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4. Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Bei der Betrachtung der europäischen Bevölkerungsentwicklung lassen sich zwei voneinander grundlegend zu trennende Phasen unterscheiden. Während die „vormoderne“ Bevölkerungsgeschichte durch ein hohes Maß an Bestimmtheit durch die natürlichen Rahmenbedingungen menschlicher Reproduktion geprägt war und der Einfluss der in Agrargesellschaften verbreiteten Zoonosen zu einem Auf und Ab der demografischen Entwicklung beitrug, hat sich im 19. und 20. Jahrhundert die Industriegesellschaft von dieser Abhängigkeit gelöst, wenngleich Infektionskrankheiten als stille, häufig allerdings nicht letale Bedrohung bestehen geblieben sind. Malthusianisch ist die „vormoderne“ Phase nur insofern zu nennen, als in ihr auch die von Malthus beschriebenen preventive checks und positive checks eine gewisse Rolle gespielt haben, nicht jedoch im Sinne eines allgemein gültigen demografischen Regimes. Gemäß dem Gewicht biologischer Einflussgrößen und als positive checks interpretierbarer Krisenmortalität und -fertilität 6 unterschied sich die vormoderne von der modernen Phase der europäischen Bevölkerungsgeschichte durch den Gegensatz zwischen einem Auf und Ab und einem mit Ausnahme der beiden Weltkriege kontinuierlichen, wenngleich im 20. Jahrhundert sich verlangsamenden Wachstum.
Die erste demografische Auf- und Ab-Phase erlebten und erlitten die in Europa lebenden Menschen im Frühmittelalter. Das 6. Jahrhundert stand in Europa eindeutig im Zeichen sich verschlechternder Lebensbedingungen, die allein bereits einen Bevölkerungsrückgang bewirkt hätten (McCormick 2001: 38 – 40). Den nachdrücklichsten Einfluss hatten jedoch die
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sogenannten justinianischen Pestwellen. Diese Pestwellen erreichten Europa um das Jahr 540 und hielten bis Mitte des 8. Jahrhunderts an. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts dürfte ein Tiefpunkt mit Bevölkerungsverlusten von rund einem Drittel bis zur Hälfte der Ausgangsbevölkerung erreicht worden sein. Nach einer Schätzung von J. C. Russell schrumpfte im Zeitraum von ca. 500 bis 650 die Bevölkerung in Südeuropa von 13 auf 9 Millionen, in West-, Mittel- und Nordeuropa von 9 auf 5,5 und in Osteuropa von 5,5 auf 3,5 (Russell 1983: 21). Die folgende „karolingische“ Aufschwungphase konzentrierte sich auf West- und (Ost-)Mitteleuropa. Sie wurde getragen von einer Siedlungsbewegung gegen Osten und ist in erster Linie siedlungsgeschichtlich und hinsichtlich der wachsenden Größe von Siedlungseinheiten zu fassen. Archäologische und einzelne demografische Befunde lassen auf eine Verdopplungszeit der Bevölkerung im 8. und 9. Jahrhundert von 50 bis 150 Jahren schließen (Verhulst 2002: 25; Toubert 1997: 102). Der Aufschwung wurde allerdings durch Hungersnöte und die politische Destabilisierung der späten Karolinger- und frühen Ottonenzeit (Wikinger, Sarazenen- und Magyareneinfälle) unzweifelhaft gebremst. Im langfristigen Vergleich dürfte der Bevölkerungsstand der Spätantike um die Jahrtausendwende wieder erreicht, vielleicht sogar leicht überschritten worden sein.
In Italien um die Mitte des 10. Jahrhunderts, im übrigen Europa etwa ein halbes Jahrhundert später, setzte nun ein wesentlich länger anhaltender demografischer Aufschwung erheblichen Ausmaßes ein. Die Bevölkerung Europas ohne Russland dürfte sich im Zeitraum von ca. 1000 bis 1300 mehr als verdoppelt haben. Der breite demografische Anstieg bildete sich in einer höchst dynamischen Städtegründungsphase und verschiedenen Kolonisationsbewegungen siedlungsgeschichtlich ab, wobei der sogenannten deutschen Ostkolonisation die größte Bedeutung zukam. Die Bevölkerung der Mittelmeerländer wuchs unterdurchschnittlich, während jene West- und Mitteleuropas sich annähernd verdreifacht haben dürfte. Nur in Teilen Osteuropas verursachte der Mongolensturm von 1241 einen temporären demografischen Rückschlag. So ist die Bevölkerung des Königreich Ungarns, die um 1240 etwa 1,2 bis 1,5 Millionen umfasste, wahrscheinlich um rund 200.000 geschrumpft (Russell 1983: 21; Kristó 2007: 49).
