Kitabı oku: «Verhüllung», sayfa 3

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Der Aspekt des sozialen Drucks aus der Familie dürfte bei jungen Kopftuchträgerinnen häufiger anzutreffen sein als bei Nikab-Trägerinnen. Wir sehen hierfür zwei Gründe: Zum einen ist das Kopftuch wesentlich breiter als Vorgabe der islamischen Tradition akzeptiert; verlangen Eltern oder Ehemänner diese Praxis von ihrer Tochter oder Ehefrau, so stellen sie sich im Gegensatz zum Gesichtsschleier auch in ihrem muslimischen Umfeld im Westen nicht in eine abseitige Position. Zum anderen ist mit einem Kopftuch den für die Familienehre entscheidenden Normen Genüge getan. Dabei ist die Familienehre von der islamischen Vorgabe zu unterscheiden, sie wirkt nicht nur in islamisch geprägten Gesellschaften als Massstab (siehe Seite 25).

Aus der Forschung zum Kopftuch ist bekannt, dass sich die Motive für den Grundsatzentscheid, aber auch die Arten, sich «islamisch» zu kleiden, im Lauf einer Biografie verändern können, immer wieder auch bis zu dem Punkt, an dem eine Frau nach kurzer oder auch jahrelanger Praxis völlig auf das Kopftuch verzichtet.47 Auch die Forscherinnen, die zu Nikab-Trägerinnen in Westeuropa forschen, sind wiederholt Frauen begegnet, die diese Praxis ohne staatliches Verbot aufgegeben hatten.48

Insgesamt lassen sich also für das Tragen und Ablegen des Gesichtsschleiers ähnliche Motive wie beim Kopftuch ausmachen. Der Hauptunterschied scheint zu sein, dass die Dimension der möglichst weit gehenden, freiwilligen gottgefälligen Praxis besonderes Gewicht erhält und die Dimension des familiären Drucks noch seltener ist als beim üblichen islamischen «Kopftuch». Weitere, insbesondere quantitative Forschung könnte diese Vermutung allenfalls erhärten. Nikab-Trägerinnen respektieren zudem problemlos, dass andere Musliminnen keinen Gesichtsschleier tragen wollen und dass sie sich gegenüber Behörden identifizieren müssen.

Frauen, die in Westeuropa oder Nordamerika mit dem Tragen des Gesichtsschleiers beginnen wollen, geben sich keinen Illusionen hin. Sie wissen, dass sie gerade durch die Verhüllung des Gesichts im Strassenbild auffallen und ablehnende Reaktionen auslösen werden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Reaktionen je nach sozialer Nähe zur Nikab-Trägerin unterschiedlich sind.

Im direkten persönlichen Umfeld, also in der eigenen Kernfamilie und unter engen Freundinnen, mag es anfänglich Versuche geben, die angehende Nikab-Trägerin von ihrem Vorhaben abzubringen, weil man die negativen Reaktionen vorhersieht oder von anderen Fällen her kennt; gerade Eltern befürchten bisweilen, selbst in ein ungünstiges Licht zu geraten, oder sie zweifeln gar an der psychischen Gesundheit ihrer Tochter.49 Andererseits besteht mit dem engeren Umfeld ein konstanter Austausch. Dies gibt der Nikab-Trägerin Gelegenheit, ihre Motive und auch Einzelheiten ihrer Praxis wiederholt zu erläutern, auf skeptische Einstellungen differenziert einzugehen und ihre Praxis allenfalls zu verändern. Umgekehrt erhalten Verwandte und Bekannte Gelegenheit, die Erläuterungen der Nikab-Trägerin zu bedenken. Unterstützung erfährt sie am ehesten in der Familie oder von engen Freundinnen. Dabei begrüsst das Umfeld nicht unbedingt das Tragen des Gesichtsschleiers als solches, sondern es bestärkt vor allem die Haltung der Nikab-Trägerin, das zu tun, was sie für sich als angemessen erkannt hat. Respekt oder Bewunderung erntet gelegentlich auch die Entschlossenheit, eine als fromm taxierte Praxis zu wagen und dabei so starke Ablehnung und so massive Nachteile in Kauf zu nehmen.

