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2. Staat und Verwaltung im 19. Jahrhundert

a) Die Neuordnung unter französischem Einfluss

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Das Denken über den Staat formt sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts, wie in den meisten europäischen Staaten, vor allem in der Auseinandersetzung mit Frankreich.[50] Die Entwicklung der modernen deutschen Staatlichkeit, und mit ihr diejenige der Verwaltung, sind ohne den französischen Einfluss nicht zu verstehen. Die Französische Revolution, die französische Besatzung und die napoleonische Neuordnung bilden eine tiefe Zäsur und haben für Staatlichkeit und Verwaltung in Deutschland mindestens so einschneidende Folgen wie das Scheitern des Kaisers beim Aufbau einer reichsweiten Verwaltung im Alten Reich. Die Wirkung Frankreichs ist dabei vielfältig: als schiere Kraft des Wandels, als Archetyp, als Prototyp, als Antipode.

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Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 erstarken die großen Territorien im Zuge der Napoleonischen Neuordnung zu souveränen Staaten. Gleichwohl bleiben sie, und dies ist für den deutschen Entwicklungspfad im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung, in einen überstaatlichen rechtlichen und politischen Zusammenhang eingebunden. Institutionell gilt das zunächst für den Deutschen Bund von 1815,[51] dessen verwaltungsrechtliche Dimension in den Karlsbader Beschlüssen über polizeiliche Maßnahmen gegen politische Gegner besonders deutlich wird.[52] Ab 1834 wirkt der Zollvereinsvertrag auf die Herstellung eines deutschen Binnenmarktes.[53] Mit Blick auf den europäischen Rechtsraum als Wissenschaftsraum ist der alldeutsche, zumeist national inspirierte staatsrechtswissenschaftliche Diskurs bemerkenswert, aus dessen Horizont heraus die Bearbeitung des einzelstaatlichen öffentlichen Rechts erfolgt.[54]

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Für diese Studie sind die Reformen der Staatsapparate von besonderer Bedeutung. Einige Staaten, so die Rheinbundstaaten und hier bis heute besonders sichtbar Bayern, folgen im Wesentlichen dem französischen, napoleonischen Beispiel und entwickeln sich zu zentralisierten bürokratischen Verwaltungsstaaten.[55] Aber auch Preußen und Österreich bilden ihre Verwaltungen im Lichte des französischen Beispiels um. An der Spitze wird die Verwaltung vom Monarchen auf ein aus Fachministern zusammengesetztes, nach Ressorts gegliedertes Staatsministerium übertragen;[56] das Prinzip monokratischer Leitung setzte sich gegenüber demjenigen kollegialer Leitung durch.[57] Die zweite Ebene, z.B. in Preußen diejenige der Provinzregierung, sieht sich am Beispiel des französischen Präfektursystems reformiert, ergänzt durch Spezialbehörden etwa für Unterricht oder Gesundheitswesen.

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Ein anderer Akzent findet sich allerdings auf der dritten Verwaltungsebene. Im Gegensatz zum zentralistischen Frankreich[58] gewinnt die seit dem Mittelalter überlieferte Idee der gemeindlichen Selbstverwaltung an Bedeutung. Paradigmatische Ausgestaltungen finden sich in der Magistratsverfassung der Preußischen Städteordnung von 1808[59], in der Bürgermeisterverfassung, die im Badischen Gemeindegesetz von 1831[60] niedergelegt ist, sowie in der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz von 1845.[61] Diese Selbstverwaltung antwortet auf demokratische Forderungen in einem monarchisch und autoritär geprägten Herrschaftsverband. Zwar werden die Freiheiten im Vormärz erheblich eingeschränkt, das Prinzip jedoch überdauert, ja expandiert.[62] Die Idee der Selbstverwaltung wird später für andere Bereiche übernommen, insbesondere für die Landkreise,[63] für Teile der Sozialversicherung[64] oder für die Verwaltung zahlreicher Berufsgruppen.[65] Das Recht der Selbstverwaltung erstarkt so zu einem Kerngebiet des Verwaltungsrechts.

