Kitabı oku: «Die Erinnerten», sayfa 3
1. AUGUST 1934
Es war eine gute Idee, sich wieder mal gemeinsam zu amüsieren. Ob die Preise des Konzertabends mit Charly Gaudriot wegen der Vorfälle der letzten Woche gesenkt wurden, damit sich die Leute unbeschwert vergnügen konnten, war nicht auszuschließen. Annemarie vermutete es. Es kam ihr auch gelegen, denn mit dem Geld war das gerade so eine Sache.
Vor allem war es eine gute Gelegenheit, sich mit Thusnelda zu treffen. Sie hatten einander einige Monate nicht mehr gesehen. Etwas war passiert, und damit meinte Annemarie nicht die Hochzeit von Thusnelda und Romed und dass sie vor zwei Monaten einen weiteren Sohn bekommen hatten. Den kleinen Romed. Nein, es war etwas anderes. Annemarie wusste nicht genau, woran es lag. Vielleicht war es nur eine kleine Verschiebung, in den letzten Monaten war viel passiert und es hatte sich einiges verändert. Vielleicht war es aber auch nur eine Phase und es würde bald wieder so sein wie vorher. Die Hoffnung war, dass der Tanzabend die vollkommen aufgeraute Zeit wieder glätten könnte.
Dass beide, Thusnelda und ihr Gefährte Romed, zugesagt hatten, war eigentlich ein gutes Zeichen. Den kleinen Romed konnte sie für den Abend zu Antonia geben. Einer Freundin, die Annemarie kannte und auch mochte, aber ebenfalls seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Und das, nachdem sie sich mit Thusnelda über eine lange Zeit, es waren sogar fast zwei Jahre, mindestens ein bis zwei Mal in der Woche getroffen hatte. Da waren die Ausflüge, die sie in einer Gruppe mit anderen Freunden und Freundinnen unternahmen, gar nicht miteingerechnet. Nach Bregenz an den Bodensee fuhren sie, sogar nach Meran, und Wanderungen unternahmen sie, die zwei, drei Tage dauerten, mit Hüttenübernachtungen. Einmal gingen sie ins Landestheater, eine Oper anschauen. Aber meistens waren es Spaziergänge am Inn oder durch den Burggarten. Sie redeten viel, sehr viel. Annemarie wurde manchmal richtig schwindlig. Denn Thusnelda hatte einen ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Das hatte sie von Anbeginn fasziniert. Bei ihr gab es keinen Herrgott, der dieses oder jenes machen würde. Bei ihr gab es nichts, das sie nicht tun konnte, weil sie eine Frau war. Ihr war es egal, ob sich etwas nicht gehörte oder schickte. Wenn etwas ethisch vertretbar war, ließ sie keine Einwände gelten, und das oberste ethische Gebot war die Gleichheit, gleichauf mit der Gerechtigkeit. Das war nicht selbstverständlich, denn vieles durften Frauen einfach nicht. So durfte die Frau vom Kuprian, die Maria, zum Beispiel nicht mehr als Lehrerin arbeiten, da sie verheiratet und Unterrichten für verheiratete Frauen verboten war. Und der Kuprian war ja nicht irgendwer, sondern ein Gemeinderat. Und solche Sachen gab es viele.
Annemarie hatte sich als junges Mädchen wahnsinnig für Medizin interessiert. Sie hatte auch immer Ärztin werden wollen. Kinderärztin. Aber das war unmöglich. Nicht nur, dass sie sich das sowieso nicht leisten konnten, der Vater verbot ihr auch, von solchen Dummheiten überhaupt zu reden. Dabei kannte sie sich mit 14 Jahren besser bei der Anatomie aus als Doktor Berner von Hötting. Der verwechselte nämlich immer die Leber mit der Niere und antwortete bei Fragen stets: »Ach, das geht vorbei. So oder so.« Als ihre Mutter so schwer mit Fieber im Bett gelegen war, hatte der Berner auch nur gewusst, dass es so oder so vorbeigehen würde, und sie pflegte dann die Mutter wieder gesund. Dennoch meinten alle damals, dass das eine hirnrissige Idee sei. Sie und Ärztin. Thusnelda war die Erste, die sagte, dass sie eine wunderbare Kinderärztin geworden wäre und es eine fabelhafte Idee gewesen sei. Aber, das meinte sie auch, dass es bei ihrer Herkunft schwer zu erfüllen sei. Hebamme oder Krankenschwester, das sei für Frauen aus ihrem Stand möglich, aber weiter würde es kaum gehen. Dann erzählte sie ihr, dass auch sie selbst nicht studieren konnte. Dass es ihr nicht erlaubt wurde, obwohl sie unbedingt wollte und aus einer bürgerlichen Familie kam und sich der Vater sehr liberal gegeben hatte. Zumindest nach außen.
