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3. Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus

Die globale demografische Entwicklung lässt sich auf einer Zeitachse als ansteigende Kurve mit exponentiellem (geometrischem) Wachstum 3 darstellen. Die letzten beiden Jahrhunderte waren dabei durch eine besondere Steilheit der Wachstumskurve geprägt, die im öffentlichen Diskurs auch gern als Bevölkerungsexplosion bezeichnet wird, obwohl die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum nicht plötzlich „explodierte“, sondern sehr stetig an Wachstumstempo zunahm, zumindest bis in die 1960er-Jahre. Während um 10.000 v. Chr. vielleicht 1 bis 10 Millionen Menschen die Erde bewohnten (U. S. Census Bureau 2011), erreichte nach der Neolithischen Revolution die nunmehr in weiten Teilen sesshaftere Weltbevölkerung um Christi Geburt vielleicht 225 bis 250 Millionen. Das erste nachchristliche Jahrtausend war dann von erheblichen demografischen Schwankungen gekennzeichnet, wobei um das Jahr 1000 in etwa wieder der Ausgangsstand erreicht, wahrscheinlich sogar überschritten wurde. Im Zeitraum von ca. 1000 bis 1340 kam es dann global zu einem ganz erheblichen Wachstumsschub auf vielleicht 440 Millionen. Nach einem erheblichen Rückschlag waren um 1650 rund 600, um 1800 950 Millionen, um 1900 1,65 und um 1950 2,5 Milliarden erreicht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kletterte die Weltbevölkerung schließlich auf mehr als 6 Milliarden. Gegenwärtig sind bereits 7 Milliarden erreicht. In durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten ausgedrückt, lag das globale Bevölkerungswachstum bis um das Jahr 1000 unter 0,05 %, dann bis Mitte des 18. Jahrhunderts in sehr bescheidenen Dimensionen von 0,1 bis 0,2 %. Erst danach stieg es erheblich an und erreichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im langjährigen Durchschnitt rund 1,8 %.

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Weltbevölkerung in Millionen: Schätzungen nach ...
JahrBirabenMcEvedy/JonesMalanima/UNJVR *
1255170250
10002542652500,00
13404434400,17
16505456000,10
17507707207700,25
18501.2411.2001.2400,48
19502.5272.5002.5320,72
20006.1231,78
20106.8921,19


Malanima
JahrEuropa **WeltAnteil Europas
14325017,2
5004120020,5
10004326016,5
13408744019,8
15008446018,3
170012568018,4
180019595420,4
19004221.65025,6
20008186.17513,2
JVR * 1 – 20000,150,16

* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate

** einschließlich Russland

Tabelle 1 Europäische Bevölkerung und Weltbevölkerung 1 – 2010 (Abbildungsnachweis)

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Welche Rolle spielte nun Europa im globalen Kontext? Ab wann kann von einer europäischen Bevölkerungsgeschichte eigentlich erst gesprochen werden, und was ist an ihr überhaupt „europäisch“? Wenn man vom geografischen Begriff Europa einmal abstrahiert, ist der Beginn einer im weitesten Sinne europäischen Bevölkerungsgeschichte frühestens etwa um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends anzusetzen, wenngleich der Entstehungsprozess die gesamte zweite Hälfte des ersten nachchrist­lichen Jahrtausends zeitlich umfasste. Bis in das 5. Jahrhundert bildete das Imperium Romanum als mit Abstand bevölkerungsreichstes territoriales Gebilde auf heutigem europäischen Boden eine den gesamten Mittelmeerraum umfassende politische, ökonomische und bis zu einem gewissen Grad kulturelle Einheit, sodass es wenig Sinn macht, dessen europäische Bevölkerungsteile von den asiatischen und nordafrikanischen zu trennen, was auch aufgrund der dünnen Quellenlage kaum möglich wäre. Die mit hoher Unsicherheit zu schätzende Bevölkerungszahl des Imperiums dürfte wohl zu keinem Zeitpunkt deutlich über 50 Millionen gelegen haben (Van Houtte 1980: 15). Wie sich aus der politischen Geschichte unschwer ableiten lässt, war die Bevölkerung der in Europa gelegenen Teile des Imperium Romanum jedenfalls seit dem 5. Jahrhundert rückläufig, ohne dass die Rückgänge genau bezifferbar wären. Im späten 5. Jahrhundert zerfiel sein westlicher Teil, und auch wenn es im 6. Jahrhundert dem oströmischen Reich noch einmal für wenige Jahrzehnte gelang, einen großen Teil des Mittelmeerraums zurückzuerobern, verlor Ostrom endgültig in den Kriegen mit den Arabern seine imperiale Position und wurde zur Mittelmacht „Byzanz“. Damit zerbrach nicht nur eine romanisierte Mittelmeerwelt. „Die Untergangsphase des Römischen Reiches ist gleichbedeutend mit den Geburtswehen Europas. Am Ende des 1. Jahrtausends reichten das entwickelte Europa und der Club der christlichen Monarchien nicht mehr bis zur Elbe wie im Jahr 500 n. Chr., sondern bis an die Wolga.“ Das Ausmaß merkantiler, kultureller und demografischer Austauschbeziehungen hatte nun ein Niveau erreicht, das den Begriff „Europa“ in den Köpfen der Menschen mit Bedeutung erfüllte (Heather 2011: 349, 548).

