wie sie von der Befreiung der Frauen redete und der Sexualität, da freute er sich schon auf den Sommer.
1.
Das war der Tag der Höttinger Saalschlacht, und in diesem Moment trafen sich die Wege von Annemarie und Johann zum ersten Mal. Sie stießen zusammen, verknäulten sich, und von diesem Zeitpunkt an waren ihre Lebensfäden miteinander verwoben. Von hier nahm auch mein Leben seinen Ausgang. Nun, nicht direkt, aber es ist mir wichtig, von hier zu beginnen, um meine Geschichte zu erzählen. Es wird nicht meine persönliche sein, denn meine eigene Lebensgeschichte spielt keine Rolle mehr.
Es geht mir um die Geschichte meiner Eltern, um die Geschichte dieser Stadt, wie sich die Gesellschaft in diesen Breitengraden entwickelt hat. Ich möchte erzählen, was sich hier zugetragen hat, da ich in den letzten Jahren meines Lebens so viele Ähnlichkeiten in einzelnen gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen habe. Ich befürchte, dass es wiederkommt. Es geht dabei nicht um mich, denn für mich ist es zu spät. Ich habe die Auswirkungen des Faschismus gesehen und jene des Nationalsozialismus, und wir alle wissen, dass sie brutal sind und tödlich. Für sehr viele. Ich habe lange nicht gewusst, was es braucht und wie man sein muss, damit man das mitmacht. Es ist nicht viel. Es braucht so wenig, und man ist dabei – und so viel, um dagegen zu sein.
In den letzten Jahren sind mir einige Dinge durch den Kopf gegangen. Mir wurde immer mehr bewusst, wie sich vieles verändert hat. Nicht nur, dass ich älter und gebrechlicher wurde, sondern rund um mich entstand eine neue Zeit. Damit meine ich gar nicht nur die technischen Entwicklungen, die meine Gegenwart so anders als jene meiner Jugend oder Erwachsenenzeit erscheinen ließ. Ich meine die soziale Sicherheit, den aufkommenden Wohlstand, mit dem ich aufgewachsen und groß geworden war, den ich erlebt und so gut gekannt hatte. Diese Errungenschaften – und das waren sie für mich – wurden für immer weniger Menschen erreichbar. Mir wurde bewusst, dass wir, also die Generation, der ich angehörte, auf Pump lebten. Dass wir von der Zukunft einen Kredit genommen hatten und dass dieser zurückbezahlt werden musste.
Der Wunsch, davon zu erzählen, meine Eindrücke, Erfahrungen und Befürchtungen mitzuteilen, hat sich über die Jahre immer wieder bemerkbar gemacht. Und doch habe ich ihn so lange zurückgehalten. Immer, wenn sich dieses Bedürfnis zu reden, zu erzählen in mir aufgebaut hatte, stellte ich alle möglichen Dinge, Gründe und Bedenken darauf ab, bis es wieder verschwand. Also habe ich bis zum Schluss, bis zum Ende meines Lebens mit niemandem darüber gesprochen.
Vor drei Tagen wurde ich begraben. Als ich verstarb, konnte ich auf ein langes Leben zurückblicken. Meine Beerdigung, die ergreifenden Abschiedsworte, das viele Schwarz und die Tränen, das hatte mich berührt und nachdenklich gemacht, und plötzlich gab es nichts mehr, was draufzuschieben und zu stellen war, und da wusste ich, dass ich nun in die Erinnerung greifen und heben muss, was es noch zu erfassen gibt.
Zuvor kam mir bereits die Einsicht, dass sich die Zeit nicht nur vorwärts bewegt, sondern in ihrer Bewegung auch immer wieder Geschehnisse aufgreift, die vergangen sind. Ich stelle mir das wie bei einem Wasserrad vor, das stets von Neuem in den Fluss des Lebens hineingreift und Dinge und Menschen emporhebt, die schon einmal da waren. Ich weiß nicht, wie ich das besser ausdrücken kann. Ich versuche, es noch einmal anders zu sagen: Ich sah einzelne Personen und Figuren bereits zu meinen Lebzeiten immer wieder auftauchen und auch wieder verschwinden, und mich hat das nie wirklich beunruhigt. Die Herrschsüchtigen, die Quäler und Sadisten, die Hochstapler und all die Schnösel, Blender und Prahler. Aber heute, so scheint es mir, werden alle gleichzeitig emporgehoben und bestimmen über weite Teile unseres Lebens. Als würde unsere Zeit, die eine schwierige ist, weil sie irgendwie an einem Kipppunkt liegt, genau diese Kräfte wieder anschwemmen. Die Aussicht auf ein gutes Leben für alle Menschen zieht sich zurück, und angespült wird eine neue Form von Elend und Endzeit, Wut, Hass und Unsicherheit.
