Kitabı oku: «Rocco und Jele», sayfa 2

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Diese Höflichkeit ist nicht auszuhalten. Diese Hartgummiwörter: dankegut, gerneja. Sonst sagt sie nichts. Wenn er nichts sagt, dröhnt eine Pause. Statt aufzulegen, ist sie höflich. Ins Kino, Jele? Wenndumeinst. Der schottische Film, Jele? Warumnicht. Magst du wirklich, Jele? Ichdenkeschon.

Also, dann.

Er hat sich vorgestellt, wie er sie beim Eingang umarmen wird, aber sie ist bereits im Foyer und redet auf eine braungebrannte Frau ein. Sie sagt: »Luise, das ist Rocco. Luise war gerade in Kuba.«

Dass man auf Kuba Reis mit schwarzen Bohnen Moros y Christianos nennt, ist ihm egal. Er möchte Jele endlich ins Gesicht schauen. Er schafft es nicht, die ledrige Luise ist dauernd im Weg. Und schon fängt der Film an, sie sitzen im Dunkeln, Jele schaut beharrlich geradeaus, ihr Profil ist ein dunkler Scherenschnitt.

Dass im Film gerade sanft ein Falter landet, als er seine Hand auf Jeles niederlässt, ist leider ein etwas kitschiger Zufall. Aber Jele hat ohnehin, wie er nun sieht, die Augen zu.

Es war wohl der falsche Film für Jele. Aber der richtige für seine Hand.

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Das hat er noch nie gemacht, eine Schulstunde geschwänzt, und er hat nicht mal eine plausible Ausrede. Ich lag mit Jele im Bett, und die Sonne schien so schön ins Zimmer.

Wenn die Putzleute gestern das Klassenzimmer abgeschlossen haben, werden sich die Schüler jetzt im Korridor herumlümmeln, werden ungemein laut sein, sodass der Rektor aufhorcht.

Die Sonne scheint so schön ins Zimmer, bis aufs Bett, erschöpft lässt er sich in den Laken liegen, er hat Jeles ganzen Körper bereist, kennt jede Kuhle, jede Kehle, jeden Fleck auf Jeles Fluren, hat von allen Knospen gekostet und vom Salz auf ihrem nassen Gesicht.

Sehr geehrter Herr Rektor Weilenmann, Sie werden gewiss verstehen, dass ich nach dieser Nacht von der Welt vollkommen abgeschnitten war und demzufolge keine Möglichkeit fand, meiner schulischen Pflicht Folge zu leisten.

Er wird sich demnächst aufraffen, in der Küche Kaffee zu kochen, um ihn Jele ans Bett zu bringen, ein richtiges Frühstück, mit getoastetem Brot. Das wird er dick buttern und kleine Schnittchen in Jeles Mund schieben, und was herausragt, wird er dicht an ihren Zähnen abbeißen.

»Jelefrau, sag mal, ganz ehrlich...«

»Ganz ehrlich.«

»Was wärst du lieber, eine Fledermaus oder ein Unau?«

»Ein Unau.«

»Warum?«

»Weil ich nicht weiß, was das ist.«

»Weißt du nicht gerne, was du bist?«

»Ich weiß, was ich nicht gerne bin.«

»Was wärst du lieber, ein Unau oder eine Jele?«

»Was wärst du denn lieber?«

»Ganz klar ein Unau.«

»Warum?«

»Dann könnte ich mich stundenlang an eine Jele hängen.«

»Unau, ich liebe dich.«

»Ohne, dass du weißt, was ich bin?«

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Wird er alt, oder was? Warum erschrickt er, weil die Zeit so schnell vergangen ist? Sommer – der Ahorn vor dem Fenster macht im Klassenzimmer grünes Licht. Auf der Tafel steht HAPPY HOLINIGHTS!, das war bestimmt der kleine Fähmann.

Wenn er die Schüler nach den »Holinights« wiedersieht, werden sie verändert sein, um fünf Wochen Leben beschwerter.

Übermorgen fliegen sie ab, Jele hat bereits gepackt.