Ein größer werdender Teil der Bevölkerung des Kontinents lebte in diesem Europa in klimatisch weniger begünstigten, auch zum Teil sehr kleinteiligen Zonen. So etwas wie „das“ europäische Klima hat es nie

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gegeben. Um die Spannweite der klimatischen Bedingungen Europas zu charakterisieren: Der Zeitraum zwischen dem letzten Frost des endenden und dem ersten des darauffolgenden Winters beträgt in Südeuropa mehr als 300 Tage, im nördlichen Russland zwei bis drei Monate (Livi-Bacci 1999: 31). Dennoch lässt sich ein langfristiger Trend der Klimakurve auf der nördlichen Hemisphäre festmachen, der in groben Zügen den Klima­verlauf zutreffend beschreibt. Kühle Perioden waren die Spätantike und das Frühmittelalter und die Zeitspanne von etwa 1300 bis 1900, die sogenannte Kleine Eiszeit (Malanima 2010a: 102). Die kältesten und auch niederschlagsreichsten zehn der letzten 500 Jahre fielen in den Zeitraum 1592 bis 1601 (Mauelshagen 2010: 65 f.). Die Kleine Eiszeit fand im Zeitraum 1675 bis 1715 im sogenannten Late Maunder Minimum 4 ihren Höhepunkt. Während als primäre Ursache der Klimaschwankungen vor allem Veränderungen der Sonnenaktivität infrage kommen, erfuhr die globale Abkühlung während des Late Maunder Minimum durch heftige Vulkanausbrüche in Teilen Asiens eine Verschärfung (Mauelshagen 2010: 78 – 84; Geiss 2007: 31). Klimatischen Ungunstlagen kam nicht zuletzt darum erhöhte Bedeutung für das Leben und Überleben der zunächst in weiten Teilen des Kontinents auf kleinen Siedlungsinseln lebenden Menschen zu, weil sie entsprechende Auswirkungen auf die lange Zeit sehr bescheidenen Ernteerträge hatten, aus denen ein erheb­licher Teil der menschlichen Nahrung hergestellt wurde. Zwar verdichteten sich im Lauf des Hoch- und Spätmittelalters und dann vor allem in der frühen Neuzeit die Austauschbeziehungen, doch blieb die Abhängigkeit von den Erträgen lokaler und regionaler Agrarproduktion ganz erheblich. Das hatte auch demografische Konsequenzen. Potenzielle Nahrungsmittelknappheit und Hunger beeinflussten den spezifischen gesellschaftlichen Umgang mit Geburt, Krankheit und Tod. Als historisch-demografische Charakteristika Europas wären etwa das European Marriage Pattern, das extramediterrane europäische Agrarsystem oder aber auch der spezifische Verlauf des „Demografischen Übergangs“ zu nennen.