Ich verstehe nicht viel von Politik und bin grundsätzlich der Meinung, dass sich die Politik an der Zukunft orientieren soll. An der Jugend, damit diese überhaupt eine Zukunft haben kann. Ich weiß, dass das eine Binsenweisheit ist. Ich weiß auch, dass das alle behaupten. Niemand sagt ja: »Ich bin gegen Zukunft. Ich will, dass die kommende Generation den ganzen Dreck abkriegt.« So redet ja keiner. Und Dreck sagen sie schon gar nicht. Alle reden darüber, dass sie die Welt wieder zukunftsfit machen wollen und so weiter. Aber das ist pure Phrasendrescherei. Darüber will ich auch keine weiteren Worte verlieren.
Aber seltsam ist: Schon als junger Mann habe ich, wenn ich an meine Zukunft gedacht habe, zurückgedacht. An einen Ort, den ich mochte, an den ich mich gerne erinnerte, und von dort aus habe ich mir die zukünftige Zeit vorgestellt. Ich war als Kind viel in den Wäldern und Wiesen der Umgebung. Auf einem kleinen Hang an einem Waldrand gab es einen großen und kräftigen Kirschbaum. Durch die leichte Schräglage war er einfach zu ersteigen, denn er hatte auch eine starke Astgabel, an der man sich gut hinaufstemmen konnte, und dann war der Stamm leicht zu erklettern bis zu einer anderen Gabel, die eine ideale Sitzgelegenheit bildete und von der man einen wunderbaren Blick auf die Stadt hatte. Mein Ausblick. Manchmal war er blätter- und kirschenverhangen, jedoch war der Baum an dieser Stelle nicht so dicht verwachsen. Später habe ich sogar ein Sitzbrett in der Gabelung befestigt.
Stunden verbrachte ich dort und lauschte den Geräuschen der Vögel, dem Glockenspiel der Kühe, der Stadt mit ihren Motoren, sah zu, wie aus den Ruinen wieder Häuser wuchsen, sich die Stadt auszubreiten begann und die Jahreszeiten ins Land zogen. Von dort aus, von diesem Baum aus, erdachte und erträumte ich mir meine Zukunft, sowohl als Kind als auch später, als ich schon längst erwachsen war und woanders lebte. Nur von diesen Baum aus konnte ich mir eine Zukunft überhaupt erst vorstellen.
Gleichzeitig ist es nicht gut, sich oder irgendetwas anderes nur in der Vergangenheit zu suchen. Mit dem Blick nach hinten wird es schwierig, voranzugehen. Meistens ist das, was aus der Vergangenheit so golden glänzt, nichts weiter als eine Sinnestäuschung, da das Licht in einem zu spitzen Winkel darauf scheint. Wie beim Sonnenuntergang.
Wie beim Gehen sollten sich Zukunft und Vergangenheit hin und her bewegen. Ein Bein ist hinten und das andere ist vorn. Daraus resultieren die Bewegung und die Zeit. Nur wenn wir die Vergangenheit nicht verstehen, laufen wir Gefahr, das zukünftige Leben zu eliminieren, zu zerstören. Sie haben richtig gelesen. Bei meinem Begräbnis wurde mir bewusst, dass die Gegenwart den Weg der Zerstörung geht. Sie eliminiert Zukunft.
Doch die Gegenwart erscheint uns stets als vollkommen normal und gewöhnlich. Es gibt gute und schöne Zeiten, dann gibt es schwere Zeiten der Krisen und Spannungen, aber man gewöhnt sich schnell daran. Entlang der vielen Ereignisfäden bekommt alles einen Schein von Normalität, bis wir dann das Teppichmuster betrachten. Dann sehen wir es. Nur, wer schafft es schon, aus der Gegenwart aufzustehen und alles zu überblicken? Dafür reicht auch kein Baum, und sei er noch so groß.
Dennoch, auch schon als junger Mensch hatte ich immer wieder das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Zwar verschwand dieses Gefühl später wieder, jedoch in den letzten Jahren meines Lebens kehrte es wieder zurück. Es wurde sogar stärker. Es passte nicht mehr zusammen. Hundert Puzzlesteine aus hundert verschiedenen Bildern.
Das hatte nichts mit Pessimismus zu tun, mit meinem Alter oder der Tatsache, dass ich mein Lebensende schon anrücken sah. Meine Mutter hat immer gesagt: »Es wird schon werden.« Das war ihr Spruch, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Es wird schon. Im Grunde hatte ich nie wirklich an ein Ende gedacht.
Erst jetzt, wo ich tot bin, sehe ich klarer. Erst durch mein Sterben konnte ich den Mut fassen, darüber zu reden, damit Sie selbst die Rückschlüsse zu den Geschehnissen in Ihrer eigenen Zeit ziehen können. Erst jetzt habe ich die Unbeschwertheit, darüber zu reden, wie es sich damals ereignet hat. Wie sich meine Eltern im Faschismus bewegten und später im Nationalsozialismus. Wie sie ein Teil davon wurden. Ich werde ein paar Episoden herausgreifen. Jene, von denen ich mir denke, dass ich sie unbedingt erzählen muss, da sie etwas zeigen und vielleicht auch unterhaltsam sind. Ich setze mit einem Tag im Sommer 1934 fort.