Die von 1300/50 bis 1450/1500 reichende, nicht nur demografische spätmittelalterliche Krise stand am Beginn der Kleinen Eiszeit, einer
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Verschlechterung der klimatischen Bedingungen in weiten Teilen Europas in Form von niedrigen Temperaturen und Niederschlagsarmut (in Osteuropa). Hungersnöte erschütterten im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts weite Teile Europas. Der fundamentale Schock der großen Pestwelle von 1348/53, gefolgt von weiteren Wellen, stellte aber das zentrale demografische Ereignis dar, sodass zu Recht vom Zeitalter des „Schwarzen Todes“ gesprochen werden kann. Der ersten Pestwelle fiel ein Drittel, wenn nicht möglicherweise die Hälfte der europäischen Bevölkerung zum Opfer, die folgenden Wellen verhinderten für etwa ein Jahrhundert eine entsprechende demografische Erholung. Verschärft wurden die Bevölkerungsverluste durch langwierige kriegerische Auseinandersetzungen, insbesondere den Hundertjährigen Krieg in Frankreich und die Hussitenkriege in (Ost-)Mitteleuropa.
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehrten sich Anzeichen eines Aufschwungs, sodass nach 1500 zum Teil annähernd wieder das Ausgangsniveau von vor der großen Pest erreicht wurde, nicht jedoch in den Mittelmeerländern und in England. Das 16. Jahrhundert war dann von einem sehr ausgeprägten und breiten Bevölkerungsboom gekennzeichnet. Insgesamt dürfte die europäische Bevölkerung in diesem Jahrhundert nach einer plausiblen Schätzung von rund 70 auf 90 Millionen gewachsen sein. Das entsprach einer Wachstumsrate von 0,25 % (ohne das Gebiet der späteren Sowjetunion). Nicht ganz zufällig waren die wirtschaftlich entwickelten Gebiete auch die Hauptgewinner dieses Aufschwungs. Im späteren Großbritannien nahm die Bevölkerung von etwa 4 auf 6, in den Niederlanden von etwa 0,95 auf 1,5 Millionen zu, was jährlichen Wachstumsraten von etwa 0,45 % entsprach. Auch im deutschsprachigen Raum war das Wachstum ausgeprägt. Diese Wachstumspole verweisen auf die steigende demografische Bedeutung der großen urbanen Gewerbe- und Handelszentren und damit auf ein demografisches Wachstum, welches aus dem allmählichen Entstehen einer rudimentären Weltwirtschaft zumindest teilweise erklärt werden kann. In den schon zuvor vergleichsweise dicht besiedelten Regionen Italiens und in Frankreich fiel das Wachstum etwas schwächer, in absoluten Zahlen allerdings ebenfalls durchaus beträchtlich aus (Maddison 2001: 241).
