Kitabı oku: «Blutpharmazie - Im Bannkreis des Voodoo», sayfa 4
Kapitel 6
Harte Fakten und mehr
- Die Abgründe des Voodoo -
Die gemütliche Hotelbar war an diesem späten Abend gut besucht. Unter dem Einfluss seiner langjährigen Spezialausbildung schätzte der Deutsche jeden der überwiegend geschäftsmäßigen Gäste beiläufig ab, während er sich auf Dr. Djayéola Biassou zubewegte. Diese erwartete ihn an der dezent beleuchteten Theke in Fensternähe. Eine gute Wahl, hatte man von dort aus doch einen optimalen Überblick.
Während sich Bonifacius den Luxus einer kalten Dusche und frischer Kleidung in Form einer eleganten dunklen Hose mit darauf abgestimmtem Abacost-Hemd hatte gönnen können, saß seine Partnerin umständehalber in unveränderter Garderobe auf dem Hocker, was ihr in seinen Augen nicht zum Nachteil gereichte. Wieder fiel ihm ihre einschüchternde Wirkung auf andere Afrikaner auf – der vermiedene Blickkontakt, die körperliche Distanz.
Er war angetan von dem Hotel bescheidener Größe, welches eine geschmackvoll schlichte Eleganz ausstrahlte und sogar auf einen Barpianisten Wert legte. Verschwenderisch zur Schau gestellter Luxus und pompöse Dimensionen hätten ihm nicht entsprochen, das erstickte seinen Sinn für filigrane Schönheit und schöpferische Finesse. Die dezenten Jazzklänge im Hintergrund trafen zudem ganz seinen Geschmack.
Mit einem Lächeln gesellte sich „Shango“ zu Djayéola: »Was trinkst du da?«
»Wasser.«
»Hält dein Gefäß rein, nehme ich an«, trug der Journalist den spöttischen Unterton charmant vor. »Ich denke, ich schließe mich an.«
»Es geht darum, den Gefäßinhalt rein zu halten«, entgegnete sie aus tiefster Überzeugung. Zu der Ernsthaftigkeit gesellte sich eine herablassende Note: »Du weißt einiges über Spiritualität, Voodoo, unsere Kultur. Deine Wurzeln liegen in Afrika. Von der Gottheit Shango auserwählt und willens zu kämpfen. Trotzdem bist du auch ein Zweifler. Ironie und Sarkasmus – du ziehst ins Lächerliche, was du nicht akzeptieren willst. Ein Gefangener deiner eigenen Widersprüche.«
Als hätte das einen inneren Schalter umgelegt, fielen Zuwendung und Galanterie von Bonifacius ab, dem die gefühlt selbstgerechte Überheblichkeit des Gegenübers bitter aufstieß: »Wenn Götter und Priester mich für würdig und fähig erachten, die Mission zu einem Erfolg zu führen, dann solltest du das vielleicht auch tun. Anstatt meinen Charakter in Frage zu stellen, hältst du besser Schritt, berätst mich in Fragen der Mission und schützt meine Flanken. Mehr steht dir nicht zu, so gut kennen wir uns noch nicht. – So, und jetzt will ich nur noch über die Mission sprechen, wenn es recht ist!«
Aus den dunklen Augen funkelte bedrohlich die Kriegerin, doch Djayéola neigte ihr Haupt vor seiner zwingenden Autorität, nicht aber vor dem Mann, denn das lag nicht in ihrer Natur.
Insgeheim war er heilfroh, sie auf seiner Seite zu wissen und nicht gegen sich.