»Wir müssen noch viele Hindernisse aus dem Weg räumen, bis wir Frauen so werden können, wie wir es uns vorstellen.« Diesen Satz schrieb sich Annemarie zu Hause auf, denn es gibt Sätze, die eine Hebelwirkung besitzen und Lasten, die man im Kopf hat, wegkippen können.
»In der Sowjetunion«, so erzählte sie ihr auch, »marschierten Frauen an der Spitze der Revolution mit und kämpften Seite an Seite mit den Männern und sind ihnen heute in allen Belangen gleichgestellt. Kolontai« – den Namen wiederholte sie immer wieder – »das ist eine unerschrockene Genossin. Von ihr können wir alle viel lernen. Dort, in der Sowjetunion, könntest auch du auf die Universität gehen, wie jede andere Arbeiterfrau auch. Dort könntest du ohne Probleme Ärztin werden.«
Aber nicht nur von der Sowjetunion erzählte sie ihr, sondern auch von Wien, der Hofburg und dem Prater mit dem Riesenrad, von dem man die ganze Stadt überschauen kann.
»In Wien findest du Menschen aus ganz Europa«, meinte sie, »wenn du da mit der Straßenbahn fährst oder durch die Straßen gehst, hörst du Menschen in allen möglichen Sprachen reden. Denn jede Großstadt wird aus den Trümmern des Turms zu Babel gebaut. Jeder Ziegel ist wie ein Wort aus einer anderen Sprache. Das macht die Schönheit einer Großstadt aus.«
Annemarie begann zu überlegen, wie viele Wörter anderer Sprachen sie kannte. Allzu viele fielen ihr nicht ein. Shalom und Bale. Das eine sagen die Juden, das andere die Jenischen. Friede und Kopf.
Dass es viele mehr waren, erfuhr sie dann von Marinus. Der zählte, nachdem sie ihm von Wien und dem Turm von Babel erzählt hatte, einen ganzen Abend lang Wörter auf. Die meisten davon kannte sie sogar, und er sagte dazu, aus welchen Ländern und Sprachen sie kommen. Aus dem Italienischen, Lateinischen, Griechischen, oder wie das Wort Rendezvous, das ursprünglich aus dem Französischen kommt. An diesem Abend war ihr, als wäre die ganze Welt zu Gast in ihrem Kopf.
In manchen Nächten, wenn Thusnelda ihr wieder einen ganzen Nachmittag von Wien erzählt hatte, träumte sie von dieser Stadt, den riesigen Häusern, die Bergen gleich in den Himmel ragten und den vielen verschiedenen Menschen, die in fliegenden Straßenbahnen durch die Straßen fuhren und auf breiten Gehsteigen gingen, von der Oper ins Theater, und wenn sie etwas kaufen wollten, spuckten sie einige Worte in die Faust und legen sie auf den Ladentisch. Ein paar Strümpfe kostet zum Beispiel ein amerikanisches ›Hello, how are you?‹.
Aber vor allem die Größe faszinierte sie: »In der Leopoldstadt«, so erzählte Thusnelda, »leben mehr Menschen als in ganz Innsbruck, und die meisten davon sind Juden«, fügte sie lachend hinzu. Annemarie schreckte es richtig. Sie konnte sich das gar nicht vorstellen, wie das gehen sollte. So viele Juden. In Innsbruck gab es zwar auch welche, aber bis auf die vom Bauer und Schwarz, also die vom Kaufhaus, kannte sie keine. Zumindest nicht bewusst. Sie kannte sie hauptsächlich aus der Zeitung, den »Innsbrucker Nachrichten«, denn dort wurde viel über das Problem mit den Juden geschrieben. Auch einige Professoren von der Universität warnten davor. Dass sie die Heimat zerstören würden und für unser Unglück verantwortlich seien. Da war sie richtig überrascht, als ihr Thusnelda erzählte, dass das eine Lüge sei. Richtig streng wurde sie dabei. Zwar gebe es im Land viel Unglück, aber für dieses seien andere verantwortlich. Die Klasse der Kapitalisten.
