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Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland

Armin von Bogdandy/Peter M. Huber

§ 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland

Allgemeine Hinweise

I.Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung im europäischen Rechtsraum1 – 9

II.Die Entfaltung von Staat und Verwaltung10 – 30

1.Die frühe Neuzeit und ihr Vermächtnis10 – 17

2.Staat und Verwaltung im 19. Jahrhundert18 – 29

a)Die Neuordnung unter französischem Einfluss18 – 23

b)Expansion der Verwaltung und konstitutioneller Rechtsstaat24 – 29

3.Die Weimarer Republik30

III.Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts31 – 52

1.Das Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert als Grundlegung eines Anerkennungsverhältnisses32 – 44

a)Das Policeyrecht als Negativfolie32 – 35

b)Das Verwaltungsrecht als Umsetzung des konstitutionellen Rechtsstaates36 – 44

2.Die Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit45 – 50

3.Die weitere Entwicklung bis zur Schwelle des Grundgesetzes51, 52

IV.Verwaltung und Verwaltungsrecht unter dem Grundgesetz bis zur Europäisierung53 – 96

1.Die institutionelle Entwicklung53 – 61

a)Organisatorische Grundlagen54 – 57

b)Die Stellung der Verwaltung im Staatsgefüge58, 59

c)Funktionen von Verwaltung und Verwaltungsrecht nach 194960, 61

2.Die Konstitutionalisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht62 – 74

a)Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips68

b)Die Beseitigung grundrechtsfreier Räume69, 70

c)Die Leistungsverwaltung71 – 73

d)Die Bewältigung des informalen Verwaltungshandelns74

3.Ausbau und Vervollständigung des Individualrechtsschutzes75 – 91

a)Die Rechtsschutzgarantie76 – 81

b)Verwaltungsgerichtsbarkeit und verwaltungsgerichtliche Generalklausel82, 83

c)Der Individualrechtsschutz nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte84 – 91

4.Die Verwaltung und das demokratische Prinzip92 – 96

V.Der Begriff des Verwaltungsrechts97 – 103

Bibliographie

Anhang: Der Fragebogen

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › Allgemeine Hinweise

Allgemeine Hinweise

Zu Abkürzungen und Zitierweise vgl. Horst Dreier, IPE I, S. 3, 4f.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › I. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung im europäischen Rechtsraum

I. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung im europäischen Rechtsraum

1

Die Ausbildung von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht in Deutschland lässt sich in vielen Perspektiven mit ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen beschreiben. Der vorliegende Beitrag wählt die Perspektive des europäischen Rechtsraums, weil dieser an Art. 3 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) anknüpfende Begriff aus mehreren Gründen besonders geeignet erscheint.[1] Der Singular zeigt an, dass es um ein neues Ganzes geht, welches das Bisherige, die einzelnen Nationalstaaten, transzendiert. Zugleich vermeidet der Begriff sowohl eine föderale als auch eine rein völkerrechtliche Deutung dieses neuen Ganzen und so eine Positionierung in der ältesten und prinzipiellsten Kontroverse der europäischen Integration. Stattdessen eröffnet er, ähnlich wie der Schlüsselbegriff des Staates in den verfassungsrechtlichen Kämpfen des 19. Jahrhunderts, der weder an den Monarchen noch an das Volk anknüpfte,[2] eine für beide Verständnisse akzeptable und tragfähige Basis, um das neue Ganze zu erfassen. Zudem ist dem Begriff des europäischen Rechtsraums eine Dimension unmittelbarer Anschaulichkeit zu Eigen, nachvollziehbar für jeden Bürger, der sich innerhalb der Europäischen Union bewegt – anders als Leitbegriffe wie „Verbund“, „Mehrebenensystem“ oder „Netzwerk“.