Nachdem die abseits gelegenen Sitzplätze für ein spätes Abendessen inmitten des Hotelgartens eingenommen und die Bestellungen aufgegeben waren, kam „Shango“ ohne weitere Umschweife auf den Punkt, getragen von unterkühlter Sachlichkeit: »Gib mir mehr Details zum mysteriösen Tod der beiden leitenden ERHC-Angestellten und des hohen Beamten aus deinem Ministerium.«
»Die wissenschaftliche Erklärung der „yovó“? Der Ministerialrat im Gesundheitsministerium sprang aus dem Fenster, weil er unter dem Burnout-Syndrom litt. Eine bevorstehende Beförderung soll den Selbstmord ausgelöst haben. Manager Nummer Eins bei der ERHC verfiel dem Wahnsinn – vermutlich erblich vorbelastet. Und Manager Nummer Zwei – der brach mit Krämpfen zusammen, biss sich rein zufällig die Zunge ab und verstarb in der besten Klinik des Landes unter den Händen versierter Chirurgen. Dort zog man es vor, keine Erklärung dafür zu haben.«
»Yovó?«
»So nennen wir die Weißen.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Sieh an, wer hätte das für möglich gehalten.«
»Bitte?«
»So fremd sind dir Ironie und Sarkasmus ja doch nicht«, reichte er provokant nach, was seine „Kopilotin“ mit einer verständnislos starren Miene quittierte.
»Schon gut. – Jetzt mal zur nicht wissenschaftlichen Erklärung für die Todesfälle.«
Die Mikrobiologin nahm einen Schluck Wasser, bevor sie auch dieses Wissen mit ihm teilte: »Es ist das Ergebnis von Zauberei.«
Argwöhnisch suchte sie anhand seiner Gestik und Mimik nach dem erwarteten Zweifel. Als der sich nicht entdecken ließ, fuhr sie fort: »Seit Tausenden von Jahren begleitet die Voodoo-Religion und deren Ursprünge die Menschen an der Westküste Afrikas. Mehr als fünfzig Millionen Westafrikaner praktizieren diese Naturreligion heute. In Benin dringt Voodoo den Menschen aus jeder Pore. Wir saugen ihn schon mit der Muttermilch auf. Ohne würde keine Dorfgemeinschaft funktionieren, könnte keine Rechtsprechung erfolgen, ja nicht einmal ein Staatspräsident gewählt werden. Er durchdringt selbst die höchsten gesellschaftlichen Kreise und beherrscht die politische Elite als ordnende Hand, die alles zusammenhält. – Aber wo es Ordnung gibt, da gibt es auch Unordnung. Gut und Böse nähren sich gegenseitig. Und aktuell ist eine sehr böse Kraft am Werk. Schwarze Magie findet Anwendung. Die Seele des Verantwortlichen ist vergiftet, seine magischen Fähigkeiten und sein Wille sind besonders zerstörerisch. Mit Schadenszauber hat dieser jemand nicht einmal vor Mord zurückgeschreckt. Er wird sich weiter im Verborgenen bewegen, uns bei jeder Gelegenheit zu täuschen versuchen. Und die Angriffe werden sich direkt gegen uns richten, wenn wir seinen Weg kreuzen.«
»Schadenszauber und Hexenflüche werden doch auch gegen Bezahlung praktiziert. Könnte es sich nicht um einen Auftragsmörder handeln?«, stellte der nunmehr angespannte „Wächter der Schöpfung“ in den Raum.
»Undenkbar«, verneinte sie entschieden. »Ein Auftragsmörder würde seine Arbeit leidenschaftslos verrichten – möglichst schnell und schmerzlos. Im Einflussgebiet des Voodoo ist das nicht anders. Der herbeigeführte Tod eines Menschen ist schon an sich gottlos genug. Und für einen Auftraggeber, der hier jemanden quälen oder bestrafen lassen will, wäre Mord nicht die logische Konsequenz. Nein, unser Mörder verfolgt ein rein persönliches Motiv. Er hat gequält, und er hat gemordet – und das mindestens dreimal.«
Grübelnd strich sich Bonifacius über den Kopf: »Nehmen wir die beiden Toten bei der ERHC. Einer konnte vor seinem Tod nicht mehr verständlich sprechen, der andere biss sich selbst die Zunge ab. Beide waren in Schlüsselpositionen tätig und hatten so vermutlich Zugang zu geheimen Informationen. Sie könnten etwas Brisantes erfahren haben, oder womöglich wollten sie mit brisanten Informationen an die Öffentlichkeit. In dem Fall hätte der Mörder auch ein symbolisches Zeichen gesetzt. Wer plaudern will, wird mit dem Tod bestraft.«
Endlich packte auch Djayéola offene Leidenschaft. Ihre Augen weiteten sich, sie sprach mit noch mehr Nachdruck: »Vor zwei Jahren, nur zwei Tage nachdem der Ministerialrat aus dem Fenster gesprungen war, starb der erste ERHC-Mitarbeiter. Im Ministerium hatte es die Tage zuvor noch ein Vier-Augen-Gespräch zwischen ihnen gegeben. Das alleine wäre noch nicht verdächtig genug. Viele Repräsentanten ausländischer Unternehmen und Organisationen gehen bei uns ein und aus. Aber der zweite ERHC-Mann starb vor drei Wochen. Und er hatte die Position des anderen nach dessen Tod übernommen. – Du hast recht mit dem symbolischen Zeichen. Es verbindet die drei Opfer. Nichts im Verlauf eines Schadenszaubers ist zufällig.«
»Okay, also wenn wir die Angst vor Geheimnisverrat zugrunde legen, gibt es folgende Möglichkeiten: Der VoodooMörder arbeitet gegen, für oder mit der ERHC. Es kann praktisch nur um die derzeitige Seuche und den neuen Impfstoff gehen – wie auch immer das zusammenpasst«, resümierte er.