Aus der weiten anthropologischen Perspektive unterschied sich die Wachstumskurve der europäischen Bevölkerung vom Frühmittelalter

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bis in die jüngere Gegenwart von der globalen nicht wesentlich. Vermutlich mehr als 40 Millionen Menschen besiedelten den Kontinent einschließlich der asiatischen Gebiete der früheren Sowjetunion um die Jahre 500 und 1000, rund 100 um 1700, 360 um 1913, mehr als ein halbe Milliarde um die Jahrtausendwende. Die Ähnlichkeit der Kurven endet allerdings im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, denn nun zeigt die Wachstumskurve in Europa – und in den außereuropäischen Industrieländern – im Gegensatz zur Dritten Welt eine ziemlich deut­liche Verflachung. Auf die demografische Entwicklung der letzten rund 60 Jahre geht auch der länger­fristige Unterschied in den durchschnitt­lichen jährlichen Wachstumsraten zurück. Die europäische Bevölkerung (einschließlich Russlands) ist in den letzten eineinhalb Jahrtausenden um 0,20 %, die Weltbevölkerung um 0,23 % jährlich gewachsen. Diese sehr langfristige Perspektive relativiert also die rezenten demografischen Wachstumsungleichgewichte zwischen Industrieländern und Dritter Welt und verweist darauf, dass sie keineswegs so festgeschrieben sind, wie das der entwicklungspolitische Diskurs der letzten Jahrzehnte suggeriert. Es mag beispielsweise überraschen, dass der Bevölkerungsanteil des „vormodernen“ Asien, das mit China und Indien in Vergangenheit und Gegenwart die mit Abstand bevölkerungsreichsten Reiche bzw. Staaten beheimatet, an der Weltbevölkerung um das Jahr 1800 mit über 70 % deutlich über jenem der Gegenwart mit knapp über 60 % lag (UN 2009: 4).

Die rezent exponentiell steil nach oben zeigende hypergeometrische Wachstumskurve der Weltbevölkerung hätte ein Mann wohl als Bestätigung seiner „Theorie“ aufgefasst, der um das Jahr 1800 Bevölkerungswachstum in einem vieldiskutierten Essay problematisierte. Thomas Robert Malthus (1766 – 1834), ein anglikanischer Geistlicher aus Surrey, der gemeinsam mit Adam Smith und David Ricardo das Dreigestirn der klassischen Ökonomie bildete, postulierte, dass sich die Bevölkerungsentwicklung ohne bewusste menschliche Eingriffe mit geometrischem Wachstum, die Erhöhung der Bodenerträge jedoch nur linear 5 steigern würden. Menschen wären daher gezwungen, immer schlechtere (Grenz-)

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Böden zu erschließen und zu bewirtschaften. Der geringere Ertrag dieser Anbaugebiete drücke die entsprechenden Einkommen, mit der Konsequenz multipler Anstiege der Sterblichkeit, die Malthus als positive checks bezeichnete. Die demografische Wirkung dieser positive checks ebenso wie jene vorbeugender Maßnahmen (preventive checks) – Einschränkung der menschlichen Reproduktion durch „Enthaltsamkeit“ – könnten aber mittel- und langfristig den Lauf des demografischen Wachstums nicht aufhalten. Zu stark sei der menschliche Vermehrungstrieb, zumindest bei den Armen und damit bei der überwiegenden und, wie Malthus mutmaßte, aufgrund ihres generativen Verhaltens zunehmenden Mehrheit der Bevölkerung (Malthus 1985: 59 – 218). Nach Malthus würde jedenfalls der Storch den Wettlauf mit dem Pflug gewinnen, wie es ein deutscher Demograf anlässlich des 200. Jahrestages der Veröffentlichung des Essays on the Principle of Population pointiert formuliert hat (Schmid 1999: 81 – 86). In den folgenden, stark erweiterten und veränderten Ausgaben seines Werkes relativierte Malthus seine pessimistische Prognose bis zu einem gewissen Grad, gestand der Industrialisierung eine mildernde Wirkung und der Auswanderung die Funktion eines Bevölkerungsventils zu. Im Kern hielt er aber weiterhin den vorindustriellen Bevölkerungszyklus weder für überwunden noch für überwindbar (Winkler 1996: 127, 207).

Der Zeitpunkt des Erscheinens von Malthus’ Essay im ausgehenden 18. Jahrhundert war keineswegs zufällig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte der eurasische Kontinent ein anhaltendes Bevölkerungswachstum bei sich verschlechternden Überlebensbedingungen (Pomeranz 2000: 211 – 242). Diese von Zeitgenossen wie Malthus als bedrohlich wahrgenommene demografische Situation beförderte in England eine Debatte über das System der vergleichsweise großzügigen englischen Armengesetze, die noch aus elisabethanischer Zeit stammten (Old Poor Law). Im Gegensatz zu einigen philanthropischen Aufklärern agitierte Malthus gegen die Armenhilfe, würde sie doch die Armen seiner Meinung nach nur zur Zeugung und Gebärung weiterer Kinder ermuntern (Sieferle 1990: 81 – 111).