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Territorium | Zeitraum | um 1500 | um 1600 | Zähleinheit |
Königreich Neapel * | 1501 – 1595 | 254.380 | 540.090 | besteuerte Feuerstätten |
Sizilien | 1501 – 1607 | 490.000 | 831.944 | Einwohner |
Sardinien | 1485 – 1603 | 26.263 | 66.669 | Feuerstätten |
Schweiz | 1500 – 1600 | 582.000 – 605.000 | 895.000 – 940.000 | Einwohner |
Herzogtum Steiermark | 1528 – 1617 | 373.000 | 478.000 | Einwohner |
* Ohne Neapel Stadt
Tabelle 2 Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert in ausgewählten Territorien (Abbildungsnachweis)
Um 1600 befand sich Europa in etwa in jener Situation, wie sie um 1300 bestanden hatte. Das 17. Jahrhundert kann dann nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt als Krisenjahrhundert bezeichnet werden. Es wurde geprägt von Krieg, Hungersnöten und erneut schweren Pestausbrüchen, die bis zu einem gewissen Grad durchaus in einem systemischen Zusammenhang standen (Parker 2008). Dennoch war die Wirkung dieser apokalyptischen Plagen nicht mit jener des „Zeitalters des Schwarzen Todes“ zu vergleichen. Das lag vor allem daran, dass Pestepidemien nicht flächendeckend auftraten, nicht die Stärke der Epidemie von 1348/53 hatten, aber auch an der raschen ökonomischen und demografischen Regenerationsfähigkeit der boomenden atlantischen Ökonomien. Besonders stark betroffen von der Krise waren Norditalien und Spanien, vor allem durch die Folgen der schweren Pestepidemie von 1630/31 und 1647/52, und Mitteleuropa, das im Dreißigjährigen Krieg rund ein Drittel seiner Bevölkerung verlor. Hingegen kompensierten die aufsteigenden westeuropäischen Mächte nicht nur die durch (Bürger-)Kriege verursachten Bevölkerungsverluste, sondern verzeichneten trotz mancher Einbrüche insgesamt eine positive Bevölkerungsbilanz. Nord- und Osteuropa waren hingegen ebenfalls durch krisenhafte politische Entwicklungen, die in eine Serie von Kriegen mündeten, in ihrer demografischen Wachstumsdynamik gehemmt. Insgesamt nahm im 17. Jahrhundert die europäische Bevölkerung daher nur leicht zu.
Das „lange“ 18. Jahrhundert (1700 – 1820) sah wieder einen beträchtlichen Bevölkerungsanstieg von rund 100 auf 170 Millionen. Das entsprach
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einer Wachstumsverdopplung im Vergleich zum 16. Jahrhundert. Das durchschnittliche jährliche Wachstum in Europa lag nun auf einem Niveau, wie es in England und den Niederlanden im 16. Jahrhundert bestanden hatte, in Osteuropa sogar etwas darüber. Der demografische Aufschwung des 18. Jahrhunderts wurde durch eine noch vornehmlich auf dem Arbeitseinsatz beruhende Steigerung der Agrarerträge und durch Ansätze von Massenfertigung in der Produktion (Verlag, Manufaktur), die mit der Verbreitung von Lohnarbeit verbunden waren, begleitet. Dies ließ das durchschnittliche Heiratsalter sinken und die Fertilität ansteigen. Sieht man von Großbritannien ab, kam die größte Bedeutung jedoch dem Ausbleiben der Pestepidemien ab etwa 1720 zu. Lediglich der Balkan und das Russische Reich wurden auch noch danach von Pestepidemien heimgesucht. Der demografische Schwerpunkt des Wachstums lag weiter im Nordwesten, auf den Britischen Inseln und in den Niederlanden.
Nach dem Zeitalter der napoleonischen Kriege, die den Wachstumspfad für rund zwei Jahrzehnte unterbrachen, erlebte Europa von etwa 1820 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs seine größte demografische Expansion. Im langjährigen Durchschnitt betrug die Wachstumsrate 0,75 %, etwas mehr in Ost, etwas weniger in Westeuropa. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden in Teilen Nordwesteuropas, in England, Irland und Norwegen, sogar durchschnittliche Wachstumsraten um 1,5 % und darüber erreicht (Grigg 1980: 237; Wrigley 2004: 348). Die Expansionsphase war zunächst in den 1820er- bis 1840er-Jahren durch ein Aufgehen der Schere zwischen den Geburten und Sterbefällen in vielen Teilen Europas geprägt, was sich aus einem noch nicht sehr ausgeprägten Rückgang der Sterblichkeit erklärt (Chesnai 1992: 54 f.). Unterbrochen wurde diese Wachstums- durch eine Krisenphase um die Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Phase sanitärer Not, vor allem in den wachsenden Großstädten. Die Überlebensverhältnisse waren dort nun so schlecht, dass man von einem urban penalty 7 (Gerry Kearns) sprechen kann. Ab etwa 1870 setzte dann auf breiter Ebene jene transitorische Phase des
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Demografischen Übergangs ein, die durch einen dauerhaften, lediglich durch den Ersten Weltkrieg und dessen unmittelbare Nachkriegsjahre unterbrochenen Rückgang der Mortalität und einen verzögerten, phasenverschobenen der Fertilität gekennzeichnet war. Wesentlicher Wachstumsmotor war nun der enorme Anstieg der Lebenserwartung 8, vor allem infolge der sanitären Revolution, dem nach der Jahrhundertwende eine breite Medikalisierung 9 und ein von der größeren biografischen Planbarkeit getragener Wandel des generativen Verhaltens in Richtung Kleinfamilie folgte (Leonard / Ljungberg 2010).