»Morgen Vormittag haben wir ausreichend Gelegenheit, den Geschäftsführer Sam Watts mit Fragen zu konfrontieren«, unterstrich seine Partnerin, deren Anflug von Emotionalität sich auch schon wieder verflüchtigt hatte.
Es war höchste Zeit für das Abendessen, und dieses wurde nicht eine Minute zu früh serviert. Langusten, Meeresfrüchte und Salat mundeten beiden gleichermaßen. Wo Bonifacius sich einen lieblichen Rotwein gönnte, blieb Djayéola unverändert bei Wasser.
»Wie glaubst du, wurden die Männer getötet?«, nahm er den Gesprächsfaden während des Essens wieder auf.
Die schnelle Antwort darauf legte nahe, dass sie sich bereits eingehend mit dieser Frage beschäftigt hatte. Und wie nicht anders zu erwarten, war ein fundiertes Hintergrundwissen in puncto Voodoo-Magie vorhanden: »Zwei Wege sind denkbar: Kontaktmagie und Analogiezauber. Der unmittelbare Kontakt wird durch direkte Berührung oder Augenkontakt hergestellt. Das Verabreichen magischer Substanzen durch Einreiben oder Untermischen in Essen und Getränke ist genauso möglich. Häufig werden persönliche Gegenstände entwendet, die bevorzugt Schweiß oder Blut des Opfers enthalten. Körperflüssigkeiten enthalten besonders viel Lebenskraft, perfekt für Schadenszauber. Nachdem auf die Gegenstände rituell eingewirkt worden ist, werden sie wieder in der Nähe des Opfers deponiert. Dort können sie die gewünschte Zauberkraft entfalten. Die Kontaktmagie hängt sowohl von magischen Formeln und Gegenständen ab als auch von Kräutern, Pulvern und Tinkturen, die aus der Natur gewonnen werden.«
Bonifacius befiel Zweifel darüber, wie eine Religion nur dem Guten verpflichtet sein konnte, wenn sie andererseits Instrumente des Bösen derart perfektionierte. – Es folgte eine jener unheimlichen Reaktionen, die im Grunde hellseherische Fähigkeiten voraussetzten.