Anders ist die Situation im öffentlichen, anonymen Umfeld. Hier sind verbale und vereinzelt auch physische Angriffe auf Nikab-Trägerinnen in den meisten der bisher erforschten westlichen Ländern an der Tagesordnung. Am belgischen Beispiel kamen die Forscherinnen zum Schluss, aus ihren Interviews mit den munaqqabät lasse sich nicht ableiten, dass diese Frauen ein Sicherheitsrisiko darstellten, sondern ganz im Gegenteil selbst einem «manifest and serious safety risk» ausgesetzt seien. Sie werden nicht nur beschimpft oder angespuckt, sondern immer wieder auch absichtlich grob angerempelt oder physisch angegriffen, etwa indem jemand versucht, ihnen den Nikab oder das Obergewand herunterzureissen. Die Nikab-Trägerinnen fühlen sich daher im öffentlichen Raum vielfach so unsicher, dass sie entweder so selten wie möglich ausser Haus gehen oder den Nikab nur bei bestimmten Gängen tragen; vereinzelt geben sie die Praxis wieder gänzlich auf.50

Unter den westlichen Ländern stellt Grossbritannien die Ausnahme dar. Hier gaben sechzig Prozent der interviewten Nikab-Trägerinnen an, nie oder selten im öffentlichen Raum beschimpft oder angegriffen worden zu sein.51 Zurückzuführen ist dies vermutlich auf mehrere Faktoren: Zum einen ist der relative Anteil an Nikab-Trägerinnen höher als in den übrigen untersuchten Ländern, ihr Anblick daher in bestimmten Gegenden auch wesentlich alltäglicher. Zum anderen pflegt Grossbritannien seit Langem bewusst eine Kultur des Multikulturalismus, in der sichtbare Differenz ihren selbstverständlichen Platz hat.

Nikab-Trägerinnen erfahren, insbesondere ausserhalb Grossbritanniens, auch strukturellen Ausschluss: Mit dem Gesichtsschleier fanden sie etwa in Dänemark, selbst bevor 2018 das Verbot in Kraft trat, kaum Zugang zu Arbeitsstellen, bestimmten öffentlichen Dienstleistungen oder auch zu weiterführenden Schulen, sogar zu islamischen Privatschulen. Hart ist dies für die vielen unter ihnen mit starkem Bildungswillen. Besonders gravierende Probleme stellen sich, wenn sie den Ehemann durch Scheidung oder Tod verloren haben.52

Der Überblick über die einschlägige Forschung zu einigen westeuropäischen Ländern hat somit ein weitgehend konsistentes Bild ergeben: Musliminnen, die sich entschliessen, im öffentlichen Raum dauerhaft den Gesichtsschleier zu tragen, tun dies aus freier, eigener Entscheidung, oft entgegen den dringenden Ratschlägen ihres engsten Umfelds und im vollen Bewusstsein unangenehmer Folgen. Die Motive liegen wie beim islamischen «Kopftuch» im Bereich der Frömmigkeit, meist kombiniert mit starker Ablehnung des üblichen Umgangs zwischen den Geschlechtern und des übergrossen Stellenwerts, den die Gesellschaft dem Erscheinungsbild von Frauen zumisst. Sie beanspruchen für sich das Recht, sich so zu kleiden, wie es ihnen behagt.

Wie wir weiter unten (ab Seite 46) zeigen können, fügt sich die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz in dieses allgemeine Bild. Es steht zugleich in offensichtlichem Kontrast zum Charakter der öffentlichen Debatten über das Phänomen von Nikab-Trägerinnen – auch dies wiederum ist in der Schweiz nicht anders als im westeuropäischen Ausland. Angezeigt erscheint es daher, diese öffentlichen Debatten aufgrund der Forschung zu analysieren.

Europäische Debatten zur Vollverhüllung

Die «Burka» ist in erster Linie ein diskursives Phänomen. Sie wird häufiger in Medien und Politik diskutiert als dass sie auf der Strasse tatsächlich getragen wird. Dieses Ungleichgewicht wiederspiegelt auch die wissenschaftliche Forschung. Sie hat sich weitaus umfangreicher den Debatten über Vollverhüllung als der Praxis des Nikab-Tragens im Westen gewidmet. Dies ergibt eine einfache Abfrage in einschlägigen Datenbanken wissenschaftlicher Publikationen. So sind etliche Aspekte rund um «Islam-Debatten» bereits erforscht.53 Wir konzentrieren uns daher auf Forschung mit starkem Fokus auf dem Gesichtsschleier.