Fortsetzung
Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Europa und anderen Weltteilen 1 – 2003 (Abbildungsnachweis)
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In der Weltkriegsepoche kam es zu einer Halbierung des demografischen Wachstums, das sich nun im langjährigen Durchschnitt zwischen 0,3 und 0,4 % bewegte. In den entwickelten Industriestaaten schloss sich die Schere zwischen Geburten und Sterbfällen wieder und ein posttransitorischer Zustand gemäßigten Wachstums trat ein. In Deutschland und Österreich führte eine Geburtendepression zu ungewöhnlich niedrigen, bis in die Gegenwart nicht mehr unterschrittenen Fertilitätsniveaus. Diese Geburtendepression wurde durch eine „Abtreibungsrevolution“ verstärkt, wahrscheinlich sogar wesentlich mitbestimmt. Die fatalen Wirkungen beider Weltkriege sorgten für eine zusätzliche Wachstumsbremse. Dass trotz der gefallenen Soldaten und zivilen Opfer – im Ersten Weltkrieg ohne Zivilopfer unter der russischen Bevölkerung vielleicht 12 bis 13 Millionen Europäer (Overmans 2009: 664 f.), im Zweiten Weltkrieg mindestens 50 Millionen, davon rund 18 Millionen nicht sowjetische und bis zu 37 Millionen sowjetische Opfer (einschließlich der asiatischen Teilrepubliken) (Overmans 1990: 103 – 121; Ehmer 2004: 14; Rianovosti vom 7.5.2009) – die Bevölkerung Europas langfristig weiter zunahm, lag an der angesichts der schwierigen ökonomischen
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Rahmenbedingungen erstaunlichen Fortsetzung des rasanten Anstiegs der Lebenserwartung, zum Teil auch an der noch relativ hohen Fertilität in Ost, Südost- und Südeuropa.
Kurzfristig nach 1945 und vor allem seit den späten 1950er-Jahren erlebte Europa einen Babyboom bei anhaltendem kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung. Dieser Anstieg wurde nun durch materiellen und medizinischen Fortschritt – Verbreitung von Antibiotika und Immunisierung – getragen. Der Aufbau von Wohlfahrtsgesellschaften und ein Revival traditioneller Familienbilder schufen ein pronatalistisches gesellschaftliches Klima, welches durch einen fortschrittsoptimistischen Mainstream zusätzlichen Auftrieb erhielt. Das demografische Wachstum lag nun wieder bei den vor 1914 erreichten Werten – in Westeuropa im Zeitraum von 1950 bis 1973 bei 0,7 %, in Osteuropa bei 1 %, in der Sowjetunion sogar bei 1,4 % (Maddison 2007: 376).
Der bereits vor der massenhaften Verbreitung der Antibabypille einsetzende, aber durch sie massiv verstärkte „Pillenknick“ beendete jedoch den Babyboom ziemlich abrupt und endgültig. Vor dem Hintergrund eines säkularen Wandels von Familienleitbildern und -funktionen kam es zu einer neuerlichen Halbierung des Wachstums bei einer annähernden Stagnation der Geburtsbevölkerung. Zuwächse ergaben sich jedoch direkt durch außereuropäische Zuwanderung, indirekt durch die überdurchschnittliche Fertilität dieser Zuwanderergruppen aus der Türkei, den ehemaligen Kolonien der europäischen Großmächte sowie nach und nach auch aus anderen Teilen der Dritten Welt. Seit den 1970er-Jahren mutierte Europa endgültig zum Einwanderungskontinent. Der Anstieg der Lebenserwartung setzte sich in dieser Phase kontinuierlich fort. Eine Ausnahme bildeten lediglich kurzfristig die ehemaligen Sowjetrepubliken, die von einer ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationskrise betroffen waren. Dort sank sogar zumindest temporär die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung. Insgesamt erreichte das Bevölkerungswachstum in Europa nur noch relativ bescheidene Dimensionen, in Europa außerhalb der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten rund 0,3 % jährlich (Maddison 2007: 376).