Dass die Juden an allem schuld sein sollten, das war ihr immer schon komisch vorgekommen. Denn was konnten Bauer und Schwarz dafür, dass es anderen schlecht ging? Die machten ja auch nur ganz normal ihr Geschäft wie die anderen Kaufleute. Manche Dinge waren bei Bauer und Schwarz wirklich günstiger, und wenn etwas zu teuer war, brauchte man es ja nicht kaufen. So kompliziert war die Sache eigentlich gar nicht. Man musste sich einfach selber Gedanken machen und die Dinge genau anschauen, fand Annemarie. Deshalb las sie auch viel, vor allem Broschüren und Zeitungen, die sie von Thusnelda ausgeliehen hatte. Dazu auch vieles aus der Bücherei. In der Zeit, als sie Johann kennenlernte, las sie gerade eine Reportage über Amelia Earhart. Die bewunderte sie! Die erste Frau, die den Atlantik überquert hatte. Den Atlantik! Hier in Innsbruck schauen sie eine Frau schon schief an, wenn sie mit einem Auto fährt. Aber die Earhart zeigte, dass alles, was die Männer können, auch von einer Frau gemacht werden kann. Sogar über ein riesiges Meer fliegen. Darum sagte sie damals beim Planötzenhof, bei einem ihrer ersten Spaziergänge mit Johann, auch zu ihm: »Wenn du mich nicht lieb hast, flieg ich über den Atlantik. Und wenn doch, dann nehm ich dich mit.«
Tanzen, das Annemaries Leidenschaft war, mochte Thusnelda gar nicht. Musik schon, aber eher eine zum Zuhören. Klassische Sitzmusik, nannte Annemarie das einmal, als sie ihr von der Oper in Wien erzählte. Ganz verdutzt hatte Thusnelda sie damals angeschaut, bis sie auflachte, so laut, dass schließlich beide darüber lachten. »An Ihnen erkennt man wieder einmal das Mädel aus der Provinz, weiß nichts von den Feinheiten orchestraler Klänge«, näselte Thusnelda ihr im kaiserlichen Tonfall zu, so, als wäre sie eine hochgestellte und feine Dame.
Das war schon zu einer Zeit, als sie sich bereits seltener trafen, aber noch bevor so vieles verboten wurde. Als man noch frei reden konnte. Im Spätsommer 1932 musste es gewesen sein. Die Nordkette nahm schon eine gelb-rote Färbung an, und an diesem Tag war es mittags ungewöhnlich heiß und sonnig. Von der Verletzung im Mai war eine Narbe zurückgeblieben, darüber und über die Raufereien der sogenannten Saalschlacht beim »Goldener Bär« redeten sie an dem Tag viel. Thusnelda wurde dabei immer ernster und pessimistischer. Sie meinte, dass Hitlers Zeit bald kommen würde. Annemarie begann sich am Ende fast schon vor der Zukunft zu fürchten. Während ihres Treffens fing es zudem an, stark zu regnen, sodass beide furchtbar nass wurden. Sie waren den Inn entlang nach Kranebitten spaziert und hatten vor lauter Reden gar nicht bemerkt, wie es bewölkter und dunkler wurde. Als sie umdrehten und zurückgingen, setzte ein wildes Gewitter ein. Zunächst stellten sie sich unter einen Baum und redeten weiter, doch der Regen wurde stärker. Immer mehr Tropfen flogen zwischen die Blätter, und sie wurden allmählich nass. Doch Thusnelda sprach immer verbissener und lauter, über das Donnergrollen hinweg, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter zu wenig täten, dass man den Einsatz verdoppeln müsse, die Stärke der Nazis immer mehr zunehme und sie nun alle Anstrengungen unternehmen müssten, um die Revolution hier einzuleiten, meinte sie, bis sie schließlich vollkommen nass dastanden. Und da sie nun schon mal nass waren, gingen sie im strömenden Regen nach Hause. Thusnelda erzählte Annemarie noch von Portugal, wo sich bereits eine Diktatur etabliert habe. Ein gewisser Salazar habe dort die Macht übernommen und reihenweise Männer und Frauen der kommunistischen Partei und Gewerkschaften verhaften lassen. Annemarie merkte in diesem Moment, wie wenig Kraft und Überzeugung sie für so eine Aufgabe hatte. Hier im Regen.