In der belgischen Debatte um ein Verhüllungsverbot haben Eva Brems und ihr Forschungsteam systematisch Argumente aus dem Gesetzgebungsprozess mit den Erkenntnissen aus der Feldforschung unter Nikab-Trägerinnen verglichen. Dabei wird deutlich, wie sehr die Parlamentarierinnen und Parlamentarier annahmen, der Gesichtsschleier werde praktisch immer unfreiwillig getragen. Das Kleidungsstück wurde als mobiles oder textiles Gefängnis oder als «Leichentuch der Freiheit» bezeichnet und zum Symbol für die Unterdrückung der Frau erklärt.54

Ein weiteres Bündel an Argumenten betrifft den sozialen Zusammenhalt: Dieser sei gefährdet, weil die Kommunikation durch den Gesichtsschleier behindert sei und ihre Trägerinnen dadurch nicht vollumfänglich am Leben in der Gemeinschaft Anteil hätten, fanden die Mitglieder der belgischen Parlamentskommission. Schliesslich führten sie auch Argumente der Sicherheit an: Das Verbot verhindere, dass mit dieser Art von Kleidung kriminelle Aktivitäten begangen würden, und die Sichtbarkeit der Gesichter im öffentlichen Raum erhöhe das Sicherheitsgefühl der Menschen.55

Unterdrückung, Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und Sicherheit – die gleichen Themen und Argumente fand die Forscherin Annelies Moors auch in der niederländischen Debatte.56 Sie nahm dabei zudem den Verlauf über mehrere Jahre, von 2000 bis 2014, in den Blick und sieht in der «Burka-Debatte» Entwicklungen, die mit breiteren Verschiebungen in der niederländischen Debatte über die eigene Identität zusammenhängen. Der öffentliche Diskurs und die Politik hätten in dieser Zeit generell verstärkt Forderungen nach Anpassung an die heimische Kultur als «Leitkultur» formuliert, insbesondere gegenüber Musliminnen und Muslimen. Politikerinnen und Politiker, die entsprechende Forderungen erhoben, gestanden oft, nichts Verlässliches über Nikab-Trägerinnen zu wissen. Sie nahmen an, diese seien erst seit Kurzem im Land, sozial benachteiligt, schlecht gebildet und des Niederländischen nicht mächtig. Religion beziehungsweise der Islam als Erklärungsfaktor kommt 2005 mit dem Aufstieg des Rechtspopulisten Geert Wilders ins Spiel. Es war eine liberale Partei des rechten Spektrums, die das Sicherheitsargument besonders betonte. Weil jedoch weder der Nachrichtendienst noch die Polizei oder die Organisationen des öffentlichen Verkehrs in Nikab-Trägerinnen eine Gefahr für die Sicherheit zu erkennen vermochten, wechselte das verbotsbefürwortende Lager sein Argument: Nun sollte «das subjektive Unsicherheitsempfinden» ein Verbot rechtfertigen.

Moors schliesst mit einer Beobachtung zur Asymmetrie der Debatte: Nikab-Trägerinnen schrieben sich demnach in den Niederlanden mit ihren Argumenten gegen das Verhüllungsverbot in einen liberal-säkularen Diskurs ein, der Religionsfreiheit und weitere Menschenrechte hochhält und Diskriminierung ablehnt, erführen aber, dass die Mehrheit mit zwei unterschiedlichen Ellen messe: Geht es um objektive Sicherheit, so werde vergessen, dass sie Opfer tätlicher Angriffe im öffentlichen Raum, nicht Täterinnen seien; subjektives Empfinden der Unsicherheit werde der Mehrheitsgesellschaft zugestanden, ohne nach der Sicherheit der Nikab-Trägerinnen zu fragen; und statt zum Tragen des Gesichtsschleiers würden sie von staatlichen Einrichtungen oder der eigenen Familie weit häufiger gezwungen, ihn abzulegen. So werde ihnen verwehrt, was sie doch früher als typisch niederländisch kennen und schätzen gelernt hätten: das Recht, auch in der Öffentlichkeit eine alternative Lebensweise zu pflegen.57