»Zwei Gepäckstücke, ohne Hilfe tragbar«, das haben sie abgemacht. Jele hat mit ihrer großen, steilen Schrift die Abmachungen festgehalten. »Allein flanieren dürfen. Keine Fotos.«

Und wenn Jele enttäuscht ist? Wenn sie sich überfreut hat? Dazu haben sie nichts abgemacht.

Er scheut sich, seine Reisetaschen hervorzuholen. Wenn er die Reißverschlüsse aufzieht, steigen Erinnerungen hoch, ein stechender Geruch nach Unwiederbringlichem.

Er würde gerne in diesem grünen, kühlen Licht sitzen bleiben, sich nicht mehr rühren, die Augen schließen.

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Wie bleich sie ist! Wenn sie lächelt, wirkt sie noch bleicher. Schön sieht sie aus in ihrem hellen Kleid. An diese Jele will er denken, wenn er an sie denkt.

Vielleicht kann er am Kiosk in der Abflughalle noch Dörrpflaumen kaufen, er hat für seine Verdauung nichts eingepackt, und die wird überhaupt nicht funktionieren in einer Hotelzimmertoilette, mit einer wartenden, horchenden Jele nebenan. Vielleicht sollte er sich auch ein paar Zeitschriften kaufen. Er hat nur den Aphorismenband von Lichtenberg dabei. Leicht, aber gewichtig, könnte er zu Jele sagen, ach was, das wirkt zu einstudiert.

Nein, Pflaumen gibt es nicht. Schade, es wäre einfach gewesen, sie abends einzuweichen. Am Abend, da wird er nun neben Jele unter einer grellen Deckenlampe liegen, und der Tag wird gut oder schlecht gewesen sein, und er wird im Lichtenberg blättern und an seine steinharten Gedärme denken. Und später im Dunkeln wird er sich wundern, dass sein Hinterteil wie angegossen in Jeles Schoß passt. So wie sich Lichtenberg wunderte, dass den Katzen gerade an der Stelle zwei Löcher in den Pelz geschnitten wären, wo sie die Augen haben.

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Einmal hatte er die Idee, seiner Mutter eine Reise nach Linz zu schenken. »Der besten Linzertortebäckerin.« Er hat es nie gemacht, wie vieles, was er sich für seine Mutter vorgenommen hat. So wie er jetzt Linz überfliegt, mit einem Schattenhusch von Bedauern, so überfliegt er auch andere Punkte in seinem Leben. Rasch, rasch darüber hinweg.

Es soll für beide eine schöne Reise werden, das hat er sich vorgenommen.

Seine Bedenken sind weg. Es ist, als hätte er sie beim Abflug liegen lassen. Dass Jele neben ihm sitzt, blass, schön, mit geschlossenen Augen, das kommt ihm plötzlich vor wie ein Geschenk. Wenn er will, kann er sie sofort umarmen. Wenn er will, kann er ihr Haar hinters Ohr streichen und an ihrem Ohrläppchen saugen, kann mit der Fingerspitze ihr Profil entlangstreichen oder ihre Brustwarzen drücken wie einen Klingelknopf.

In Wien werden sie zwanzig Minuten Zeit haben umzusteigen, das ist eher knapp, vielleicht werden sie rennen müssen, kein Problem, sie haben ja bloß die Rucksäcke.

Wenn er will, kann er sagen, Jele, ich liebe dich.

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Die Blinis waren zu fett. Überhaupt war das Essen enttäuschend schlecht und teuer. Alles in diesem Lokal, das sich vornehm gab, reizte Jele zum Lachen. Einmal, als sie losplatzte, spritzte Suppe aus ihrem Mund. Er duckte sich. »Angriff«, sagte sie, und ließ unter dem Tisch die Füße an seinen Beinen hochklettern.

Er streckt den Arm hinüber auf ihre Bettseite. Sie ist nicht mehr da.