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Im Rahmen dieses Staats- und Verwaltungsverständnisses entwickelt sich im 19. Jahrhundert das deutsche Berufsbeamtentum. „Das Beamtentum des konstitutionellen Staates bildete eine undurchdringliche Einheit in der Hand des leitenden unmittelbaren Staatsorgans. Diese Einheit beruhte keineswegs allein auf der […] staatsrechtlichen Situation. Es war nicht allein das äußere Band der formalen Rechtssatzung, das das Beamtentum zu einem homogenen Ganzen verband, wichtiger als die juristische Norm war die eigenartige soziologische Verfassung des deutschen Beamtentums der konstitutionellen Zeit. Der Konstitutionalismus kannte keinen Beamtenberuf, sondern allein einen Beamtenstand. Während im Allgemeinen die mit der französischen Revolution einsetzende Bewegung den Ständestaat und mit ihm die Stände beseitigt hatte, gelang es in Deutschland zwei Ständen, sich in die neue Zeit hinüberzuretten: Beamtentum und Adel.“[66] Nicht zuletzt um die Loyalität der Beamten zu gewinnen, garantieren die Art. 129 und 130 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 sowie nunmehr Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG) von 1949 mit den aus (vor-)konstitutioneller Zeit „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ eine verfassungsrechtliche Stellung des deutschen Beamtentums, die europaweit einmalig ist.[67]

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Abschließend sei noch auf eine höchst folgenreiche Entwicklung hingewiesen: die Expansion des Staatsbegriffs. Bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen auf den Dreiklang von Dynastie, Militär und Beamtenapparat bezogen, expandierte er unter dem Eindruck der revolutionären französischen Entwicklungen bis hin zu einem „totalen“ Begriff, der die Gesamtheit sozialer Institutionen umfasst.[68] Wie kaum ein anderes begriffliches Konstrukt soll dieser einsilbige Staat Selbstverständnisse, Vorstellungen, Erwartungen und Forderungen von Herrschaftsträgern wie Rechtsunterworfenen in Deutschland fortan prägen: Der „Staat“ wird, ungeachtet föderaler Gliederung und funktionaler Ausdifferenzierung, bis heute überwiegend als eine riesige, bürokratisch organisierte Handlungseinheit wahrgenommen. Als Gesamtstaat ist er der mit Abstand wichtigste Adressat gesellschaftlicher Forderungen und nicht gliedstaatliche,[69] europäische oder gesellschaftliche Institutionen. Selbst in so differenzierten und historisch abgesicherten Studien wie der wegweisenden Schrift von Rainer Wahl über „Herausforderungen und Antworten“ bleibt der einsilbige „Staat“ nicht nur das mit Abstand wichtigste Zurechnungssubjekt rechtlicher Pflichten, sondern tritt darüber hinaus als einheitlicher Akteur auf. Eine solche Grundbegrifflichkeit, die Ausdruck des herrschenden Staatsverständnisses in Deutschland ist, hat überaus starke einheitsstaatliche Tendenzen, gegenüber denen sich Anliegen eines echten, pluralistischen Föderalismus nur schwer durchsetzen können.[70] Zudem erschwert das tendenziell einheitsstaatliche Föderalismusverständnis die Durchsetzung anders ausgerichteter Konzeptionen für den europäischen Rechtsraum.

b) Expansion der Verwaltung und konstitutioneller Rechtsstaat

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Die Gründung des Norddeutschen Bundes und die Reichsverfassung von 1871 haben zunächst wenig Auswirkungen auf die Verwaltung, denn diese bleibt organisatorisch und funktional im Wesentlichen bei den Gliedstaaten. Die Herausforderungen der industriellen Revolution, der Migrationsbewegungen und neuer politischer Forderungen wirken dann aber in vielfacher Hinsicht vor dem Hintergrund der soeben beschriebenen neuen Grundbegrifflichkeit auf die Entwicklung des Verwaltungsrechts ein. Die Aufgabe der sozialen Gestaltung, insbesondere der Umgang mit sozialen Problemen,[71] wird zunehmend „dem Staat“ als Wirkungseinheit zugewiesen, was schon in der Gründerzeit zu einer enormen Expansion des Verwaltungsapparats und des Verwaltungsrechts führt. Dieser Modernisierungsschub erfolgte unter Führung des Reiches. Ähnliches soll sich einhundert Jahre später im Zuge der europäischen Integration ereignen.