In dieser Zeit ging sie auch immer weniger ins Vereinsheim. Johann ebenso. Thusnelda hatte ihre eigenen politischen Treffen. Sie leitete das Frauenreferat der kommunistischen Partei in Tirol. Das hatte sie ihr nie verheimlicht und sie auch zu Treffen eingeladen, zu denen Annemarie anfangs auch hin und wieder gegangen war, aber die Kommunisten waren ihr ein bisschen zu radikal. Sie wollte ja keine Revolution, sondern nur ein besseres Leben, ohne viel Aufstand zu machen. Die Vorstellung einer Revolution hingegen machte ihr Angst. Sie verstand auch gar nicht, wie das gehen sollte, hier in Hötting oder in Innsbruck. Vielleicht war Thusnelda darüber enttäuscht, denn sie redete mit ihr viel über die Befreiung der Frauen und den Kampf der arbeitenden Massen und versuchte ihr zu erklären, wie das Leben in der Sowjetunion nun eine neue Gestalt annahm und sie es hier ebenso machen müssten. Einmal meinte Annemarie nur, der Stalin sei auch nicht besser und ein Halsabschneider. Dort würden die Menschen ebenfalls schuften und hätten alles andere als ein feines Leben. Vielleicht war das die Verschiebung.
Doch jetzt schauten die beiden einander an und strahlten. Annemaries Körper vibrierte. Ein sonderbares Glück schaukelte in ihren Beinen hin und her, alles in ihr war ausgefüllt von einer Zeitlosigkeit, vom Magen bis zur inneren Stirnseite rutschte ein zickiges Glänzen auf und ab, während sie sich im Tanzschritt drehte.
»Komm schon, Thusnelda. Komm, tanz doch auch!«
Die Kristalllichter warfen eine feinstoffliche Helligkeit in den Raum, in dem sich eine unbestimmte Gegenwart ausbreiten wollte, um so zu strahlen, als wäre sie das weiße Gebiss eines lachenden Mundes. Charly Gaudiot wusste, wie er Stimmungen erzeugen konnte. Er war ein richtiger Showman. Man sah, wie fröhlich die Leute waren, einige wurden ausgelassen, es wurde getanzt, geredet, getrunken und mit aufgerissenen Augen der Vorstellung gelauscht, denn jeder seiner Abende hatte auch seine romantischen Phasen und Momente der Sehnsucht. Das wusste Annemarie schon. Jetzt erlebte sie es hautnah. Die Komposition des Auftritts, für die er im ganzen Land berühmt war. Seine Bekanntheit als Bühnenmusiker bescherte ihm Dutzende Radioauftritte, zudem hatte er einige Lieder als Schellack herausgebracht, die fast alle zu Hits wurden. Seine Popularität wurde schließlich immer größer. Charly, wie ihn Annemarie für sich nannte, war ihr Star und sie war immer in heller Aufregung, wenn sie etwas über ihn in einer Zeitschrift lesen oder bei Bekannten im Radio hören konnte. Auch in Innsbruck wurde Charly Gaudriot mit seinem neuen Programm »Mein Herz ist eine Jazzband« groß angekündigt, und welches Herz will nicht ein Stück Jazz in sich tragen, den Rhythmus der Freiheit und Sorglosigkeit, der aus dem weiten Amerika selbst in dieses kleine Alpenstädtchen herüberschwappte und von Annemarie gierig aufgesogen wurde. In den Momenten, in denen sie tanzen konnte, fühlte sie sich entgegen ihrer sonstigen Ängstlichkeit so furchtlos, weil sie sich in ihrer unbedingten Unschuld erleben konnte. Deshalb tanzte sie in aller Anstrengung, warf ein Bein vor das andere, das eine, das andere, immer schneller schlug sie ihre Beine aus, wippte mit dem Becken, seitlich, vor und zurück, schaukelte die angewinkelten Arme hin und her, und dabei geriet sie in eine Leichtigkeit, die alles andere verdrängte. Doch es war genau die Art von Leichtigkeit, der etwas Tragisches anhaftet, mit der sie im Tanz ihrer Angst verzweifelt etwas viel Größeres entgegenzustellen versuchte: Das, was sie ihrer Ansicht nach eigentlich verdiente, war Glück.