Sie steht am Fenster und schaut hinaus. Sie ist nackt, er kann im Dunkeln ihre Schulterblätter erahnen. Morgen wollen sie zusammen auf den Markt. Möchtest du lieber allein losziehen?, hat Jele gefragt. Sie will sich an die Abmachungen halten. Aber er will sich jetzt gerade an nichts anderes als an Jele halten. An ihren weichen Schultern will er sich festhalten und sie mit einem Ruck in sich hineinziehen.

Er will dieses Zimmer in Vilnius nicht vergessen, Nummer achtundzwanzig mit einer Bibel auf dem Nachttisch und mit Jele am Fenster, er will aufstehen und sich neben Jele stellen und mit ihr hinaus auf die Blutbuche schauen. Wenn er will, kann er sagen, Jele, ich liebe dich.

Es ist lange her, dass er sich vorgenommen hat, diese drei Worte nie mehr zu sagen.

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Er ist froh zu wissen, dass draußen ein wunderbarer, warmer Tag ist.

Er stellt sich vor, er würde nach dem Rundgang durch das verdunkelte Jüdische Museum die Haustüre aufstoßen und draußen wäre das schwarze Nichts.

Was ihn am meisten beeindruckt, ist ein altes Familienfoto, zwei von sechzehn Köpfen sind eingerahmt, die haben überlebt.

Er stellt sich vor, das wären Jele und er. Sie würden zusammen in das schwarze Nichts tauchen und sich ans Licht strampeln. Und dann?

Jele ist immer ein Zimmer voraus. Wenn er ihr etwas zeigen will, ist sie schon nicht mehr da. Zum Beispiel die Verordnung, dass Juden nicht auf dem Gehsteig gehen, nicht nebeneinander laufen, niemanden grüßen, erst gegen Abend einkaufen durften. Der Markt heute Morgen wäre ihnen also verwehrt gewesen. Sie hätten den Kofferraum voller knallgrüner Gurken nicht gesehen. Er wundert sich, dass Jele sich auf dem Markt hat wiegen lassen. Ist ihr so wichtig, wie schwer sie ist?

Er stutzt, als er im Gästebuch, das neben dem Ausgang ausliegt, von rechts nach links blättern muss. Jele hat sich schon eingetragen, sie wird bereits draußen sein.

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Wenn er nicht erst um fünf ins Hotel zurückkehrt, wie mit Jele abgemacht, kann er sich ungestört auf die Toilette setzen. Und sich dann flach legen. Das stundenlange Herumlaufen in dieser Hitze hat ihn ganz schön geschafft, und doch kann er kaum genug kriegen von den schmalen Sträßchen, in denen er nicht viel mehr als seine eigenen Schritte hört, von den üppigen Fassaden, die wie alte Kuchen zerbröseln, von der Schönheit, die bereits hinüber ist. Und wie ein Nichtraucher vor Qualm flieht er vor der Musik aus den Cafés, weil sie dasselbe stampfende Gehabe hat wie zu Hause. Bleibt dann wieder stehen in einem stillen Winkel, in dem er Stummes zu hören glaubt, die Mauersteine, die Hitze, seine Haut.

Was will er Jele erzählen? Dass er einen Ring aus Bernstein gesehen hat, den er ihr schenken möchte. Dass er zwei junge Frauen beobachtet hat, die an einer Bushaltestelle mit den Händen aufeinander eingeredet haben. Wie ihm einfiel, dass er sie auch dann nicht verstehen würde, wenn sie nicht taubstumm wären. In diesem Land, wo ja »taip« heißt.

Das Hotelzimmer ist nicht abgeschlossen. Er stößt die Tür auf und erschrickt. Ist Jele abgereist? Kein Koffer mehr da, kein Kleinkram mehr auf dem Tisch. Sein Herz schlägt jetzt hörbar. Jele? Fassungslos schaut er sich um. Dann sieht er die Zimmernummer, die falsche.

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Wieder ein Tag, der ihn aufgeheizt hat mit einer diffusen Lust. Pulsierende Wehmut oder so was. Dass Jele betrunken ist, stört ihn, weil er ihr nichts erzählen kann.

Sie nimmt nicht mal die Hände vom Gesicht. Auch als sie sagt, sie habe den Tag damit verbracht, herauszufinden, was Tampon auf Litauisch heißt. Montag, Dienstag, Mittwoch, Tampontag.