2

Bezugspunkt des europäischen Rechtsraums ist das durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen definierte Territorium der Europäischen Union. Dabei ist die Kombination von Staatlichem und Supranationalem wesentlich. Kern des Begriffs „europäischer Rechtsraum“ ist die Feststellung, dass die rechtliche Organisation dieses Territoriums ebenso durch mitgliedstaatliche wie unionale Normen erfolgt, um die Ziele des EU-Vertrages im Rahmen einer neuen politischen und rechtlichen Einheit zu verwirklichen. Entsprechend mutieren der einsilbige Staat zum Mitgliedstaat,[3] die Staatsverwaltung zum Glied einer Mehrebenenverwaltung, die souveräne staatliche Rechtsordnung zur Teilrechtsordnung. Anders als im globalen und völkerrechtlichen Zusammenhang sind die – auch sinnlich wahrnehmbare – Abschaffung innerer Grenzen und eine gemeinsame Definition, eine gemeinsame Abgrenzung gegenüber anderen Räumen, begriffsbestimmend. Der öffentlich-rechtliche Aspekt dieses Rechts im europäischen Rechtsraum lässt sich als das neue ius publicum europaeum bezeichnen.

3

Dieser Befund und die mit ihm zusammenhängende Entwicklung verlangen nach wissenschaftlicher Orientierung und Neuvermessung zentraler Begriffe in vergleichender Perspektive. Dafür ist eine Reflexion des Entwicklungspfades der erfassten Staaten und Rechtsordnungen unverzichtbar.[4] Eine der wissenschaftlichen Herausforderungen des europäischen Rechtsraums besteht also darin, einschlägige Ereignisse und Erzählungen der mitgliedstaatlichen Entwicklungspfade in seiner Perspektive neu zu ordnen und damit auch für die dogmatische und anwendungsbezogene Rechtswissenschaft eine den veränderten Gegebenheiten angemessene Orientierung zu entfalten. Daneben sind die einzelnen (Teil-) Rechtsordnungen in ein „Gespräch“ zu bringen, das Identität und Differenz zugleich sucht, um auf dieser Erkenntnisgrundlage den gemeinsamen Rechtsraum zu verstehen und zu gestalten.

4

In diesem Sinne beschreibt der vorliegende Beitrag die Grundlagen von Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht in Deutschland. Die neue Perspektive hebt sich von anderen Zugangsweisen ab, die im Folgenden zur Präzisierung des Ansatzes sowohl dieses Beitrags wie des gesamten Projekts Ius Publicum Europaeum skizziert seien.[5]

5

Im Zugriff philosophischer, historischer oder soziologischer Großtheorien bilden Erkenntnisse über die Ausbildung von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht häufig bloße Beispiele der allgemeinen Entwicklung moderner Staatlichkeit. Der Fokus liegt auf den Phänomenen, die den verschiedenen Staaten gemeinsam sind; Differenzen treten zurück.[6] So gewiss solchen Großtheorien wichtige Anregungen zu entnehmen sind, so gewiss ist, dass ihnen Entscheidendes fehlt: die für den europäischen Rechtsraum konstitutive Vielfalt, deren normative Werthaltigkeit Art. 4 Abs. 2 EUV zum Ausdruck bringt. Ebenso wenig entspricht der Grundannahme des Art. 4 Abs. 2 EUV eine Vergleichung im Stile der innerdeutschen einheitsorientierten Verwaltungsrechtsvergleichung, sei es im 19. Jahrhundert zwecks Bildung und Kräftigung des deutschen Nationalstaates,[7] sei es in der Bundesrepublik zwecks Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse.[8] Noch weniger überzeugt ein Ansatz, der eine bestimmte Rechtsordnung als exemplarischen Standard und Abweichungen tendenziell als Rückständigkeit versteht;[9] er verletzt den in Art. 4 Abs. 2 EUV ebenfalls niedergelegten Grundsatz der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Mitgliedstaaten, die der europäische Rechtsraum vereint. Dies verbietet es auch, zunächst merkwürdig erscheinende, schlecht vergleichbare nationale Gestaltungen als „Sonderfall“ auszugrenzen.[10] Solche Eigenheiten bilden vielmehr einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der einzelnen Rechtsordnung, der eigenen wie einer fremden.[11]