»Man darf natürlich nie außer Acht lassen«, fügte Djayéola ergänzend hinzu, »dass die Kräfte der Natur neutral sind – weder gut noch böse. Die Voodoo-Religion ist ausschließlich dem Guten verpflichtet. So ist das Wort „Voodoo“ aus der Fon-Sprache abgeleitet. „Wo bo du“ heißt übersetzt in etwa: 'Lehne dich zurück und hole aus der Natur jene Kraft, welche zum Zweck der Erhebung deines Geistes zu Gott notwendig ist.' – Strebt der Mensch also zu Gott, wird er die Gaben der Natur im Sinne des Voodoo zur Heilung und gegen Hexenzauber und Schadensmagie einsetzen. Andernfalls kann er wie in unserem aktuellen Fall viel Unheil über die Menschen bringen.«
Dass die Kräfte der Natur neutral waren, widersprach interessanterweise der Auffassung, wie sie in afrikanischen Kulturen mit zivilisatorischem Anspruch lange vorherrschend und fest verankert gewesen war, nämlich, dass die Natur eine ständige Bedrohung für die menschliche Zivilisation darstellte. Demnach hatten Aktivitäten wie die Bestattung von Toten oder der Geschlechtsverkehr auf kultiviertem Boden zu erfolgen. Wald und Busch waren hingegen tabu, galten sie doch als Inbegriff des Bösen, wo Hexerei und Magie herrschten. So war auch mit allen Mitteln zu verhindern, dass etwas von dort in die zivilisierte Welt eindringen konnte. Die Volksgruppe der Mossi im heutigen Burkina Faso zum Beispiel umschrieb Albträume von jeher als den „sich heranschleichenden Busch“. – Indem Bonifacius eben das durch den Kopf ging, brachte es ihn gleichwohl zu der Erkenntnis, dass der Voodoo eine erstaunliche Entwicklungsgeschichte vorzuweisen hatte. Unter seinem Einfluss hatten Westafrikaner gelernt, der Natur einem Katalysator gleich die Kräfte zu entnehmen, welche in der menschlichen Gemeinschaft Gutes bewirkten. Nur leider gab es genauso diejenigen, welche eigenmächtig den dunklen Pfad beschritten.
Also ein Abtrünniger, der sich von der menschlichen Gemeinschaft abgewendet hat, sich aller Regeln und Gebote des Göttlichen entledigt hat, treibt sein hemmungsloses, sein perfides Spiel. Wieso habe ich das Gefühl, dass Wahnsinn und Tod unsere Begleiter bleiben werden und wir längst unter Beobachtung dieses Unbekannten stehen?
»Einer der Männer wurde durch Kontaktmagie zuhause in den Wahnsinn getrieben. Aber der Begriff Wahnsinn im westlichen Sinn trifft die Realität nicht im Entferntesten. Das, was er vor seinem Tod gesehen haben muss, was ihn nur noch in einer unverständlichen Sprache hat sprechen lassen und die Krämpfe in ihm ausgelöst hat, waren böse Geister, die ihn von innen wie außen attackiert haben. Zu diesem Zweck hat die eingesetzte Schadensmagie die Barriere zwischen Diesseits und Jenseits aufgehoben, also dem Bösen den Zugriff auf das Opfer ermöglicht. Aber was den Mann betrifft, der im Krankenhaus gestorben ist, dazu habe ich dir etwas mitgebracht.«
Schon holte die Beninerin gerollte Röntgenaufnahmen aus einem eng am Körper getragenen Beutel, die sie wortlos auf dem Tisch ausbreitete. Der Mann mit deutsch-kongolesischen Wurzeln betrachtete die Aufnahmen. Darauf waren Arme und Beine sowie der Bauchbereich eines Menschen zu erkennen. Während die Gliedmaßen eine große Zahl von Nägeln zu enthalten schienen, zeigte die Aufnahme der Bauchpartie verschiedene Gegenstände wie eine zerbrochene Schere, Nägel sowie Objekte, die durchaus Glasscherben sein konnten.
»Das ist nicht, was ich glaube, oder? Er starb an inneren Blutungen? Hast du gesehen, wie die Objekte entfernt wurden?«, fragte er fassungslos, daraufhin einen großen Schluck Rotwein hinunterstürzend. Das war nichts, was seine zweite Familie ihm je an Realität nahegebracht hatte. Kein Wunder, denn es war die Art blutiger Makel, den keine Kultur oder Religion sich begeistert oder freigiebig ans Revers heften würde.
»Man kann nicht sehen, was nicht da ist – jedenfalls nicht materialisiert. Während der anschließenden Obduktion hat man keine Gegenstände gefunden. Es gab auch keine sichtbaren inneren Verletzungen. Trotzdem ist er genau daran gestorben, innerlich verblutet. Die Röntgenaufnahmen sind authentisch, keine Fälschung. Ich hatte zu allem Zugang, auch zu den Ärzten.«
Die Initiierte beugte sich vor und sprach das Folgende nur flüsternd aus: »Dieser Mann wurde Opfer des „tchakatou“, eines besonders gefährlichen Zaubers.«
»Aber hätte man keinen Voodoo-Heiler hinzuziehen können?«, murmelte Bonifacius, dem ein Schaudern durch den Körper fuhr.