Annemarie kannte diese berauschende Wirkung von Musik, Tanz und Alkohol bereits von den Jazzabenden im Tanzcafé Schindler, als sie mit ihrem ganzen Körper swingte und lachte, wildfremde Männer aufforderte, es ebenso zu versuchen, mit den Beinen und noch schlimmer mit dem ganzen Körper dem Rhythmus der Musik nachzugehen. Bis zum Ende, wenn sich alle Sinne und jeder Muskel weit draußen im Meer der Musik auflösen. Bei diesem Menschenschlag hier in Tirol war das – selbst beim Schindler – jedoch nicht einfach. Jede freie Bewegung wurde als liederlich gebrandmarkt. Dort im Tanzcafé wurde es zwar toleriert, dennoch ging sie dort nur mit Adelheit hin. Zur Sicherheit. Sie galten bald als die beiden tanzverrückten Mädchen aus Hötting. Als ein bisschen übergeschnappt, aber harmlos.
»Übergeschnappt ist man in dieser schwankenden Zeit recht bald«, hatte Annemarie einmal zum Kellner gesagt, der sich über ihre wilden Tanzfiguren ärgerte, wenn er sein Sekttableau durch die Menge balancierte. Aber das war jetzt auch schon ein Jahr her. Damals schien sich für sie das Glück an der Freude über die nächsten Tage zu erschöpfen. So schob es sich in einer schier endlosen Kette ewig neuer Morgen und Abende dahin.
In diesem Moment aber schien das Glück bei ihr zu sein. Sie spürte es jedenfalls und war zufrieden. Thusnelda stand etwas unbeholfen neben ihr an eine Säule gelehnt und lächelte ihr zu. Auf Annemaries Wink hob sich Johann vom Tisch und wackelte ihr rhythmisch entgegen. Als die Band ihren Klassiker anstimmte, hüpfte Annemarie vergnügt dem Johann entgegen, fasste ihn beim Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: »Schön, dass du hier bei mir bist.« Dann begann sie gemeinsam mit einigen anderen in Einklang mit Charly, dem König dieses Abends, dem Jazzkönig, auf der Tanzfläche zu singen.
»Heiß küsst Anuschka, wenn du den Himmel offen siehst, heiß küsst Anuschka, bis du vor Glück besoffen bist.«
Dann ritten die beiden in entgegengesetzten Richtungen auseinander, drehten sich, Annemarie winkte im Drehen Thusnelda zu, und beide steppten einander wieder entgegen.
»Heiß küsst Anuschka, bis dir das Herz im Flammen steht, heiß küsst Anuschka, bis sein Verstand zum Teufel geht.«
Wie ein kleines Kind im Ringelspiel fühlte sie sich jedes Mal, wenn sie sich losgerissen von Johann um ihre Achse drehte, den Kopf nach hinten neigte und ihrer Freundin zuwinkte, als wollte sie ihr zeigen, wie gut sie schon fliegen konnte.
Nach dem Lied setzten sich beide wieder zu Tisch. Thusnelda saß bereits dort und war in ein Gespräch mit Romed vertieft, der etwas nervös an seiner Fliege herumfingerte.
»Thusnelda, Romed, ihr müsst unbedingt tanzen!«
Annemarie war ganz außer Atem und ließ keine Zweifel an ihrer Präsenz aufkommen. »Es ist wundervoll hier. Viel besser als beim Schindler. So groß und weit. Man fühlt sich in einer anderen Welt. In New York, Paris oder in Wien. Die Musik treibt einen richtig fort und lässt einen ganz adelig werden.«
»Wegen der Akustik«, ergänzte Johann. Animiert durch Annemaries Ausführungen und noch ganz in der Energie des Tanzes gestikulierte er ausladend in alle Richtungen, auf die Galerie und die Balkone, die Bühne mit dem kräftigen, weinroten Vorhang und die dicht stehenden Tische, als wäre er der Architekt und müsste den Auftraggebern sein Werk präsentieren. Zum Abschluss seiner kleinen Führung zeigte er auf die mit Stuck verzierte Decke, dass alle ihre Köpfe nach oben richteten, und ergänzte wissend: »Der Stadtsaal ist natürlich auch dafür gebaut.«
Thusnelda und Annemarie schauten nun interessiert in alle Richtungen und nickten zustimmend. Romeds Blick blieb eine Weile an den großen Lustern, die von der Decke hingen, haften.
»Nur dieses Klimbim dort, ich brauch es nicht«, meinte er.