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Da sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die disziplinbegründenden Kategorien des Verwaltungsrechts formen, bedarf es der Kenntnis ihrer wichtigsten Eckpunkte. Europaweit einmalig ist der bis heute prägende Exekutivföderalismus, der sich zunächst aus der Konstruktion des Reiches als eines Bundes der Fürsten ergibt.[72] Einen weiteren Schlüssel zum Verständnis bildet die unklare und umstrittene Legitimation sowohl des neuen Nationalstaates wie der Bundesstaaten. Die demokratischen Forderungen, die 1816 und in der Revolution von 1848 gestellt werden,[73] haben nur geringen Erfolg; es gibt namentlich keine Volkssouveränität wie etwa in den Vereinigten Staaten, dem großen Vorbild vieler liberaldemokratischer Revolutionäre.[74] Die parlamentarischen Versammlungen weisen nur wenige demokratische Elemente auf, da sie in der Regel aus einer aristokratischen ersten und einer oft dem Zensuswahlrecht unterliegenden zweiten Kammer bestehen;[75] zudem ist ihr Einfluss gering, da die Bestellung der Exekutive und des Beamtenapparats weitgehend dem Monarchen vorbehalten bleibt.[76]

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Die deutschen Verfassungen beruhen bis 1918 auf einem ambivalenten Kompromiss zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip.[77] Während die britische Verfassung, deren wahrer Souverän der „King in Parliament“ war, problemlos demokratische Reformelemente integrieren konnte,[78] erlaubte die in Deutschland durch den Wiener Kongress gefestigte Auffassung von monarchischer Legitimität keine derartige Entwicklung.[79] Darüber hinaus weist die unklare legitimatorische Grundkonstellation in föderaler Aufstellung eine Reihe von Parallelen mit der heute in der Europäischen Union anzutreffenden Situation auf, so dass der Vergleich hier erhebliches Erkenntnispotenzial für den europäischen Rechtsraum bieten kann.[80]

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Institutionell sind die meisten Verwaltungen von der Legitimität des Monarchen abhängig und auf diesen verpflichtet. Vor diesem Hintergrund sollte sich noch bis weit in die Weimarer Republik die Vorstellung halten, dass eine vollständige Demokratisierung für Deutschland nicht der richtige Weg sei und dass die monarchische Abschirmung der Verwaltung gegenüber den politischen Parteien am ehesten das Prinzip einer objektiven, unparteilichen und wirkungsvollen Erledigung öffentlicher Aufgaben sichere.[81] Viele Deutsche ordneten sich dieser autoritären Struktur mit einem Selbstverständnis unter, das Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ wirkungsmächtig persifliert.[82]

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Im Zuge der genannten Herausforderungen – industrielle Revolution, Migrationsbewegungen, demokratische Forderungen – nehmen Umfang und Zugriff der Staatsbürokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich zu.[83] Eine bekannte rechtswissenschaftliche Formulierung fasst dies wie folgt zusammen: „Die Verwaltung, bisher wesentlich Ordnungsgarant, wurde jetzt auch wesentlich Leistungsträger.“[84] Leistungen der Verwaltung werden so zu einem wichtigen Legitimationsmoment staatlicher Herrschaft. Zugleich setzt der Aufstieg des intervenierenden Staates das Individuum den Eingriffen der Verwaltung in bis dahin unbekanntem Maße aus. Das verstärkt die Notwendigkeit einer tragfähigen Legitimationsbasis der öffentlichen Gewalt besonders mit Blick auf das wirtschaftlich starke, aber politisch eher schwache Bürgertum, das die infrastrukturellen Segnungen des modernen Staates zwar begrüßt, als Ausgleich für die wachsende Staatsmacht gleichzeitig aber Garantien zur Sicherung der Freiheit, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, verlangt. Größere demokratische Partizipation erscheint vielen dagegen politisch unerreichbar. Verfassungsrechtliche Institutionen allein können dem bürgerlichen Verlangen dabei freilich kaum genügen; sie sind von fraglichem Nutzen, solange keine Umsetzung in der Verwaltungspraxis erfolgt.[85] Etwas Umfassenderes wird gebraucht: der „Rechtsstaat“.[86]