»Auch ein „azongbeto“ benötigt Zeit für die Heilung von Schadenszauber. Eine mehrwöchige intensive Therapie kann nötig sein. Der Zauberer, den wir suchen, ist zu mächtig, und er tötet zu schnell. Auch den Ministerialrat hatte er mit einem verbotenen Zauber belegt – „sekpoli“. Ein Analogiezauber, also ganz ohne Körperkontakt aus der Entfernung wirksam. Der Fenstersturz wurde wahrscheinlich mit Hilfe einer Fetischfigur ausgelöst. Dabei musste intensiver gedanklicher Kontakt zum Opfer hergestellt werden. Beim „sekpoli“ passiert Folgendes: Die geistige und körperliche Kontrolle über die Zielperson wird übernommen, und sie handelt wie eine Marionette. Das funktioniert auch aus größerer Entfernung. Die Fetischfigur, ein sogenannter „bochio“, macht den Zauberer bei seinem Wirken vollkommen unabhängig von einem rituellen Ort oder Tempel. Kurz gesagt, unser Mörder kann jederzeit und von jedem Ort unerkannt zuschlagen.«
»Wie muss denn so ein „bochio“ aussehen?«
»Es sind kleine Objekte oder Figuren, die Geistkräfte enthalten. Für einen bösen Zauber wird häufig eine eigens geschnitzte Holzfigur verwendet, die mit Nägeln gespickt ist«, erklärte die Westafrikanerin weiter, deren Gesicht geheimnisvolle Züge annahm, »deshalb sollten Touristen afrikanische Fetischfiguren nie sorglos erwerben. Man kann nie wissen, was einen tatsächlich nach Hause begleitet.«
War da etwa ein versteckter Anflug von Humor? Der Journalist hätte nicht darauf schwören wollen. Egal, er jedenfalls nahm es als einen Beweis dafür. Vielleicht abergläubisch, aber Bonifacius wollte sein Schicksal nicht in die Hände einer Missionspartnerin legen, die über keinerlei Humor verfügte.
Das Wesentliche war zunächst besprochen, und der Abend im Gartenrestaurant des Hotels klang bei freundlicheren Geschichten und Anekdoten aus.
Abseits der speisenden Hotelgäste und unbemerkt von den beiden Zielpersonen, verbarg sich eine Gestalt im Schutz der Dunkelheit. Sie verharrte bewegungslos, beobachtete nur. An diesem Abend würde sie noch nicht ins Schlaglicht treten. Doch sie würde die tiefe Nacht für sich nutzen.
Die Traumbotschaft schien die geöffnete Balkontür als Einladung zu begreifen – ein Bote der Vergangenheit, welcher die Gardinen inmitten einer salzigen Brise sanft in Bewegung versetzte, herangeführt vom seidig hellen Mondlicht. – Schnell bedeckte Schweiß die Haut des Auserwählten, das Gesicht zuckte unruhig:
Eine frische Meeresbrise lässt die Mittagshitze erträglich erscheinen, obgleich man an jenem Ort vergeblich nach Menschen Ausschau hält. Bonifacius steht vor einem Durchgangstor von rotbrauner und weißer Farbe. Die hinter ihm hinaufführenden weißen Stufen machen das Portal zu einem Monument, einem Wahrzeichen. Bei den acht tragenden Pfeilern – darauf jeweils paarweise kniende und gefesselte Sklaven beiderlei Geschlechts dreidimensional hervorgehoben – mit einem alles überspannenden Querblock, welcher wiederum einen Sklaventreck in zwei Zügen dichtgedrängt in die Ferne marschierend verewigt, handelt es sich unverkennbar um das „Tor ohne Wiederkehr“ am Strand von Ouidah. Doch das erst in der jüngeren Vergangenheit errichtete Mahnmal steht in zeitlichem Widerspruch zu den drei nahe der Küste ankernden Segelschiffen, britischen oder französischen Sklavenschiffen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Bezeichnung Sklavenküste noch grausamer Realität entsprach.