6

Aber auch der gegenläufige Ansatz unter einem Paradigma fundamentaler Differenz kann, zumindest im europäischen Rechtsraum, nicht mehr überzeugen. Unter dem Paradigma der Differenz gilt die verwaltungsrechtliche Entwicklung als Aspekt der Entfaltung einer je spezifischen, ja einmaligen Nationalkultur; das national Besondere wird betont.[12] Vielzitiert schreibt Ulrich Scheuner: „Das Verwaltungsrecht gehört zu denjenigen Rechtsmaterien, in denen die nationale Eigenart eines Volkes und Staates sich am stärksten ausprägt.“[13] Ähnliches gilt für Studien, die differenztheoretisch ansetzen.[14] Primär Differenzen ergeben sich oft auch aus Studien, welche die Fülle und Details der historischen Ereignisse in Erinnerung rufen, wie dies etwa bei dem Standardwerk Deutsche Verwaltungsgeschichte der Fall ist.[15]

7

Die Eigentümlichkeit des europäischen Rechtsraums, die Suche nach „Einheit in Vielfalt“,[16] verlangt in gleichem Maße Aufmerksamkeit für Identität wie für Differenz im Lichte der Fragestellungen des europäischen Rechtsraums. Zu diesen Fragestellungen gehört der Wunsch nach einem Leitbild zur Orientierung in den verschiedenen Verwaltungsrechtsordnungen, ist doch der europäische Rechtsraum durch Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Für dieses Leitbild bedarf es der Identifizierung prägender Momente, die den bisherigen Entwicklungspfad bestimmt haben: in Deutschland etwa das spezifische Verständnis des Rechtsstaates, der Systemgedanke sowie die tiefgreifende Konstitutionalisierung und Judizialisierung. Aus den unterschiedlichen Konzeptionen und Entwicklungspfaden der einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen können sich Hindernisse und Widerstände für, aber auch mögliche Verluste durch Einwirkungen des europäischen Rechtsraums ergeben, die bedacht sein wollen.[17] Auf einer konkreteren Ebene geht es um das Freilegen begrifflicher Differenzen hinter identischen Terminologien, man denke nur an den Terminus „Verwaltungsrecht“.[18] Nicht zuletzt interessieren Traditionen von Offenheit und Abgeschlossenheit bzw. Isolation.

8

Vor diesem Hintergrund geht es also, wie die Begriffe Staat und Verwaltung zeigen, um die Entwicklung des öffentlichen Rechts im Kontext. So sehr die Anlage der Bände I und II dieses Handbuchs zum Ausdruck bringt, dass die Verfassung in juristischen Argumentationen nicht als ein bloßes „Kleid“ verstanden werden darf, das sich ein präexistenter Staat umhängt,[19] dass sie kein Gesetz ist, das „sich“ dieser „gibt“, so ist doch der Entwicklungspfad des Verwaltungsrechts untrennbar mit denen des Staats- und des Verwaltungsverständnisses verbunden.[20] Dies legt es nahe, gerade im Rahmen einer vergleichenden Studie, die Begriffe „Staat“, „Verwaltung“ und „Verwaltungsrecht“ in gleicher Weise in den Blick zu nehmen. Sabino Cassese zeigt in seinen einführenden Betrachtungen zu diesem Band (§ 41), wie man dies machen kann.

9

Die Teile II und III dieses Beitrags verfolgen den Entwicklungspfad von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht bis zur Schwelle des Grundgesetzes. Dies erfolgt jedoch nicht in historischer, sondern in analytischer Absicht: Das historische Material dient primär dem Verständnis der Gegenwart, insbesondere des europäischen Rechtsraums. Das mag geschichtswissenschaftlich problematisch sein;[21] es geht hier jedoch nicht darum, historischen Phänomenen in ihrer Komplexität gerecht zu werden, sondern historisches Wissen für rechtswissenschaftliche Reflexionen und Argumentationen aufzubereiten.[22] Teil IV unterbreitet dann den Entwicklungspfad unter dem Grundgesetz, während der abschließende Teil V den Versuch einer begrifflichen Bestimmung des Verwaltungsrechts unternimmt, die dessen Kontinuität und Wandel wiedergibt.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die Entfaltung von Staat und Verwaltung