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In dieser Tradition impliziert der Begriff des „Rechtsstaates“ die Bindung der öffentlichen Gewalt an eine Reihe fundamentaler Rechtsprinzipien eher verwaltungs- denn verfassungsrechtlicher Natur,[87] die das Handeln der Verwaltung regeln und eine gewisse Absicherung gegen die (monarchische) Exekutive bieten. Ein Schlüsselbegriff ist die sog. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dazu gehören die Gesetzesbindung der Exekutive (Vorrang des Gesetzes), der Vorbehalt des Gesetzes für administrative Eingriffe in Freiheits- und Eigentumsrechte, sowie ergänzende, zumindest verwaltungsinterne, Kontrollmechanismen.[88] Der Rechtsstaat wird damit zum Synonym für die Domestizierung und Rationalisierung der öffentlichen Gewalt und gilt als Antipode des absolutistischen Machtstaates.[89] „Rechtstaat“ ist in diesem Verständnis ohne Demokratie möglich, wird gar als eine Art „Ersatz“ gedacht. Dies erklärt manche Denkfigur zum europäischen Rechtsraum, etwa wenn Joseph H. Kaiser 1965 mit Blick auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vom Beruf seiner Zeit sprach, einen europäischen Rechtsstaat, aber eben keine europäische Demokratie zu schaffen.[90]

3. Die Weimarer Republik

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Im Jahre 1919 begründet die Weimarer Verfassung den ersten demokratischen Rechtsstaat in Deutschland. Eine ihrer zentralen Herausforderungen bestand in der Demokratisierung der Verwaltung und insbesondere ihres Apparats; dieses Projekt ist in den gut zehn Jahren parlamentarischer Demokratie nicht gelungen. Es bleibt bei einer rigiden Trennung von Staat und Gesellschaft, konstitutiv für das verwaltungsrechtliche Denken der Gründungsperiode;[91] Ansätze zu deren Überwindung werden oft als parteipolitische Kolonisierung diskreditiert.[92] Staat und Verwaltung unter den Präsidialkabinetten Paul von Hindenburgs ab 1930 und erst recht unter der nationalsozialistischen Diktatur bieten eine Negativfolie für die spätere Entwicklung von Staatlichkeit und Verwaltung in Deutschland,[93] ungeachtet einiger Momente administrativer Modernisierung.[94]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › III. Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts

III. Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts

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Die Entwicklung des Verwaltungsrechts in Deutschland wird heute mit Kategorien periodisiert, die weitgehend, wenngleich nicht vollständig, europaweiten Mustern folgen. Wie in fast allen Ländern unterscheidet man die Periode des absolutistischen Steuerungsrechts, des sog. Policeyrechts, mit Schwerpunkt im 17. und 18. Jahrhundert von derjenigen des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts im 19. Jahrhundert. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich keine vergleichbaren Muster entwickelt: das hoch interventionistische Verwaltungsrecht im Ersten Weltkrieg, das liberaldemokratische Intermezzo unter der Weimarer Verfassung, die Präsidialherrschaft und dann die nationalsozialistische Diktatur haben keine spezifischen verwaltungsrechtlichen Typen mit vergleichbarer Prägekraft hervorgebracht. Für die zweite Hälfte des Jahrhunderts werden dann im Anschluss an Rainer Wahl eine Epoche der verfassungsrechtlichen Durchdringung des Verwaltungsrechts von 1950 bis 1990 und eine anschließende Epoche seiner Europäisierung und Internationalisierung unterschieden.[95]