Nicht nach Argumentationslinien, sondern nach Anliegen der Akteure fragen Sylva Frisk und Maris Boyd Gillette, zwei Forscherinnen der Universität Göteborg in einem Aufsatz, der neben nationalen und lokalen politischen Vorstössen auch ein breites Spektrum von Medienbeiträgen zur schwedischen Politik rund um die Vollverhüllung untersucht.58 Ähnlich wie wir es später in der Diskursanalyse tun werden, fragt der von ihnen verwendete Ansatz, welches Problem Verfechter eines Verhüllungsverbots eigentlich zu lösen beanspruchen. Die Forscherinnen stossen auf die drei aus Belgien und den Niederlanden bekannten «Probleme» sowie auf ein neues: zum Verbergen des Gesichts, zum Behindern der Kommunikation und der Unterdrückung von Frauen gesellt sich nun noch, wenn auch weniger prominent, das «Problem» des Übermasses an Religion («religious excess»). Anhand dieser vier Problemdimensionen zeichnen die verbotsbefürwortenden Stimmen Nikab-Trägerinnen als unehrlich, unglaubwürdig, fremd, übermässig religiös und undemokratisch, während Schwedinnen und Schweden gemäss diesem Bild im Gegenteil ehrlich, vertrauenswürdig, säkular und demokratisch sind. Vor allem aber werden schwedische Frauen als gleichberechtigt und frei gezeichnet, während Trägerinnen eines Gesichtsschleiers als fremde und unterdrückte Frauen unter der Knute nicht schwedischer Patriarchen leben – das Verhüllungsverbot wird zur Rettung hilfloser Frauen stilisiert. Allerdings wurde dieses Motiv unbrauchbar mit jedem Fall, mit dem publik wurde, dass nicht muslimische Schweden Nikab-Trägerinnen physisch angegriffen hatten. Ähnlich der Akzentverschiebung in den Niederlanden betonten Verbotsbefürworter nun zunehmend die schwedischen Werte, die es zu wahren gelte.

Das Rettermotiv erscheint keineswegs nur in der schwedischen Debatte. Es taucht bereits im 19. Jahrhundert auf, als Frankreich mit seiner mission civilisatrice die Kolonisierung Algeriens rechtfertigte. Ging es davor den kirchlichen Missionaren noch in erster Linie darum, das Christentum zu verbreiten und Seelen zu retten, so war die «Mission» des französischen Staates eng mit nationaler Politik verbunden.

Ähnlich liegen die Dinge, als US-Präsident George W. Bush 2001/02, sekundiert von seiner Gattin Laura, den «Krieg gegen den Terror» in Afghanistan zusätzlich damit zu rechtfertigen versuchte, dass man «diese Frauen» retten müsse. Schon 2002 ging die Ethnologin Lila Abu-Lughod den problematischen und unglaubwürdigen Aspekten dieser selbst auferlegten Mission nach. Der Titel ihres Aufsatzes fragt schlicht: «Do Muslim women really need saving?» Problematisch, so zeigte sie, ist der unhinterfragte, besserwisserische Überlegenheitsdünkel des Rettungsmotivs, verbunden mit dem Desinteresse, genauer hinzuschauen und zunächst erfahren zu wollen, welche Frauen wo und unter welchen Umständen einen Schleier tragen.

Mit der transatlantischen Allianz im «Krieg gegen den Terror» und der Berichterstattung darüber etablierten sich das Rettermotiv und das ikonische Bild der gesichtslosen Frau unter einer Stoffhülle in den frühen 2000er-Jahren rasch auch in Europa. Die bildliche Darstellung konnte dabei problemlos an ältere orientalistische Bildwelten mit dem zugehörigen Inventar an Assoziationen anknüpfen: Die stumme Orientalin, unterdrückt von einem despotischen Patriarchen, wartet demnach nur darauf, vom weissen Retter unter dem Schleier hervorgeholt und in eine lichtvolle Zukunft geführt zu werden.

Die Lage von Frauen war einst und ist heute zweifellos zum Teil gravierend; es existieren fraglos Missstände. Abhilfe ist gefragt. Initiativen von aussen haben jedoch ihre Tücken. Viele Forscherinnen wiesen längst darauf hin, «[d]ass das Sprechen über ‹Frauen im Islam› immer schon Teil von in asymmetrische Machtbeziehungen eingelassenen Repräsentations- und Wissensordnungen ist». «Auch feministische politische Interventionen laufen Gefahr, sich bei der Kritik an Geschlechterhierarchien in muslimischen Kontexten in hegemoniale Diskurse und Selbstbilder einzuschreiben», geben Bettina Dennerlein und Elke Frietsch zu bedenken. Und: «Klischeehafte Bilder verschleierter Frauen als Illustration für die Unterdrückung ‹der Frau› durch ‹den Islam›» seien ungeeignet für ein ernsthaftes, aussichtsreiches Engagement gegen die Missstände; faktisch wirkten sie eher stabilisierend, wie die Forschung gezeigt habe.59 Wie sich rassistische oder diskriminierende Positionen bisweilen mit feministischen überschneiden, hat die Forschung auch jenseits der Bilder schon seit etlichen Jahren thematisiert.60