II. Die Entfaltung von Staat und Verwaltung

1. Die frühe Neuzeit und ihr Vermächtnis

10

Der Begriff „Verwaltung“ kann ein Handeln oder eine Organisation bezeichnen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts ist in Deutschland das erste Verständnis vorrangig; Verwaltung meint kompetenziell ausdifferenzierte, verschriftlichte, tendenziell normierte und bürokratische sowie zunehmend verwissenschaftlichte Amtsführung.[23] Seitdem hat das institutionell-organisatorische Verständnis ständig an Gewicht gewonnen. Beide Verständnisse werden zumeist auf Institutionen wie Hofrat, Geheimer Rat oder Hofkammer zurückgeführt. Diese bilden sich um die Person und Institution des Landesherrn, der mit dem Ausbau des Administrativen vom Heerführer und Richter zum Lenker mutiert.[24]

11

Korrespondierend dazu beschreibt der Begriff „Staat“ zu dieser Zeit (nur) den Dreiklang von Dynastie, Militär und eben Beamtenapparat; entsprechend formieren sich ein etatistisches Verwaltungs- und ein bürokratisches Staatsverständnis, die bis heute nachwirken. Der Dreiklang erfasst dabei keineswegs alle einschlägigen Phänomene in deutschen Landen, gab es doch schon seit dem Mittelalter Institutionen wie die gemeindliche Selbstverwaltung, die Verwaltung der Reichsstädte oder, höchst bedeutsam, die Verwaltung durch die Kirchen.[25] Diese haben jedoch den Inbegriff der Verwaltung, wie er heute vor uns steht, nicht nachhaltig geprägt. Die etatistische Tradition wirkt fort. So begreift die h.M. bis heute die gemeindliche Selbstverwaltung als einen Teil der staatlichen Verwaltung.[26]

12

Dieses Verständnis von Verwaltung als staatliche bürokratische Herrschaft entspricht dem europäischen Normalfall. Es findet sich in den meisten Darstellungen dieses Bandes mit Ausnahme Englands und der Schweiz.[27] Vor dem Hintergrund des vorherrrschenden Entwicklungspfades wird eine begriffliche Herausforderung deutlich, die sich im Zuge der europäischen Integration ergibt: Institutionen der Europäischen Union, allen voran die Europäische Kommission, können aufgrund ihres nichtstaatlichen Charakters kaum im vollen Sinne als Verwaltungen begrifflich fixiert werden,[28] was auch erklären mag, dass das tätigkeitsbezogene Verständnis im europäischen Rechtsraum wieder an Bedeutung gewinnt.[29] Ein weiteres Vermächtnis dieses Pfades ist eine Konzeption der Verwaltung, welche deren politische Legitimation aus anderen Institutionen ableitet. So wie diese zunächst über den Monarchen vermittelt war, so beruht ihre demokratische Legitimation heute auf dem Wahlakt zum Parlament.[30] Nur langsam gewinnt demgegenüber die Vorstellung an Boden, dass das administrative Verfahren selbst zur demokratischen Legitimation der Verwaltungsentscheidung beitragen kann, etwa durch qualifizierte Beteiligungsverfahren oder transparentes Handeln.[31]

13

In die frühe Neuzeit zurückkehrend ist an dieser Stelle auf eine im Lichte des europäischen Rechtsraums relevante Besonderheit der deutschen Entwicklung hinzuweisen: das Scheitern des Projekts einer reichsweiten Verwaltung. Es gab in jener Epoche Bestrebungen seitens des Kaisers wie der Reichsstände, neben einer Reichsgerichtsbarkeit, institutionalisiert im Reichskammergericht von 1495 und im Reichshofrat von 1501, Institutionen einer reichseigenen Verwaltung aufzubauen:[32] das erste Reichsregiment (1500),[33] das zweite Reichsregiment (1521),[34] die Bildung der Reichskreise (1500[35] und 1512[36]), die Reichspolizeiordnung (1530)[37] und die Reichsexekutionsordnung (1555).[38] Diesen Bestrebungen war jedoch kein Erfolg im Sinne des Aufbaus einer modernen Verwaltung beschieden. Grundlage der Ordnungsmacht des Kaisers blieben seine „Hausmacht“ und seine Territorien. Es gelang auf der Ebene des Reiches nicht, die ständischen Bindungen und die Fürstenmacht zu überwinden,[39] übrigens ähnlich wie in Polen.[40] Damit scheiterte zugleich der erste Ansatz einer einheitlichen Verwaltung weiter Teile des heutigen europäischen Rechtsraums, ebenso wie spätere Versuche einer imperialen Verwaltung, sei es durch das napoleonische Frankreich, das nationalsozialistische Deutschland oder die Sowjetunion. Die dialogischen Strukturen der Beziehungen zwischen den europäischen Institutionen und den mitgliedstaatlichen Verwaltungen, wie wir sie heute vorfinden, beruhen mithin auf gesättigten historischen Erfahrungen.