Der Träumende ist verwirrt, schaut sich suchend um. Noch immer ist er allein. Nicht einmal die Vögel kreisen über ihm oder dem Strand. Selbst das Meeresrauschen versagt den Dienst. Die Atmosphäre ist tot und gespenstisch. Dann packt ihn das pure Grauen. Ausgerechnet vom Tor geht Bewegung aus, als die Ornamente zu bluten beginnen. Schließlich ergießt sich ein ganzer Vorhang dunklen Blutes auf das staubige Steinfundament. Bonifacius schreckt zurück, schaut an sich herab. Seine naturbelassene Leinenkleidung ist noch immer unbefleckt. Die über ihn hereingebrochenen Emotionen weichen der Neugier, als aus der Ferne Geräusche zu vernehmen sind. Auf dem breiten Lateritweg, der aus der Stadt Ouidah bis hin zum Strand führt, erkennt er in der Ferne eine Prozession. Unnatürlich schnell nähert sich der Tross. Was er sieht, treibt ihm Tränen der Wut und Verzweiflung in die Augen. Entsprechend der Ornamente auf dem Mahnmal, werden gefangene Afrikaner in zwei Linien den Weg zum Strand entlanggetrieben, mitunter beschimpft und getreten. Spärlich bekleidete junge Männer, Frauen und sogar Heranwachsende versuchen sich der Übergriffe ihrer Peiniger flehend und mit gebundenen Armen zu entziehen. Ein unbeugsamer Mann von hünenhafter Gestalt stirbt unter Peitschenhieben, gefesselt an einen Baum und längst ohnmächtig, der Rücken eine einzige Wunde aus freigelegtem Fleisch. Die Peiniger sind keine Europäer, es sind mit Steinschloss-Musketen bewaffnete Afrikaner.
Übergangslos bietet sich eine neue Traumsequenz dar. Am Ende des Weges, unweit des noch immer entsetzten Beobachters, geht es festlich zu. Ein wohlbeleibter König sitzt bestens gelaunt auf einem überdimensionierten Thron und hält Hof mit zahlreicher Anhängerschaft. Gold und prachtvolle Kleidung stellen Reichtum und Macht zur Schau. Die Sklaven sind Teil der Inszenierung. Alles wirkt wie eine innerafrikanische Angelegenheit. Doch unter amüsiertem Beifall der Festgäste auf einem Sammelplatz vorgeführt, übernehmen europäische Sklavenkapitäne und Ärzte die routinierte Begutachtung der nunmehr völlig nackten menschlichen Ware. Ohne jedes Schamgefühl werden Zähne entblößt, Muskeln angepackt, der Schweiß per Zunge auf Gesundheitszustand geprüft. Trotz all der Tortur sind Stolz und rebellischer Geist noch immer nicht gänzlich ausgelöscht, das ist etlichen Gesichtern deutlich abzulesen. Die Sklaven sind eigens für den Verkauf zurechtgemacht – geschnittene Haare und Nägel, Wunden behandelt, die Haut eingeölt. Sobald ein Kauf zustande kommt, wird den Männern das Zeichen des neuen Besitzers in die Brust eingebrannt, den Frauen in die Schulter.
Das nicht verkaufte „Menschenmaterial“ wird fortgeführt. Jene finden ihr Ende in einer tiefen Grube, die wie ein weit aufgerissener gieriger Schlund anmutet. Einmal hineingestoßen, werden die nutzlos gewordenen Opfer früher oder später unter der Last und Verzweiflung der Leidensgenossen begraben – erstickt, zerquetscht oder beides. Ohrenbetäubende Schmerzensschreie und Flehen sind die Begleitmusik zu dem Treiben. Keiner der Vollstrecker wagt es indes, in diese Höllengrube zu blicken, als würden die Todgeweihten ihre Henker brandmarken und auf ewig verfluchen können.
Zwischen Ankunft und Verkaufsprozedur wartet ein bewachtes Freiluftgehege auf viel zu viele Menschen, die nach und nach zur weiteren Vorbereitung hinausgeführt werden.