Malthus war allerdings keineswegs der Erste, der sich mit demogra­fischen Fragen beschäftigte, und er war auch nicht der Erste, der im ausgehenden 18. Jahrhundert vor der sich abzeichnenden Dynamik des

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Bevölkerungswachstums warnte. Aber keiner seiner Vorläufer und Zeitgenossen malte ein derartig apokalyptisches Bild der zukünftigen Entwicklung an die Wand, und vielleicht gerade darum blieb er bis heute der einflussreichste „Demograf“ in der Wissenschaftsgeschichte. Vorerst stießen Malthus’ Thesen allerdings nicht auf breite Akzeptanz. In einer späteren Ausgabe seines Essays bemerkte Malthus lakonisch: „Norwegen ist, glaube ich, das einzige Land in Europa, wo ein Reisender Ansätze der Besorgnis wegen einer überschüssigen Bevölkerung hören wird […]“ (Malthus 1900: 209). Tatsächlich herrschte in Kontinentaleuropa im Geist merkantilistischer Populationistik die Idee einer „volkreichen Gemein“ als ein bevölkerungspolitisch anzustrebendes Ziel vor, wie es der „österreichische“ Merkantilist Johann Joachim Becher (1635 – 1682) mehr als ein Jahrhundert davor formuliert hatte. Dieser pronatalis­tische Diskurs wurde im 18. Jahrhundert in den Rahmen einer göttlichen Ordnung – so der preußische Geistliche und Demograf Johann Peter Süßmilch – gestellt. Süßmilch und andere Vertreter der optimistischen Naturtheorie des 18. Jahrhunderts gingen davon aus, dass dieser Ordnung ein Gleichgewichtszustand zwischen Bevölkerung und Ernährungsbasis entspreche, der sich langfristig immer wieder einstelle (Sieferle 1990: 68 f.). In den 1830er- und 1840er-Jahren gewann malthusianisches Denken jedoch immer mehr Anhänger, die Malthus’ Prognosen durch das Elend des frühen Industrieproletariats und dessen sprunghafter Vermehrung bestätigt sahen. Aber viele seiner Epigonen propagierten nicht laissez-faire, wie jedenfalls noch der frühe Malthus, sondern aktive Bevölkerungspolitik (Rainer 2005: 78 – 81). Damit war der Weg zum Neomalthusianismus gewiesen, der den „späten“ Malthus insofern rezipierte, als er auf Familien­planung und Heiratsverbote setzte.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde Malthus’ Prognose jedoch mehr und mehr von den Fakten widerlegt, zunächst weniger, weil er die Bevölkerungsdynamik, als vielmehr, weil er die Möglichkeiten der Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Flächen und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge durch Steigerung der Arbeitsproduktivität unterschätzt hatte. Die Versorgungslage blieb jedoch noch einige Jahrzehnte – vor allem aufgrund der hohen Transportkosten – prekär. Im Rahmen der Ernährungsgeschichte Europas reicht das 18. Jahrhundert,

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wie treffend formuliert wurde, bis in die 1840er-Jahre. Die letzten schweren durch Ernteausfälle verursachten Hungersnöte in Europa westlich von Russland fielen in die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts: in Deutschland in die Jahre 1816/17 und 1846/47, in Irland in die Jahre 1845 bis 1848. In Finnland ereignete sich im Jahr 1867 die letzte große Subsistenz­krise (Osterhammel 2009: 302). Aber schon in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts war das Wachstum des agrarischen Outputs in einem großen Teil der werdenden Industrieländer deutlich über dem Bevölkerungswachstum gelegen, besonders in Nordamerika und Australien. Auf der Basis dieser Outputüberschüsse sorgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die „Delokalisation des Hungers“ durch die Einführung neuer Transport- und Konservierungstechniken für das Ausbleiben von Hungersnöten (Montanari 1993: 188 – 192). Die Ackerfläche wurde im Zeitraum von ca. 1860 bis 1910 in Europa, Russland und den westlichen „Außenposten“ (Nordamerika, Australien u. a.) von 255 Millionen auf 439 Millionen ha erweitert, vor allem in den USA und Russland (Grigg 1992: 19). Auf die übrige Welt traf das freilich nicht zu. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 stieg die Agrarproduktion pro Kopf in den Industrieländern um 0,55 % jährlich, während sie im Rest der Welt stagnierte (Federico 2009: 16 – 19). Das hatte nicht zuletzt mit den jeweils gebräuchlichen und verbreiteten Anbauformen zu tun. Der etwa in Süd- und Mittelchina betriebene arbeitsintensive Nassreisanbau erlaubte keine vergleichbare „Agrarrevolution“. Außerdem bestanden keine mit Europa und seinen Außenposten einschließlich Sibiriens vergleichbaren Reserven an kultivierbarem Land, zumindest wenn man den damaligen Stand der Agrartechnologie berücksichtigt. Zudem fehlte es etwa in China im späten 19. Jahrhundert am Zugang zu Kunstdünger (Osterhammel 2009: 318 f.). Ähnliche Einschränkungen lassen sich auch für den indischen Subkontinent und Südostasien treffen. Im 20. Jahrhundert ergriff eine auf den Einsatz von Kunstdünger basierende echte Agrarrevolution allerdings immer größere Teile Erde. Die globale Dimension dieser Ausweitung wird u. a. daraus ersichtlich, dass gegenwärtig 80 – 90 % des kultivierbaren Landes auf der Welt auch tatsächlich genutzt werden (Persson 2010: 44).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien sich zunächst das Malthus’sche Szenario in der Dritten Welt nachträglich zu bestätigen.