Johann fühlte sich nun fast zu einer Antwort verpflichtet und nuschelte etwas vom »Glanz des Kristalllichts«, doch da setzte schon Thusnelda ein: »Mein Vater war mit mir einmal im Rathaus in Wien. Da gibt es einen Luster, der wiegt über drei Tonnen. Wenn da der Wind reinpfeift, muss es ein schönes Geklimpere geben, hab ich mir damals gedacht. Heute frage ich mich, wie sich bei solch einer tonnenschweren aristokratischen Pracht ein roter Bürgermeister überhaupt wohlfühlen konnte?«
»Der müsste ja jedes Mal rot werden, wenn jemand das Licht anmacht«, warf Johann lachend ein, doch Thusnelda ließ sich von ihren Ausführungen nicht abhalten.
»Man muss die Häuser, Zimmer und Säle prunklos und schlicht bauen und ihnen eine schöne Form geben. Einfach und funktional, dann hat man meistens auch verstanden, worum es bei dabei geht. Das Geschnörkel« – und dabei verdrehte Thusnelda mit ihren Fingern die beiden unsichtbaren Enden eines Zwirbelbartes – »zeugt vom abgehobenen Geschmack des Adels und der Bourgeoisie. Ich brauch es nicht mehr.«
»Und ich hab’s nie gebraucht«, schob Romed nach.
Die vier redeten noch eine Weile so dahin. Über die Neue Siedlung, die gerade beim Inn in Sieglanger gebaut wurde und deren erste Häuser bereits fertiggestellt waren. Einhellig bekundeten sie ihre Ablehnung. Zu weit von der Stadt entfernt, und Romed fügte noch hinzu: »So was Hässliches baut man selten wo«, was den Beginn eines heiteren Austausches von Schadenfreude über die Regierung einleitete. Wobei die jetzige Regierung, und das wussten alle, die am Tisch saßen, eine Diktatur war.
»Der Dollfuß möchte zwar in die Fußstapfen von Mussolini steigen, und es kann schon sein, dass dieses Männlein große Füße hat, aber alles andere ist bei ihm um zwei, drei Nummern zu klein. Diese Diktatur wird nicht mehr lange halten.«
»Du meinst die Nazis, werden …?«
»Die Nazis oder wir.«
»Jetzt, wo sie den Hickel ermordet haben, werden die Heimwehrler wohl etwas härter mit den Nazis umgehen.«
Auch wenn Annemarie und Johann das Ereignis am Mittwoch vor einer Woche über die Zeitungen genau verfolgten, wurden sie doch etwas gleichgültig gegenüber den politischen Geschehnissen. Beide beschlossen nach den Ereignissen im letzten Februar, sich von der Politik abzuwenden. Annemarie meinte, wenn wir nicht mehr Sozialdemokraten sein dürfen, dann sind wir eben gar nichts mehr. Johann nickte und bestätigte lauthals ihren Entschluss. Er war froh darüber, denn jetzt noch Sozialdemokrat zu sein, hätte gefährlich werden können.
Die kampflose Niederlage im Februar hatten Annemarie trotz aller vorherigen Enttäuschungen dennoch einen Stich versetzt. Nach den ganzen Versprechungen und großen Worten der Vorsitzenden hatte sie insgeheim noch gehofft, dass auch hier etwas passieren würde. Dass sie sich wehrten. Fast ein ganzes Jahr, seit dem März 1933, als Dollfuß das Parlament aufgelöst hatte, war darüber debattiert worden, wie die Sozialdemokratie die Heimwehr und die Christlichsozialen mit ihrem wild gewordenen Kanzler in die Knie zwingen und wieder zurück in den Sitzungssaal bringen könnten.
»Das muss man sich vorstellen«, hatte Annemarie damals zu Johann gesagt und sich dabei an den Kopf gegriffen. »Da marschiert die Heimwehr mit ihren Revolvern und Gewehren vor unserem Parteihaus und dem der Gewerkschaft herum, obwohl jeder Aufmarsch von den Militärs verboten ist. Und was passiert? Nichts! Das wird geduldet. Kaum gibt unser Kuprian eine Alarmbereitschaft aus, werden unsere Lokale durchsucht, sogar in die Wohnungen kommen sie.«
Johann kannte diese Geschichte natürlich auch, denn es stand ja alles in der Zeitung, und Jakob hatte ihm ausführlich darüber berichtet. Jakob war ja beim Schutzbund und bekam alles hautnah mit.