14

Die Ausbildung von Verwaltungen im 17. und 18. Jahrhundert erfolgte in den Institutionen der Territorialherren. Die Entwicklung verlief in den verschiedenen Territorien dabei durchaus unterschiedlich.[41] Angesichts der späteren Hegemonie Preußens in Deutschland wurde der Entwicklung in diesem Land seit dem 19. Jahrhundert nicht selten eine paradigmatische Funktion zugemessen, oft vermittelt über ein hegelianisches – verwaltungszentriertes – Staatsverständnis.[42] Unter den vielen Ursachen, auf welche die Anfänge moderner Verwaltungen und Staatlichkeit in den Territorien zurückgeführt werden, kommt kriegerischen Auseinandersetzungen und insbesondere dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) eine besondere Rolle zu. Diese Ereignisse führten zunächst zum Bedürfnis nach stehenden Heeren, und damit nach einer entsprechenden Heeres- und Finanzverwaltung. Die erfolgreiche Befriedigung dieses Bedürfnisses brachte dann dasjenige des Wiederaufbaus mit sich, oft verfolgt mittels einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik mit entsprechenden Institutionen und Interventionen.

15

Beide Bedürfnisse wurden zumeist nicht in den überkommenen patrimonial-ständischen Institutionen administriert, sondern durch eine unmittelbare landesherrliche Verwaltung, gegründet auf dem Souveränitätsanspruch des Landesherrn als umfassendes Herrschaftsrecht. Den bürokratischen Unterbau bildete zunehmend ein bürgerliches Fachbeamtentum, das den Berufsgedanken mit demjenigen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung verband.[43] Es entwickelte, zumindest in Staaten wie Bayern, Preußen und Österreich, einen „Geist unbedingter Treue und des vollen Pflichtbewußtseins“, der es „in der gesellschaftlichen Stellung weit über seine dürftige materielle Lage hinausgehoben“ hat.[44]

16

Diese Entwicklung steht im Einklang mit der allgemeinen europäischen Entwicklungslinie. Allerdings ist eine zweite Besonderheit zu vermerken: Die Verwaltungen der Territorialstaaten blieben in einen übergreifenden politischen und rechtlichen Rahmen eingebunden,[45] auch wenn die privilegia de non appellando die Möglichkeit, vor einer Institution des Reiches ein Recht gegenüber dem Landesherrn zu erstreiten, zunehmend beschränkten.[46] Das galt nicht nur mit Blick auf die weiterhin aktiven politischen Organe, namentlich Kaiser und Reichstag, oder die gerichtlichen Instanzen Reichskammergericht und Reichshofrat, sondern auch für administrative Institutionen wie Reichskreise und Kreisassoziationen.[47] Zudem gab es eine gemeinsame Rechtsmasse, die aus diversen Komponenten bestand, insbesondere dem Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sowie einer Normschicht, die heute als überstaatlich und völkerrechtlich qualifiziert würde. Insoweit erscheint es in Deutschland geradezu als historischer Normalfall, dass staatliche Verwaltung im Kontext eines komplexen Gefüges operiert, das heute oft als Mehrebenensystem bezeichnet wird.

17

Wenn Samuel von Pufendorf das Reich vor diesem Hintergrund und im Vergleich mit den aufkommenden Nationalstaaten seiner Zeit als „irregulare aliquod corpus et monstro simile“ bezeichnet[48] und diese Formel heute zuweilen auf die Europäische Union angewandt wird, so zeigt dies Parallelen, die das Operieren deutscher Verwaltungen im europäischen Kontext erleichtern sollten. Auch die Leichtigkeit, mit welcher der europäische Rechtsraum in Deutschland als Mehrebenenkonstrukt gedacht wird, erklärt sich in dieser Tradition, die allerdings mit einer daneben bestehenden, weiterhin einflussreichen staatszentrierten Tradition in steter Spannung steht.[49]

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