Im kontinentalen Vergleich stellte sich die Entwicklung nach groben Schätzungen wie folgt dar: Im Zeitraum von ca. 500 bis 1000 stagnierte
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die eurasische Bevölkerung, jene Nordafrikas schrumpfte sogar beträchtlich. Hingegen erlebte das tropische Afrika vermutlich eine Verdoppelung seiner Bevölkerung und jene der beiden Amerikas nahm vielleicht um rund ein Drittel zu (McEvedy / Jones 1978: 206 – 317; Russell 1983: 22). Von etwa 1000 bis 1500 war erstmals eine Sonderentwicklung Europas festzustellen, die von der hochmittelalterlichen Expansionsphase bestimmt wurde. Das Wachstum bis etwa 1300, vor allem das im 13. Jahrhundert, war so ausgeprägt, dass trotz der Pestwelle von 1348/53 die durchschnittliche Wachstumsrate mit 0,16 % fast doppelt so hoch ausfiel wie in Asien. In der frühen Neuzeit bis etwa 1820 lagen Europa und Asien vom demografischen Wachstumstempo her wieder gleich auf. In der Phase der Industriellen Revolution(en) und danach wich das Bevölkerungswachstum in Europa und seiner transatlantischen Außenposten in Amerika und Australien wieder stärker vom Rest der Welt ab. Im Zeitraum von 1820 bis 1913 betrug die Wachstumsrate in Europa 0,75 %, in Asien 0,34 %, weltweit rund 0,6 %. Im 20. Jahrhundert kehrte sich dieses Verhältnis um, wobei die Unterschiede immer größer wurden. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung in Teilen der Dritten Welt erheblich zu. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war das asiatische Bevölkerungswachstum etwa sechs Mal so hoch wie das europäische. Der demografische Aufstieg Europas fand also vor allem im 19. Jahrhundert statt (Osterhammel 2009: 184 f.) und war von sinkender Mortalität bestimmt. Lediglich Japan, dessen Entwicklung zunächst relativ isoliert von der asiatischen verlief und welches nach der Meiji-Revolution einen der europäischen Entwicklung ähnlichen Wandel zu einer Industriegesellschaft erlebte, bildete eine Ausnahme. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Japan lag um 1820 und auch um 1900 nahe bei der westeuropäischen (Maddison 2001: 30).
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Jahr | Europa | JVR* | China** | China*** | Indien**** | CH+Ind | JVR* | Eur=100 |
0 | 31 | 59 – 71 | 50 | 35 | 85 | |||
50 | ||||||||
100 | 37 | 0,18 | ||||||
150 | 49 – 56 | |||||||
200 | 44 | 0,17 | 60 | 41 | 101 | 0,09 | 230 | |
250 | ||||||||
300 | 40 | -0,10 | ||||||
350 | ||||||||
400 | 36 | -0,11 | 50 | 47 | 97 | -0,02 | 269 | |
450 | ||||||||
500 | 30 | -0,18 | ||||||
550 | ||||||||
600 | 22 | -0,31 | 46 – 54 | 45 | 53 | 98 | 0,01 | 445 |
650 | ||||||||
700 | 22 | 0,00 | ||||||
750 | 45 – 56 | |||||||
800 | 25 | 0,13 | 56 | 43 | 99 | 0,01 | 396 | |
850 | ||||||||
900 | 28 | 0,11 | 48 | 38 | 86 | -0,14 | 307 | |
950 | ||||||||
1000 | 30 | 0,07 | 59 | 40 | 99 | 0,14 | 330 | |
1050 | 32 | 0,13 | ||||||
1100 | 35 | 0,18 | 73 – 108 | 83 | 48 | 131 | 0,28 | 374 |
1150 | 42 | 0,37 | ||||||
1200 | 49 | 0,31 | 98 – 123 | 115 | 69 | 184 | 0,34 | 376 |
1250 | 57 | 0,30 | ||||||
1300 | 79 | 0,65 | 96 | 100 | 196 | 0,06 | 248 | |
1350 | 54 | -0,76 | ||||||
1400 | 57 | 0,11 | 57 – 80 | 72 | 74 | 146 | -0,29 | 256 |
1450 | 60 | 0,10 | ||||||
1500 | 70 | 0,31 | 103 | 95 | 198 | 0,31 | 283 | |
1550 | 73 | 0,08 | ||||||
1600 | 91 | 0,44 | 160 | 145 | 305 | 0,43 | 335 | |