»Aber was berichten die Zeitungen? Vom großen Waffenfund reden sie. Haselnussstöcke und ein paar alte Flinten und Revolver. Mit dem Gerümpel hätten wir sowieso nichts mehr anfangen können. Doch damit nicht genug, nehmen sie auch noch den Kuprian in Haft und verbieten gleich den ganzen Schutzbund. Und in der Zeitung schreiben sie, dass die Sozialdemokratie einen Putsch oder gar einen Bürgerkrieg geplant hätte. Wenn eine jede von diesen unnötigen Blättern abgedruckte Lüge riechen würde, dann würden die meisten Zeitungen mehr stinken als der größte Misthaufen von ganz Hötting.«
Das war am 1. April 1933. An diesem Tag explodierte in Annemarie etwas, und es kam alles heraus, was sich über die letzten Wochen bei ihr angestaut hatte. Und das war gar nicht wenig. Auslöser war ein Scherz, den Johann zuvor am Vormittag gemacht hatte. »Einen saudummen«, so bezeichnete ihn Annemarie nachher. Gerade als sie vom Bettenmachen ins Zimmer kam, rief er vom Küchentisch: »Schnell, zieh dir eine Weste über, Jakob war gerade da. Der Generalstreik fängt an. Wir sollen alle zum Hotel Sonne kommen!«
Das Hotel Sonne war der Hauptsitz der Sozialdemokratie und ein prächtiges Gebäude mitten in Innsbruck. Annemarie war natürlich sofort in voller Aufregung und warf sich im Nu eine Weste über und wunderte sich, dass Johann so ruhig am Tisch saß und sich die Hand so komisch vor den Mund hielt. Sie war schon bei der Tür und wollte ohne ihn losrennen, da blickte sie sich nochmals zu ihm um und sah erst jetzt, dass er sich bereits vor Lachen beugte und hustete. Vor lauter Belustigung hatte er das Frühstücksbrot verschluckt und bekam nur noch ein röchelndes »1. April, mein Schatz, 1. April« heraus. Sie fand es gar nicht lustig und war sogar so sauer, dass sie mit ihm den ganzen Vormittag nicht mehr redete. Doch zuvor hielt sie ihm noch wütend einen Vortrag. Mit »weißt du« eröffnete sie ihm rhetorisch geschickt, »das mit dem Schutzbund interessiert sowieso niemanden mehr. Heute in der Früh, am Markt, haben sie alle nur noch über das Lechtaler Erdbeben geredet. Da sind nämlich ein paar Bauernkästen umgeflogen. Das ist wahrhaftig eine Tragödie! Auch über die gestrigen Angriffe der Nazis auf die Heimwehrler in Imst, auch darüber hat niemand geredet. Das alles hat keine Wichtigkeit mehr, weil es ja im Lechtal einem Bauern die Tabakdose vom Tisch geschleudert hat. Verstehst du? Da hat es ein bisschen geruckelt und ein bisschen gepoltert, und schon sind die Menschen wie brave Rindviecher und froh, dass sie nur gemolken werden und nicht gleich geschlachtet, und dir fällt nichts Besseres ein, als darüber Witze zu machen. Ha! 1. April. Schick mich ruhig dorthin, wo der restliche Schutzbund schon längst sitzt. Im Witzfigurenkabinett!«
Dass Annemarie auf diesen Scherz so heftig reagierte, überraschte Johann dann doch. Er entschuldigte sich auch und meinte, dass ihm nichts Blöderes eingefallen sei. Am liebsten hätte er sie zu Mittag auch ausgeführt, sie zum Essen eingeladen, aber das mit dem Geld war gerade so eine Sache. Es war eine schwere Zeit. Er half ihr dafür beim Kochen und schälte die Kartoffeln besonders sauber und hoffte, dass es ihr auffallen würde.
Irgendwas war ihr auch aufgefallen. Vor allem, dass er sie im Haar streichelte und am Ohrläppchen küsste, wie er es anfangs gemacht hatte. Später entschuldigte sie sich bei ihm. Es war ja nicht seine Schuld, dass es keinen Generalstreik gab, sondern nur Hinhaltungen. Nach dem Essen redeten sie darüber bei einer Tasse Kaffee, den er sich in den letzten Wochen zusammengespart hatte – für besondere Momente. Und dieser 1. April war ein besonderer Moment.