1. Das Verwaltungsrecht im 19. Jahrhundert als Grundlegung eines Anerkennungsverhältnisses

a) Das Policeyrecht als Negativfolie

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Verwaltung im modernen Sinne setzt verschriftlichte Rechtsnormen voraus.[96] Rechtsnormbasierte Verwaltung lässt sich in Deutschland ab dem Ende des Mittelalters beobachten.[97] Wie die Schwierigkeiten zahlreicher Rechtsstaatsprogramme in vielen Teilen der Welt, ja selbst im europäischen Rechtsraum, zeigen, ist eine normgestützte Kommunikation im Dreieck von Regierung (Landesherr), Bürokratie und Untertan zivilisatorisch voraussetzungsvoll.

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Wie in vielen Staaten Kontinentaleuropas wird der Ursprung des deutschen Verwaltungsrechts in landesherrlichen (monarchischen) Vorschriften verortet, mit denen der Landesherr im Lichte der frühneuzeitlichen Rezeption der aristotelischen Politik auf eine „gute Ordnung“ seines Territoriums in zunehmend rationalistischer Absicht zielt. Neben die „gute Ordnung“ tritt nach dem Dreißigjährigen Krieg der Wiederaufbau als weiteres Ziel hinzu. Anknüpfend an den aristotelischen Begriff der Politik erhält das entsprechende Recht der „guten Ordnung“ die Bezeichnung „Policeyrecht“,[98] und Otto Mayer spricht ein Jahrhundert später in kritischer Absicht vom „Polizeistaat“.[99] Das Policeyrecht ist gekennzeichnet durch stets modifizierbare obrigkeitliche Anordnungen und Befehle, womit es sich als weit lernfähiger als das in Traditionen verankerte gemeine Recht erweist,[100] was, so zeigt sich gerade im Vergleich mit der Schweiz, Innovation beflügelte.[101] Seine Grundlage findet sich im ius eminens, dem „Generalnenner der umfassenden landesherrlichen Verwaltungshoheit“.[102] Vergleichend wird festgehalten, dass die Regierungen in Deutschland die umfangreichsten Reformen der Epoche durchführten.[103] Im Ausklang der Epoche kam es mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 zu einer in vielen Hinsichten beispielhaften Kodifikation, auf die unter bestimmten Aspekten, etwa im Staatshaftungs- und Entschädigungsrecht, bis heute zurückgegriffen wird (§§ 74, 75 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht).[104]

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Der Aufstieg des Policeyrechts geht einher mit dem Niedergang des Rechtsschutzes durch das Reichskammergericht.[105] Der regelmäßige Ausschluss gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Akte des Landesherrn begründet die fundamentale Bedeutung der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht, die, obwohl inzwischen von gänzlich anderer Funktion, die Rechtskultur in Deutschland weiterhin tief prägt.[106] Nicht zuletzt wegen des regelmäßigen Ausschlusses des gerichtlichen Rechtsschutzes bildet das Policeyrecht ein administratives „Steuerungsrecht“ par excellence.

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Gewiss ist die Epoche des Absolutismus überwunden; ein Nachglimmen des frühen Begriffs findet sich aber durchaus im europäischen Rechtsraum. Zu erinnern ist etwa an die Politiken des Dritten Teils des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die zwar weder Erziehung noch Beglückung, aber doch gesellschaftliche Steuerung und Transformation bezwecken und denen gegenüber der Einzelne sich bisweilen nur mühsam als Rechtssubjekt positionieren kann;[107] zu erwähnen sind weiter die internationalen policies im Rahmen von global governance, die das Recht im europäischen Rechtsraum zunehmend prägen. Insbesondere der zeitgenössische Begriff der „good governance“ bezeichnet dabei in nicht gänzlich unähnlicher Weise das Wirken vermeintlich aufgeklärter überstaatlicher Bürokratien.[108] Diese Politiken, man denke an die PISA-Politik oder den Bologna-Prozess, steuern und transformieren, aber das steuernde und verantwortliche Subjekt ist nicht nur unverletzlich wie der Landesherr, sondern sogar oft unsichtbar und unfassbar. Die liberaldemokratische Einbindung der entsprechenden Akteure erscheint heute mitunter ebenso unrealistisch wie vielen Zeitgenossen eine entsprechende Einbindung der Machthaber im 18. Jahrhundert.