Doch warum ist es immer wieder die Frau, an deren Körper, Verhalten oder Bekleidung vornehmlich männliche Wortführer ihre Politik konstruieren, um teils auch kriegerische Abenteuer zu legitimieren? Amélie Barras taxiert die «Obsession», muslimische Frauen «retten» oder «reformieren» zu wollen, als «essential to the (re)production and stability of many European political formations».61 Diese Sicht stützt die oben referierten Interpretationen von Frisk und Gillette zur schwedischen oder diejenigen von Moors zur niederländischen «Burka-Debatte». Gilt dies auch für die schweizerische Debatte? Die folgenden Kapitel versuchen Antworten zu geben.

Forschung zur Schweiz

Die wissenschaftliche Forschung zur Präsenz von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz hat inzwischen eine breite Palette von Aspekten bearbeitet. Der Gesichtsschleier gehört nicht dazu. Zur Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz sind keine Publikationen zu finden und es sind unseres Wissens auch keine Forschungen im Gang; wir betreten mit unserer vorliegenden Publikation also Neuland. Hingegen haben sich bereits mehrere Autorinnen und einzelne Autoren mit rechtlichen Fragen und mit der öffentlichen Debatte in Politik und Medien befasst. Während wir die fachjuristische Diskussion62 hier ausser Acht lassen, gehen wir kurz auf die übrigen Ansätze ein. Sie finden sich vorwiegend in medien- und in politikwissenschaftlichen Publikationen. In der Regel kommt darin der Gesichtsschleier lediglich als eines unter mehreren Debattenthemen vor, neben dem Minarettverbot, Moscheen, Imamen und weiteren. Die Autorinnen und Autoren gehen dabei meist dem Verlauf der Debatte während einiger Jahre nach, um im Vergleich mit dem Ausland Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen, die sie wiederum mit fachspezifischen Theorien über Themenkonjunktur, Integration, Staatsbürgerschaft oder einer Kombination dieser Bereiche verknüpfen. Wenig ergiebig sind diese meist quantitativ angelegten Studien für unsere Fragestellung, warum die Schweiz seit nunmehr 15 Jahren über eine Kleidungsform debattiert, die praktisch nie anzutreffen ist.

Am nächsten dran an diesem Thema ist die Studie von Naëmi Rickenmann, die der Frage nachgeht, wie sich die Debatten über muslimisches Kopftuch und Vollverhüllung in Grossbritannien und der Schweiz unterscheiden. Als Ergebnis einer Inhaltsanalyse von Zeitungsartikeln zeigt sich, dass sich die Debatte in der Schweiz eher um gesellschaftlich-kulturelle Fragen dreht und hier stark politisiert ist, während in Grossbritannien Aspekte der Sicherheit prominenter sind. Insgesamt ist das Thema in Grossbritannien stärker politisiert als in der Schweiz.63

Um den Charakter der Debatte zu erfassen, kann ein Blick auf die umfassendere «Islam-Debatte» helfen. So fragten einzelne Beiträge des Sammelbandes «Debating Islam» etwa nach der auffällig zentralen Rolle der Frauen als Streitgegenstand (Barras), nach der Rolle von Konvertitinnen und Konvertiten oder nach der «Grammatik», die Islamisches stets mit der Farbe Grün verbindet (Tyrer) und Wörter wie «Schwimmverweigerer» kreiert (Rohrer). Rückblicke in die Geschichte des 19. Jahrhunderts erlauben es, bisweilen frappierende Ähnlichkeiten zwischen der damaligen Diskussion über ultramontanen Katholizismus und den heutigen, ebenfalls angeblich ferngesteuerten Islam zu erkennen.64