Auch weil Annemarie mit Ende März so gut wie arbeitslos war. Im Hotel brauchte man sie nicht mehr, da kaum Gäste kamen, und in der Werkstatt vom Vater gab es auch kaum etwas zu tun. Nur in der Käserei half sie ein paar Tage im Monat noch aus. Noch schlimmer war es bei Johann. Seit dem vergangenen Sommer hatte er schon keine Arbeit mehr gefunden. Die Möbeltischlerei hatte zugesperrt. Anfangs konnte er noch bei einer anderen Tischlerei gelegentlich aushelfen, doch auch die waren nun in Schwierigkeiten. Das Geschäft lief überall schlecht. Johann war mittlerweile ausgesteuert und bekam überhaupt keine Unterstützung mehr.
Dabei hatte der letzte Sommer so schön begonnen. Die vergnüglichen Spaziergänge und Wanderungen zu Sommerbeginn – sie waren sogar ein paar Mal beim Schindler, sogar am Inn baden waren sie, und im August wollte er auch um ihre Hand anhalten, aber hatte zunächst nicht den Mut, weil er ja Annemarie nun nichts mehr bieten konnte. Doch eine frische Liebe ist kräftig, und auf Annemaries Zureden traute er sich dann doch.
Die Hochzeit hatte im Herbst stattgefunden. Nichts Aufregendes, eher im kleinen Rahmen und bescheiden. Thusnelda und Romed waren auch eingeladen, und Annemarie hatte zur Feier des Tages ein original ungarisches Gulasch gekocht, mit viel Paprika. Scharf hatte sie es gemacht, so wie die Liebe sein soll, mit viel Feuer. Das war schon außergewöhnlich für Hötting und darüber war in den darauffolgenden Tagen noch viel geredet worden.
Kurze Zeit später hatten sie eine kleine Wohnung bezogen, mit Zimmer und Kabinett, neben der Wohnung von Annemaries Eltern. In der Wohnung hatte zuvor ihr Cousin gewohnt, der nach Deutschland ausgewandert war, um dort zu arbeiten. Ihr Chef vom Hotel, Cornelius, dem auch das ganze Haus gehörte, gab es ihnen zu einem günstigen Preis. Er kannte ja die Familie schon lange und wusste, dass sie sehr fleißig, aber manchmal mit dem Geld etwas glücklos waren. So ungefähr drückte er sich bei der Übergabe aus, schüttelte den beiden anschließend die Hand und wünschte alles Gute.
Seit ihrer Hochzeit hatten sie Thusnelda und Romed kaum noch getroffen. Dass Johann arbeitslos war, hatten sie ihnen gar nicht erzählt, und dass es ihr auch nicht viel besser ging, auch nicht. Aber wem ging es in dieser Zeit schon gut, dachte sich Annemarie, als sie dann vor gut einer Woche zu Thusnelda spazierte, um ihr vom Abend mit Charly Gaudriot zu erzählen. Über die letzten Monate hatte sie eine kleine Geldreserve angelegt und von dieser die verbilligten Karten gekauft. Auch wenn ihr bewusst war, dass Thusnelda keine Tänzerin war und sie wahrscheinlich nur ihr zuliebe hingehen würde. Die Karten waren für Annemarie auch primär als Geschenk an sich selbst gedacht. Sie wollte wieder einmal ausgehen und sich mit Thusnelda vergnügen, aber vor allem wollte sie etwas von ihrer Kraft und Stärke spüren, denn die war ihr im letzten Jahr immer mehr verloren gegangen. Sie fühlte sich so matt wie ein altes ausgewundenes Bodentuch. Aber im Tanz würde sie sich wieder lebendig fühlen können und frei sein, und nur im Tanz spürte sie diese Kraft und Stärke in sich. Johann erzählte sie davon nichts. Er hätte sie wahrscheinlich für verrückt gehalten, denn für ihn war alles Leben ein bisschen wie ein Verbrennungsmotor. Einschalten, mit Treibstoff füttern, bewegen, füttern, bewegen und ausschalten. Aber das war es nicht, und manchmal muss man einfach seltsame Wege gehen, um wieder ein Stück weiterzukommen.
»Ich glaub nicht, dass die Nazis den Hickel wirklich ermorden wollten. Das waren zwei Lausbuben, die sich aufspielen wollten. Ihr wisst ja, wie das ist. Mit Brutalität kommst du bei dieser Bande am schnellsten zu Ansehen«, nutze nun Johann die kurze Jazzmusikpause.
»Und der Mord an Dollfuß, Johann: Waren das auch Lausbuben?«, widersprach ihm Romed. »Nein, nein, die Hakenkreuzler wollen die Kruckenkreuzler aufs Kreuz legen.«
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