1650 | 90 | -0,02 | ||||||
1700 | 102 | 0,25 | 150 | 175 | 325 | 0,06 | 319 | |
1750 | 121 | 0,34 | 267 – 274 | |||||
1800 | 154 | 0,48 | 330 | 180 | 510 | 0,45 | 331 | |
1850 | 218 | 0,70 | 380 – 435 | 412 | 236 | 648 | 0,48 | 297 |
1900 | 295 | 0,61 | 341 – 500 | 415 | 290 | 705 | 0,17 | 239 |
1950 | 395 | 0,59 | 547 | 444 | 991 | 0,68 | 251 | |
2000 | 510 | 0,51 | 1.264 | 1.280 | 2.544 | 1,90 | 499 |
* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate
** Bandbreite der Schätzungen nach den Originalangaben der Zählungen von 2, 141, 606, 742, 1086, 1195, 1391, 1776, 1851 und 1911
*** Schätzung nach Malanima
**** Einschließlich Pakistan und Bangladesch
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Tabelle 4 Bevölkerung Europas (ohne Russland), China und Indiens 0 – 2000 (Abbildungsnachweis)
In der vormodernen, sonnenenergiebasierten Periode der globalen Bevölkerungsgeschichte unterschieden sich die Ausgangsbedingungen Europas von jenen Asiens nicht unerheblich. Mit Blickrichtung auf die sich im 19. und 20. Jahrhundert stellende Problematik hoher demografischer Wachstumsraten könnte man etwas simplifizierend formulieren: Das Problem der demografischen Entwicklung in Asien lag darin begründet, dass etwa China und Indien in ihren Kernzonen schon vor 1.500 bis 2.000 Jahren wesentlich dichter besiedelt waren als der europäische Kontinent. Tatsächlich lässt sich für das vorindustrielle Europa und Asien für die Zeit um 1600, die man auch für den Zeitraum davor als repräsentativ ansehen kann, ein enormer Unterschied in den Landreserven zeigen. Um 1600 betrug die Zahl der Menschen pro km2 kultivierbarem Land in Japan 856, in China 477, in Indien 269, in Europa jedoch nur 60. Diesem Vorteil stand im extramediterranen Europa ein klimatischer Nachteil, das raue Klima, gegenüber. Dementsprechend entwickelte sich in diesem Teil Europas in weit größerem Ausmaß als in Asien ein synergetisches Zusammenspiel zwischen Ackerbau und Viehzucht. Die geringen Erträge des Brotgetreides bedurften der Ergänzung durch tierisches Eiweiß, mangels menschlicher Arbeitskraft war der Einsatz des Viehs im Ackerbau unbedingt erforderlich. Im 11. Jahrhundert stammten bereits 70 % der in Europa eingesetzten Energie von Tieren und Wassermühlen, nur 30 % von Menschen (Malanima 2010a: 31, 85 f.; Landsteiner 2011: 182). Die mit hohem menschlichem Arbeitseinsatz betriebenen Monokulturen in den großen asiatischen Reichen erwiesen sich mit wachsender Bevölkerungsdichte als krisenanfälliger als die
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kleinteiligere, „gemischte“ landwirtschaftliche Produktion in Europa. Dementsprechend war im Zeitraum von 1400 bis 1800 die Zahl der Opfer von Naturkatastrophen und daraus resultierenden Hungersnöten in China und Indien weit höher als in Europa (Jones 1991: xxviii, 30 – 35; Sieferle 2002: 176 – 183). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die dichtbevölkerten ökonomischen Kernzonen Ostasiens und Nordwesteuropas Ende des 18. Jahrhunderts unter ganz ähnlichen ökologischen Stressfaktoren litten und sich der durchschnittliche Ernährungszustand der Bevölkerung auch in der Folge im krisenhaften 19. Jahrhundert in Asien nicht entscheidend verschlechterte (Pomeranz 2000: 241), ebenso wie er sich in Europa bei der überwiegenden Mehrheit nicht entscheidend besserte.