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Malthus fand wieder Beachtung vor allem im angloamerikanischen Raum (Coleman / Schofield 1988), manchmal in einer evolutionsbiologistischen Form (Galor 2011: 232-284). Seine Wiederentdeckung verdankte Malthus der Kritik an der Entwicklungshilfe. Schon um 1970 sprachen sich Einzelne, wie der englische Mediziner Maurice King, für ein laissez-faire in der Entwicklungspolitik aus (Rainer 2005: 170). Bevölkerungspolitische Programme traf der – nicht immer ungerechtfertigte – Vorwurf, dass sie keine Wirkung zeigten, also letztlich wie die Armenunterstützung zwei Jahrhunderte davor angeblich reine Geldverschwendung seien (Connelly 2008). Darüber hinaus ging diese Denkrichtung so weit, Entwicklungshilfe als unmoralisch zu diskreditieren, da die begrenzten Ressourcen der Erde das Erreichen des Entwicklungsniveaus der Industrieländer durch große Teile der Dritten Welt ohnehin nicht zulassen würden (Birg 1996: 132). Auch das klassische malthusianische Argument, Bevölkerungswachstum erzeuge unausweichlich Hunger, tauchte im Überbevölkerungsdiskurs erneut auf (Rainer 1995: 207). Mittlerweile gibt es allerdings massive Hinweise, dass Malthus auch diesmal irren könnte, da sich auch in zahlreichen Teilen der Dritten Welt, ob nun mit west­licher Hilfe oder ohne sie, Anzeichen einer langfristigen demografischen Wachstumsverlangsamung zeigen. Das Wachstum der Weltbevölkerung erreichte in absoluten Zahlen 1989/90 seinen höchsten Wert und die Wachstumsrate schon 1963/64. Seitdem sinken beide Größen kontinuierlich (Münz / Reiterer 2007: 114).

Ein Rückzugsgebiet fanden Anhänger des malthusianischen Modells jedoch in der Behauptung, es sei jedenfalls das klassische Erklärungsmuster für das demografische Geschehen in der vorindustriellen Welt. Das englische Bevölkerungswachstum im Zeitraum von 1680 bis 1820 schien diese Annahme zu untermauern. Nach einschlägigen Berechnungen waren dem Sinken des Heiratsalters im ökonomisch prosperierenden vor- und frühindustriellen England rund 80 % des Wachstums zuzuschreiben. Das Reproduktionsverhalten der englischen Unterschichten entsprach also dem malthusianischen Modell (Boyer 1989). Für andere Perioden der englischen Bevölkerungsgeschichte ist dieser Zusammenhang aber nicht in der gleichen Weise zu belegen (Wrigley 2004: 348 f.).