b) Das Verwaltungsrecht als Umsetzung des konstitutionellen Rechtsstaates

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Von Vertretern einer steuerungsorientierten Konzeption des Verwaltungsrechts wird das Steuerungsrecht des 18. Jahrhunderts heute allenfalls als frühe Vorstufe gewertet. Das Policeyrecht weist in der Tat mindestens zwei wesentliche Defizite auf: die ideologische Ausrichtung auf die Erziehung und Beglückung des Untertans sowie das regelmäßige Fehlen gerichtlichen Schutzes. Vor diesem Hintergrund taucht der Begriff Verwaltungsrecht auf. Er steht für Bemühungen, die überkommene Konstellation zu überwinden; er hat eine transformatorische, ja zumindest partiell[109] emanzipatorische Absicht. Den gemeinsamen Nenner der diversen Konstruktionen bildet die Anerkennung des betroffenen Privaten als Rechtssubjekt durch Stellen, die über Hoheitsmacht verfügen.[110] Durch diese Anerkennung mutiert der Untertan zum Bürger. Von hieraus eröffnet sich eine bedeutende Perspektive auf den europäischen Rechtsraum, denn eine vergleichbare Entwicklung soll sich in neuer Form im europäischen Rechtsraum wiederholen und ist noch nicht abgeschlossen.[111] Mit Blick auf die internationalen Bürokratien, die in den europäischen Rechtsraum hineinwirken, hat sie kaum begonnen.[112]

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Der Kampf um Anerkennung im 19. Jahrhundert als Teil der konstitutionalistischen Bewegung lässt sich nur vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der französischen Besatzung Deutschlands verstehen. Zwar verändert diese Zäsur das Policeyrecht als ein Instrument des Landesherrn[113] nicht sofort, zumal es ein wesentliches Instrument der tiefgreifenden Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts war. Die legitimatorische Unhaltbarkeit der dem Policeyrecht zugrunde liegenden Konzeption des Verhältnisses von Staatsmacht und Individuum wird jedoch alsbald klar. Selbst konservative Denker akzeptieren dies mit dem Begriff des Rechtsstaates.[114] Allerdings bleiben Grad und Institutionen dieser Emanzipation lange umstritten, und es wäre ein Irrtum, die Entwicklung im 19. Jahrhundert als linearen Fortschrittsprozess zu deuten. Insoweit sei nur an die Epochen der Restauration in der ersten und des Neoabsolutismus in der zweiten Jahrhunderthälfte erinnert. Dies sollte man auch bedenken, wenn Rechtsstaat und Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts als liberal bezeichnet werden:[115] Angesichts zahlreicher autoritärer und undemokratischer Momente kann eine solche Bezeichnung, zumindest in der Perspektive des Freiheitsverständnisses des Grundgesetzes,[116] nicht überzeugen.[117] Der Kampf um Anerkennung begann im 19. Jahrhundert, kam aber dort nicht zu einem siegreichen Abschluss.

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Daher etablieren sich auch erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Eckpunkte, aus denen das Verwaltungsrecht schrittweise zu einem rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht geformt wird. Der Begriff Policeyrecht wandert in das historische Kapitel der Verwaltungsrechtslehrbücher, zumeist mit der Aufgabe, den neuen Schlüsselbegriff, das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht, besonders hell strahlen zu lassen. Das allumfassende Policeyrecht schrumpft zum Polizeirecht der Gefahrenbekämpfung, und dies produziert die wichtigsten Fälle des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts – etwa das berühmte Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts.[118] Gewiss wäre es falsch, nun ein „Weniger“ an Verwaltung anzunehmen; mit dem gewaltigen Aufbau bürokratischer Institutionen verstärkt sich der staatliche Zugriff auf die Bürger. Aber immerhin beginnt in einem Bereich eine rechtsstaatliche Rationalisierung, auf denen das heutige Verwaltungsrecht aufbaut.