Der Einsatz fossiler Energie in Form von Kohle erhöhte das Energiepotenzial dramatisch und leitete in den werdenden Industrieländern den Abschied von den Sonnenenergiesystemen ein, die einer positiven Energiebilanz bedurften, um eine für das Überleben ausreichende Nahrungsmittelproduktion sicherzustellen. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde Kohle verstärkt in England und den Niederlanden als Energieträger eingesetzt, hatte aber selbst Ende des 18. Jahrhunderts im übrigen Europa noch geringe Bedeutung (Malanima 2010a: 79 – 82). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedoch ein auf fossiler Energie beruhendes Energiesystem in Europa in voller Entfaltung. Im 19. Jahrhundert verdreifachte sich durch den Einsatz von Kohle und Dampfmaschinen die weltweite Energiegewinnung, im 20. Jahrhundert wuchs sie dann um das Dreizehnfache, weil nun auch Erdöl und Erdgas als Energieträger eine zunehmende Rolle spielten (McNeill 2003: 29). Das heißt nicht, dass das Problem der ausreichenden Versorgung der europäischen Bevölkerungen mit Nahrungsmitteln damit mit einem Schlag gelöst gewesen wäre. Es dauerte noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts, bis das der Fall war. Immerhin sorgte bis dahin auch die Überseewanderung von Europäern für eine gewisse Entlastung. Im Zeitraum von 1841 bis 1915 reduzierte sie das Bevölkerungswachstum Westeuropas um 25 bis 30 % (Livi-Bacci 1999: 175 f.). In Summe sollte die Wirkung der Überseewanderung als Wachstumspuffer allerdings nicht überschätzt werden. Selbst am Höhepunkt der Auswanderungswelle um 1900 lag die jährliche
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Emigrationsrate 10 bei 3 Promille, in den südeuropäischen Ländern allerdings bei 5 (Chesnai 1992: 183). Berücksichtigt man die Rückwanderung, wird der langfristige Entlastungseffekt weiter relativiert. Aufgrund ihres technologischen Vorsprungs konnten Europa und seine Außenposten jedoch ihren Vorsprung in der Nutzung von Energie in einen industriell-technologischen Vorsprung verwandeln, der weit über die unmittelbare Sicherung der Subsistenz der europäischen Bevölkerungen hinaus die Basis für jene technophysio evolution (Robert W. Fogel)11 lieferte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den „biologischen Lebensstandard“ (John Komlos) in immer neue Höhen trieb. Diese Evolution, von der in den letzten Jahrzehnten auch Teilbevölkerungen in den Schwellenländern und der Dritten Welt profitierten, hatte allerdings ihren demografischen Preis: Im 20. Jahrhundert dürften schätzungsweise 25 bis 40 Millionen Menschen weltweit der Luftverschmutzung zum Opfer gefallen sein (McNeill 2003: 120 f.).