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Nun soll keineswegs behauptet werden, Malthus’ Beobachtungen wären völlig unzutreffend gewesen. Beispielsweise erbrachte eine ökonometrische Analyse für Frankreich im Zeitraum von 1677 bis 1734, dass Schwankungen der Getreidepreise immerhin 46 % der Schwankungen aller Sterbefälle mit Ausnahme der Kleinkinder erklären können. Für einen vergleichbaren Zeitraum in England betrug der Prozentsatz jedoch nur 24 % (Galloway 1988: 275 – 304). Aber abgesehen davon, dass solche Modellrechnungen von der gewählten Methode und den berücksichtigten intervenierenden Variablen abhängen, wird aus diesen Beispielen allein ersichtlich, dass sich die als checks beschriebenen Mechanismen nicht in diesem Ausmaß generalisieren lassen, wie das Malthus und seine Apologeten suggerieren. So bewirkte beispielsweise die Verdoppelung der Getreidepreise in Nordfrankreich infolge des Jahrtausendwinters von 1709 wohl eine Verdoppelung der Sterberate, im englischen ­Winchester blieb hingegen die Sterblichkeit konstant, und in der Toskana ging der Anstieg der Sterblichkeit dem Preisanstieg voran. Überhaupt hatten schon im frühneuzeitlichen England Preisanstiege und damit verbundene sinkende Reallöhne nur sehr begrenzte Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Weder 1647 noch 1649 oder 1710 kam es zu einem nennenswerten Anstieg der Mortalität (Livi-Bacci 1999: 74 – 76). Positive checks fanden also nicht im erwarteten Ausmaß statt, nicht zuletzt, weil Hunger und Unterernährung nicht nur ein Problem des Nahrungsmittelangebots, sondern auch eines der Verteilung sind. Indirekte Effekte von Ernteausfällen wie durch sie verursachte Migrationsbewegungen bei unterentwickelten Märkten trugen oft eher zu Mortalitätsanstiegen bei als Folgen von Unterernährung (Walter / Schofield 1991: 53 f.). Die „Verwundbarkeit“ einer bestimmten Population (Mauelshagen 2010: 95 – 97) ist also mit Bezug auf die Mortalität das eigentliche Kriterium, wie auch eine vergleichende Studie zur Ernte- und Teuerungskrise der frühen 1770er-Jahre in der Schweiz und in Böhmen belegt. Letztere sorgte in Böhmen für einen demografischen Einbruch, in der Schweiz jedoch nicht (Pfister / Brázdil 2006).

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Grafik 1 Bevölkerung in Böhmen 1768 – 1790 (nach Konskriptionen) (Abbildungsnachweis)

Die unterschiedliche Verwundbarkeit von Gesellschaften verweist auf einen weiteren Kritikpunkt: den postulierten Mechanismus zwischen Bevölkerungswachstum und Realeinkommen. Ganz im Gegensatz zu den Annahmen von Malthus konnte empirisch gezeigt werden, dass Bevölkerungswachstum langfristig keineswegs notwendigerweise zu sinkenden Realeinkommen führt. “This is the crucial criticism because it suggests that a positive shock to technology and wages can have permanent effects not on population but on real wages as well” (Persson 2010: 49). Die Unterschätzung des Einflusses des technologischen Fortschritts und zudem auch der positiven Effekte der internationalen Arbeitsteilung bei Malthus überrascht. Vor allem Letztere hätten Malthus, den Augenzeugen des Aufstiegs Großbritanniens zum „Exportweltmeister“, nicht entgehen dürfen.

Aber selbst wenn man die genannten Einflussfaktoren beiseite lässt, stellt sich die Frage der Relevanz des von Malthus beschriebenen Krisen­mechanismus im vorindustriellen Europa, in Nordamerika und Australien. Ganz abgesehen davon, dass ungeklärt bleibt, ab welchem Zeitpunkt die Qualität der Grenzböden zu sinkenden Einkommen führt, spielte deren Bewirtschaftung in Europa lediglich in der ersten Hälfte des 14., gegen Ende des 16. Jahrhunderts oder aber auch im 18. Jahrhundert eine gewisse, gleichwohl regional begrenzte Rolle, in den von

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europäischen Auswanderern besiedelten Überseegebieten aber praktisch überhaupt nicht. Und auch in Europa gab es Landreserven: Im 18. Jahrhundert waren in Ostpreußen, in der pannonischen Tiefebene und in Südrussland ganz erhebliche Neubesiedlungsgebiete mit sehr ertragreichen Böden verfügbar. Über weite Strecken der europäischen Bevölkerungsgeschichte war der Kontinent ohnehin dünn besiedelt und der Mangel an ertragreichen Böden nicht das zentrale Problem, sondern viel eher ein Mangel an Menschen. Waren diese in genügender Zahl vorhanden, so produzierten die in der Landwirtschaft Tätigen in steigendem Maße und mit erhöhter Effizienz für den Markt. In Norditalien, den Niederlanden, in Südostengland und im Pariser Becken entwickelten sich schon im Spätmittelalter Zonen hoher agrarischer Produktivität. Es gab genug Dünger aufgrund der hohen urbanen Bevölkerungsdichte, und agrartechnische Fortschritte verbreiteten sich rasch (Persson 2010: 51). Eine Grundannahme der klassischen Ökonomie erweist sich demnach für die vorindustriellen Verhältnisse als ziemlich unerheblich (Grantham 1999).