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Dreh- und Angelpunkt dieses Verwaltungsrechts ist das bereits skizzierte, demokratisch kupierte Rechtsstaatsprinzip.[119] Entgegen materiellen, sogar demokratisch inspirierten Ansätzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich in der zweiten Hälfte ein formales Verständnis des Rechtsstaates durch.[120] „Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“.[121] Es ist für das deutsche verwaltungsrechtliche Denken der Zeit bezeichnend, wenn Otto Mayer schreibt: „Es handelt sich wesentlich nur um zwei Gewalten: die gesetzgebende und die vollziehende. Die sogenannte richterliche, die man gern noch unterscheidet, hat keine selbständige Bedeutung.“[122] Hierin scheint zunächst die bis heute bestehende Schwierigkeit auf, den durchaus erkannten rechtsschöpferischen Gehalt richterlicher Entscheidungen[123] staatstheoretisch und dogmatisch zu fassen. Weiter zeigt sich die strenge Scheidung von Gesetzgebung und Vollziehung, gekoppelt an die Programmatik, dass die Vollziehung im Gesetz ihre legitimatorische und rechtliche Grundlage finden soll. Der den meisten deutschen Verfassungen jener Zeit zugrundeliegende politische Kompromiss zwischen den liberalen und den monarchischen Kräften läuft darauf hinaus, dass die für die Bürger wesentlichen Entscheidungen in Gesetzesform getroffen werden und das Verwaltungsrecht die Wahrung dieses Kompromisses beim Vollzug durch die monarchisch bestimmte Verwaltung sicherstellt. Entsprechend wird der Rechtsstaat im deutschen Konstitutionalismus im Gesetz und die Verwaltung als Institution des Gesetzesvollzugs zentriert. Dem entspricht eine führende Rolle der Juristen in der deutschen Verwaltung,[124] die inzwischen allerdings, wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen, bröckelt.

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Dieses Konzept der Verwaltung als einer (ausschließlich) gesetzesvollziehenden Gewalt hat die Wirklichkeit der Verwaltung natürlich nie völlig eingefangen, schon gar nicht im Kaiserreich. Es war immer klar, dass sich die Verwaltung nicht in der juridischen Gesetzesanwendung erschöpft, und selbst der Grad der Bindung durch das Gesetz war stets umstritten, wie sich etwa am Verwaltungsermessen nachzeichnen lässt, zu dessen Verrechtlichung es erst unter dem Grundgesetz kommen sollte. Gleichwohl ist dieses Konzept überaus wirkungsmächtig, vielleicht weil es mit Max Webers Konzept der rationalen Legitimation verbunden wird und die Legitimationsgrundlage der modernen Bürokratie stärkt.[125] Bis zum heutigen Tage gibt es den Idealtypus, dass es sich beim Verwaltungsrecht um Gesetzesnormen handelt, die eine Verwaltung mittels juristischer Methoden zu Verwaltungsakten verdichtet und anwendet, insbesondere wenn diese in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen. Diese Konzeption steht einem angemessenen Verständnis zeitgenössischer Herrschaft im europäischen Rechtsraum im Wege, da sie die gegenwärtige Situation, in der Regierungen und Bürokratien gestaltend tätig werden, nur als „verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess“ diagnostizieren kann.[126] Vor allem aber lässt sich aus dieser Konzeption kein Verständnis supranationaler und internationaler Verwaltungen entwickeln, die im Wesentlichen nicht vollziehen, sondern konzipieren und, wenngleich oft nur mit weichen Instrumenten, regieren.[127]