Die moderne Bevölkerungsgeschichte der außereuropäischen Welt war allerdings keineswegs eine reine blood, sweat and tears story, wie das im entwicklungspolitischen Diskurs manchmal scheinen mag. Nach 1750 und dann vor allem nach 1800 wurden in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bereits sehr hohe Wachstumsraten erreicht. So vervierfachte sich die Bevölkerung Mittelamerikas im Zeitraum von 1825 bis 1900 (Grigg 1980: 238). Der Wachstumspfad wurde jedoch in diesen Teilen der Welt durch innere und äußere Krisen immer wieder unterbrochen. Ein Beispiel für solche demografischen Schocks aus der rezenteren Bevölkerungsgeschichte Chinas sind etwa die Folgen des „Großen Sprungs“ von 1958/62. Die Lebenserwartung bei der Geburt sank in der Volksrepublik China aufgrund einer brachialen Industrialisierungspolitik im Eiltempo, die deren Folgen auf den Einbruch der landwirtschaftlichen
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Produktion ignorierte, kurzfristig von 43 auf 27 Jahre (Banister 1987). Erst als durch den Import westlicher Technologien, die im Rahmen der sanitary revolution entwickelt worden waren, Mortalitätskrisen seltener und in ihrer Wirkung schwächer wurden, begründete dies ab der Mitte des 20. Jahrhunderts den Wachstumsvorsprung, ja die Bevölkerungsexplosion der Dritten Welt. Westliche Technologien sorgten auch dafür, dass die Sterblichkeit in vielen Schwellenländern rasch unter die vergleichbare der Industrieländer, bezogen auf den Zeitpunkt, an dem diese ein bestimmtes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht hatten, fiel (Mercer 1990: 151). Dieser Import leitete den Mortalitätsrückgang in der Dritten Welt ein, dem ein Fertilitätsrückgang in den Schwellenländern und seit Kurzem auch in Teilen der Dritten Welt gefolgt ist. Der besonders junge Altersaufbau dieser Populationen, der als „Python-Effekt“ 12 noch zwei bis drei Generationen die absoluten Geburtenzahlen nach oben drückt, obwohl die Fertilität bereits gesunken ist, hat jedoch zur Folge, dass auch in diesen Schwellenländern – mit Ausnahme einiger entwickelter Industrienationen wie Japan, Südkorea und Taiwan – die Schere zwischen Geburten- und Sterbefällen sich noch nicht geschlossen hat. Die ökologischen Rahmenbedingungen des Demografischen Übergangs in der Dritten Welt sind zudem auch deutlich schlechter, als das in Europa der Fall war. Die Fläche des bebaubaren Landes pro Kopf liegt in weiten Teilen der unterentwickelten Länder deutlich unter jener Europas im 19. Jahrhundert (Grigg 1980: 250). Dennoch ist auch in weiten Teilen der Dritten Welt an der Wende zum 3. Jahrtausend eine demografische Wachstumsverlangsamung auf Basis eines Rückgangs der Fertilität unverkennbar. Im Besonderen trifft das auf die jungen Industrienationen China und Indien zu, die mit Abstand bevölkerungsreichsten Länder der Gegenwart. So betrug das Bevölkerungswachstum in China im Zeitraum von 1990 bis 2010 durchschnittlich nur noch 0,9 % jährlich, jenes in Indien im Zeitraum von 2000 bis 2010 1,5 % (UN 2009).
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6 Das durch ökonomische, politische oder andere Krisen unmittelbar ausgelöste Ansteigen der Sterblichkeit und Sinken der Fertilität.
7 Der Begriff bezeichnet die (groß)städtische Übersterblichkeit im Vergleich zu den Sterblichkeitsverhältnissen in ländlichen Zonen.
8 Die Lebenserwartung bei der Geburt bezeichnet die durchschnittliche Zahl von Lebensjahren, die ein bestimmter Geburtsjahrgang unter der im Beobachtungsjahr gemessenen altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeit durchlebt. Letztere wird auf der Basis sogenannter Periodensterbetafeln berechnet.
9 Rationalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit auf der Basis der Ergebnisse (sozial)medizinischer Forschung.
10 Auswanderer bezogen auf 1.000 der Herkunftsbevölkerung.
11 Der Begriff bezeichnet physische Veränderungen menschlicher Bevölkerungen, die nicht als Ergebnis der biologischen Evolution, sondern durch Umwandlung von Energie in Form von Ernährung und Wärme in Arbeit zum Zweck des Wachsens, Überlebens (auch im Sinn der Stärkung der Immunabwehr) und der menschlichen materiellen und geistigen Weiterentwicklung entstanden sind.
12 Dieser Effekt bezeichnet das Nachrücken starker Geburtenjahrgänge in einer Alterspyramide, ein Prozess, der optisch Ähnlichkeit mit dem Verdauungsprozess einer Python nach erfolgreicher Jagd aufweist.
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