Letzte Station vor den Schiffen ist der „Baum des Vergessens“. Die Sklaven müssen einen hoch aufragenden massiven Baumstamm mehrmals umrunden. Es soll ihnen bewusstwerden, dass die vertrauten Bindungen unwiderruflich verloren sind – Heimat, Religion, Stammesgemeinschaft.
Der Blick hinüber zur Festgesellschaft offenbart noch mehr Aufwühlendes. Um den König herum haben Amazonen Position bezogen. Diese stellen seine Leibgarde und nehmen das Schauspiel ohne Gefühlsregung hin. Unter Anwendung des Fa-Orakels ermittelt die Voodoo-Priesterschaft unter den Sklaven bestimmte Männer, die daraufhin von den Amazonen vorgeführt werden. Jene Männer tragen selbst Insignien des Voodoo. Auf Befehl des Königs erfolgt an Ort und Stelle deren Enthauptung, wiederum ausgeführt von der weiblichen Leibgarde. – Innerhalb der Gästeschar macht Bonifacius derweil eine kleine Gruppe von Männern aus. Zum einen heben sie sich durch ihre schlichten Gewänder ab, zum anderen verfolgen sie das blutige Treiben mit unverhohlenem Abscheu. Die Voodoo-Priesterschaft zeigt sogleich auf eben diese Sonderlinge, welche sich ohne Gegenwehr ergreifen lassen. Es erfolgt keine Enthauptung, jedoch ergeht der Zwang, dem Abtransport der Sklaven in vorderster Reihe beizuwohnen.
Plötzlich teilt sich die Zuschauerschaft und gibt den Weg frei für einen weiteren Protagonisten. Die verhüllte Gestalt wird gebannt angestarrt. Lediglich die Amazonen beugen zur Ehrerbietung ihre Häupter mit gesenktem Blick. Und noch jemand, der sich abseits hält und dessen Gesicht nicht zu erkennen ist, tut es ihnen gleich – allem Anschein nach auch ein königlicher Voodoo-Priester. Die so geehrte Gestalt, deren Gesicht unter Umhang und Kapuze verborgen gehalten wird, schaut in Richtung der Sklaven, um sich kurz darauf demonstrativ abzuwenden. Einzig der selbstzufrieden grinsende König sowie die Europäer lassen sich davon nicht beeindrucken. In einem surrealen Schauspiel gehen die Verlorenen an rasselnden Ketten Richtung Sklavenschiffe ins Meer, verschwinden spurlos in den Wellen.
Die verhüllte Gestalt ist verschwunden. Bonifacius glaubt in ihr das grausame Schattenwesen aus dem Albtraum zuvor wiedererkannt zu haben, so, wie er auch die Amazonen wiedererkannt hat. Nur scheinen die Rollen sich verkehrt zu haben, die Attribute von Gut und Böse neu zugewiesen zu sein …
Der Sonnenaufgang ließ noch auf sich warten. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Der „Wächter der Schöpfung“ stand auf und ging ins Bad. Das kühlende Wasser auf Gesicht und Nacken tat ebenso wohl wie das im Glas, mit dem er sich auf den kleinen Balkon seines Hotelzimmers setzte. Aber so sehr der Golf von Guinea ihn auch mit Meeresrauschen und im Schein des Mondes glitzernden Wellen zu berauschen versuchte, es verfing nicht. Viel zu sehr beschäftigten ihn die beiden Träume, deren Botschaften, Widersprüche und Gemeinsamkeiten. Bonifacius wusste instinktiv, dass seine zweifellos auch geschichtlich bewanderte Missionspartnerin ihm bei der Entschlüsselung helfen konnte. Aber aus einem unerfindlichen Grund wollte er sie erst hinzuziehen, wenn der anstehende Besuch bei dem US-Pharmaunternehmen ERHC absolviert sein würde.
Wie viel Zeit er grübelnd auf dem Balkon zugebracht hatte, hätte er nicht beziffern können, doch mit der ersten zaghaften Morgenröte und dem Verblassen des reichen Sternenhimmels kehrten die verlässlichen Lebensgeister mit Macht zurück. Das prächtige Farbenspiel der Natur konnte ihn schließlich doch noch für sich einnehmen.
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