Die Kritik an Malthus geht jedoch über seine fragwürdigen ökonomischen Annahmen hinaus. Wer die europäische wie auch die globale Bevölkerungskurve bis weit in das 19. Jahrhundert betrachtet, dem fallen auf den ersten Blick jene tiefen demografischen Einschnitte auf, die die großen Seuchenbewegungen – in Eurasien und Nordafrika vor allem die Pest – erzeugten. Ab der Neolithischen Revolution waren menschliche Gesellschaften bis weit in das 19. Jahrhundert primär Agrargesellschaften, die durch das enge Zusammenleben von Menschen und Tieren gekennzeichnet sind. In solchen entstehen Zoonosen, von Tier zu Mensch wechselseitig übertragbare Infektionskrankheiten. Die Erreger von Zoonosen können mutieren und von Parasiten der Tiere zu Parasiten des Menschen werden, so etwa im Fall der Rinder die Tuberkulose, im Fall der Schweine die Grippe. Über das Wasser, die Luft oder die Blutbahn verbreiten sie sich endemisch und nicht zuletzt epidemisch. Nun ist die Letalität bei manchen dieser Infektionskrankheiten von den materiellen Lebensverhältnissen – Ernährung, Wasserversorgung, Wohnbedingungen – abhängig. Unterernährte Menschen fielen bestimmten Seuchen, vor allem jenen, die die Verdauungsorgane angriffen, viel eher zum Opfer als andere. Infektionen beschleunigten auch im Lebenslauf

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den Ausbruch degenerativer Erkrankungen, die in den modernen Industriegesellschaften in der Regel auf das höhere Alter beschränkt bleiben (Fogel 2004: 32). Es gibt aber eine Reihe von Infektionskrankheiten, deren Morbidität und Letalität nur wenig vom Ernährungszustand des infizierten Individuums abhängt (Lunn 1991: 137). Dazu zählen mit der Pest und den Pocken zwei epidemisch auftretende Infektionskrankheiten, von denen erstere die Bevölkerungsentwicklung Europas im Früh- und Spätmittelalter und im 16. und 17. Jahrhundert ganz entscheidend beeinflusste, während letztere im 18. Jahrhundert eine wichtige, wenngleich mit der Pest nicht ganz vergleichbare Rolle spielte. Damit werden dem Erklärungsgehalt der Malthus’schen checks deutliche Grenzen gesetzt, die in der Epidemiologie sowie in der Klimageschichte und nicht in der Wirtschaftsgeschichte zu suchen sind (Lee / Anderson 2002: 217).

Auch der Zusammenhang zwischen materiellen Lebensverhältnissen und Sterblichkeit ist keineswegs so einfach, wie das Malthus dachte. Der Ernährungszustand kann einerseits durch Veränderungen in der Verfügbarkeit der Nahrungsmittel, andererseits aber auch infolge von Änderungen des menschlichen Energiebedarfs durch Schwankungen von Arbeitsintensität, Klima und Krankheiten beeinflusst werden. Im Extremfall führt dauernde Unterversorgung menschlicher Populationen zum Bevölkerungsrückgang durch den mittel- oder unmittelbaren Hunger­tod. Leichte Unterernährung kann jedoch das Immunsystem sogar stärken (Walter / Schofield 1991: 18 f.). Um die Sache noch komplizierter zu machen, gibt es historisch und gegenwärtig zudem unterschiedliche Niveaus des Ernährungszustandes mit gleichem relativen Sterberisiko (Fogel 2004: 23 – 27).

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3 Wachstum mit einem bestimmten konstanten Prozentsatz.

4 Benannt nach dem Solar-Astronomen Edward W. Maunder (1851 – 1928).

5 Wachstum mit einem bestimmten absoluten Betrag.