Die Qualität der Berichterstattung über Musliminnen und Muslime in der Schweiz hat über längere Zeit wiederholt Patrik Ettinger untersucht. Besonders interessieren sollen uns hier die Befunde zur Minarettverbots-Initiative im Vergleich mit den jüngsten Erhebungen. So konnten Ettinger und Imhof zeigen, «dass sich die Deutungsperspektive des ‹clash of civilizations› in der Berichterstattung über den Karikaturenstreit65 2006 etablieren kann und in der Berichterstattung über die Minarettinitiative auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung über Muslime orientierungsstiftend wird». Überdies dominierten im Vorfeld der Minarettabstimmung Pauschalisierungen, bei denen Befürworter wie Gegner des Verbots die muslimische Minderheit in der Schweiz als homogen darstellten. Generell sei die Berichterstattung über Muslime «massgebend durch Konflikte angetrieben»; dies habe in der Medienlogik dazu geführt, dass den Verbotsbefürwortern muslimische Akteure gegenübergestellt worden seien, aber nicht etwa Verfechter von Rechtsstaatlichkeitsüberlegungen. Überdies habe der Tabubruch des Kampagnenplakats (siehe Abbildung 1 im Anhang) die Abstimmung zum wichtigsten Kommunikationsereignis im letzten Quartal des Jahres 2009 gemacht; diese Konfliktorientierung habe auch nach der Abstimmung jenen Akteuren übermässige Aufmerksamkeit beschert, «die in der öffentlichen Kommunikation radikale Positionen, d. h. radikale Deutungsperspektiven und rigide Differenzsemantiken, vertreten».66

Nach der Minarettabstimmung verändert sich die Beschaffenheit der Berichterstattung zum Teil. So wächst «[d]er Anteil der Beiträge, deren Tonalität Distanz gegenüber muslimischen Akteuren in der Schweiz erzeugt, […] relativ kontinuierlich zwischen 2009 und 2017 von 22% auf 69%». Dies erklärt sich laut Ettinger teilweise durch prominente Themen wie Radikalisierung und Terror, variiert aber auch erheblich zwischen den Medientiteln. Problematisch sei Distanz erzeugende Berichterstattung dort, «wo sie mit Pauschalisierungen verknüpft wird», wie dies stark überdurchschnittlich in der Weltwoche und im SonntagsBlick der Fall sei. Im gesamten Untersuchungsmaterial kommen Musliminnen und Muslime in 55 Prozent der Beiträge überhaupt nicht zu Wort, in weiteren 25 Prozent nur am Rande, sie bleiben somit «überwiegend Berichterstattungsobjekte». Soweit sie doch zu Wort kommen, geschehe dies «häufig in einem polarisierenden Setting» mit meist denselben Stimmen: «wenige Exponenten der An’Nur-Moschee und des IZRS einerseits und anderseits Saïda Keller-Messahli». Höhere Qualität als andere «Islam-Themen» wies die Berichterstattung rund um die Abstimmung für ein Verhüllungsverbot im Tessin 2013 auf. Nach Ettingers Erklärung haben sich in der Schweiz für die Abstimmungsberichterstattung «professionelle Routinen etabliert, die für eine zumeist hohe Qualität […] sorgen».67

Die öffentliche Debatte um Vollverhüllungsverbote steht also in einer breiteren «Islam-Debatte» und knüpft – teils explizit, wie wir zeigen werden – an der Minarettdebatte an. Diese hat insbesondere bei Musliminnen und Muslimen der jungen Generation Spuren hinterlassen. Sie löste nicht nur die Gründung des Islamischen Zentralrats Schweiz aus, sondern konfrontierte auch viele andere muslimische Jugendliche und junge Erwachsene überhaupt erst mit ihrer Religionszugehörigkeit und brachte sie dazu, eingehender zu ergründen, was Islam heisst und wie sie diese Religion leben wollen.68 Viele Musliminnen und Muslimen haben die Minarettverbots-Initiative als Zeichen der Ablehnung aufgefasst, und gerade junge haben sich dadurch aktivieren und politisieren lassen.

Die für unser Thema einschlägigste Forschung ist noch im Gang. Eine Forschungsgruppe an der Universität Bern analysiert anhand von Medienberichten die Struktur der öffentlichen Debatte über den Islam im Allgemeinen und über das Verhüllungsverbot im Spezifischen. Es geht um die Themen, Akteure und Argumente und darum, wie die kontroverse Diskussion in den medialen Debatten mit den Meinungen der Schweizer Bevölkerung zusammenhängt.69

Die Befunde von zwei Genfer Forscherinnen zum Diskurs in den politischen Institutionen bis 2016 erläutern wir auf Seite 77 im Anschluss an die Darstellung der parlamentarischen Vorstösse für ein Verhüllungsverbot.

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