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So defizitär dieses Verständnis auch ist, für das Kaiserreich sind Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes große Errungenschaften. Denn sie führen zu einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staat und Untertan, worin ein erstes Moment der Anerkennung liegt. Insbesondere gegen Interessen des Bürgertums, also gegen individuelle Freiheit und Eigentum gerichtete staatliche Handlungen sollen nicht länger als bloße Tatsache akzeptiert werden müssen, sondern in ihren Voraussetzungen, Folgen und vor allem hinsichtlich der gegen sie zur Verfügung stehenden Rechtsmittel rechtlich geregelt sein. Aus diesem Programm heraus entwickelt sich, was über lange Zeit als rechtswissenschaftliche Systembildung das identitätsprägende Moment des deutschen Verwaltungsrechts sein soll: die Bestimmung, welche Regeln auf welche hoheitlichen Handlungen anwendbar sind, wie deren Einhaltung kontrolliert werden kann und welche Folgen eine Rechtswidrigkeit zeitigt.

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So unterbreitet Paul Laband die Rechtsform der Verfügung als Handlungsform, anwendbar auf alle individualbezogenen Handlungen aller Verwaltungszweige, und beschreibt ihre rechtlichen Voraussetzungen sowie die Folgen eines illegalen Verfügungserlasses.[128] In seiner Nachfolge entwickelt Otto Mayer in seinem wegweisenden Lehrbuch von 1895[129] die klassische Handlungsform für einseitige rechtliche Maßnahmen des Staates gegenüber einzelnen Bürgern, die er in Analogie zum französischen acte administratif „Verwaltungsakt“ nennt. Dogmatisch ist dieser am Vorbild des gerichtlichen Urteils und seiner Titelfunktion orientiert,[130] was den Unterschied zum bürgerlichen Recht betont. Mayer zielt auf eine rechtliche Handlungsform, die ähnlich einem Gerichtsurteil die Verwaltung in die Lage versetzen soll, die Rechte und Pflichten von Individuen in vollstreckbarer Weise festzulegen. Insoweit bestätigt er den hoheitlichen Charakter administrativen Tuns: Eingriffe sind ohne gerichtliche Entscheidung möglich. Wie ein Urteil muss auch der Verwaltungsakt, solange er nicht durch einen actus contrarius einer befugten Behörde oder eines Gerichts aufgehoben ist, befolgt werden (sog. Tatbestandswirkung). Der Verwaltungsakt bildet eine dem allgemeinen Kompromisscharakter des Konstitutionalismus entsprechende Handlungsform, die sowohl auf die Effektivität administrativer Maßnahmen als auch, da konstitutiv gerichtlich kontrollierbar, auf den Schutz individueller Rechte abzielt. In ihm findet das Verwaltungsrecht des Konstitutionalismus seine konzeptionelle Mitte. In Max Webers Abstraktion wird dieser formale Ansatz zum Inbegriff moderner Staatlichkeit.[131]

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Der Verwaltungsakt ist als ein begriffliches Instrument konzipiert, das der „flutenden Masse der Verwaltungstätigkeit“ (Otto Mayer) Struktur gibt, aufgrund ihrer normativen Natur aber zugleich Grenzen aufzeigt.[132] Methodisch ist diese verwaltungsrechtliche Konstruktion ebenso typisch wie problematisch. Sie ist weder rein deduktiv aus der Idee des Rechtsstaates gewonnen, noch rein induktiv durch Abstraktion positiven Rechts generiert. Es handelt sich vielmehr um eine gleichsam intuitive Dialektik, inspiriert durch Praxis und Prinzipien: In einem wechselseitigen Prozess definiert Mayer Rechtsnatur und Folgen des Verwaltungsakts auf abstrakt-normativer Ebene und „entdeckt“ diese Handlungsform quasi empirisch in einer Vielzahl von Fällen in der Verwaltungspraxis.[133] Das Hauptverdienst seiner Konstruktion besteht darin, der Verwaltung die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern und sie gleichzeitig transparenter sowie auf Initiative des Betroffenen gerichtlich kontrollierbar zu machen. Das stärkt die Legitimität staatlicher Maßnahmen. Vielleicht erklärt sich so der Erfolg von Mayers Konzept des Verwaltungsakts, das nach seiner ersten Veröffentlichung von Lehre und Praxis schnell aufgenommen wurde und schließlich im Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976, wenngleich in modifizierter Form, kodifiziert werden sollte.

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