Warum hat sie denn keine dieser Dinger eingepackt? Nehmen Frauen, die verreisen, so was nicht selbstverständlich mit wie eine Identitätskarte? An solches Blut hat er heute morgen nicht gedacht, als er die Folterzellen im ehemaligen KGB-Gebäude besucht hat. Lief es den gefangenen Frauen einfach die Beine runter? Und färbte das eisige Wasser rot, in dem sie knietief zu stehen hatten?

Er wickelt sich aus dem Badetuch und legt sich neben Jele, Rücken an Rücken, Wenn er sie mit seinem Buckel anschubst, buckelt sie sanft zurück.

Sie will wissen, was KGB heißt. Er weiß es nicht. So stockbetrunken kann sie nicht sein, wenn sie das wissen will. Soll er sie fragen, was sie getrunken hat? Erst jetzt fällt ihm ein, dass sie bei dieser Trinkerei womöglich gar nicht alleine war.

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Jele wartet in der Schlange nebenan. Sie ist um etwa drei Personen im Rückstand. Er muss seinen Kopf bis zum Anschlag drehen, wenn er zu ihr zurückschaut. Dann macht sie ein Hasenmäulchen oder schielt. Oder berührt mit der Zungenspitze die Nase. Das kann er nicht.

Jele war dafür, die Fahrkarten schon heute zu holen. Der Zug fährt morgen in aller Früh. Für ein paar Tage werden sie nicht mehr eigene Wege gehen.

Er weiß immer noch nicht, warum die Kirche, in die er heute geraten ist, so voll war. Er stand seitlich an der Wand und wunderte sich, mit welcher Inbrunst ausgewachsene Menschen die Zunge nach einer Hostie ausstreckten. Lamm Gottes, Leib Christi, Jungfrau Maria und das ganze barocke Geflügel, was für ein Betrug, dachte er wütend. Und merkte aber auch, dass er weit hinten im Kopf immer noch genügend Tränen hatte, als der Chor »Näher, mein Gott, zu dir« anstimmte.

Jetzt ist Jele auf gleicher Höhe. Würden sie die Arme ausstrecken, würden sie sich berühren.

Er könnte jetzt zu ihr hingehen und ihr diesen dreiwortigen Satz sagen. Jetzt, wo sie auf gleicher Höhe sind, hat er nichts mehr zu verlieren.

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Das Kielwasser schäumt so weiß wie die Wolken, sodass Himmel und Fluss ineinanderfließen. Aus den großgeschweiften Buchten fliegt ab und zu ein Trupp Reiher auf. Es sieht so aus, als wären hinter diesen endlosen Erlenketten keine Menschen mehr. Als wären die Kühe nicht Kühe und somit jemandes Besitz, der vielleicht schlafend im Sand liegt. Als wären es Büffel, und das Land wäre Afrika.

Jeles Füße sind nass von der Gischt.

Die Erinnerung, dass er diese Füße, die meistens kühl sind, geküsst hat, und die Vorstellung, er könnte sie nicht mehr spüren in der Nacht, weil sie einfach weggelaufen wären... das macht ihn leicht schwindlig.

Jele in seiner Jacke, er hält sie fest, Jele in seinen Armen, in seinem Mund, ihr Zittern in seinem Zittern, das Boot stampft lauter und lauter, und der Fluss steht still.

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Jele hat Brombeerflecken im Gesicht. Das weiß nur er. Und Sand im Nabel.

Er hat sich die Dünen nicht so hoch vorgestellt. Da hat sich eine weiße Riesin auf die Nehrung gelegt, sammelt Wärme in ihren Körperfalten, hält den Wald zwischen den Schenkeln, riecht nach Kiefernadel-Deo.

Es ist gut, dass sie wieder einen Weg unter den Füßen haben.

»Jele, nicht so rasch, da vorne ist irgendwo Russland.«

Der Rucksack klebt ihm auf der Haut. Der Himmel ist inzwischen grau geworden, aber die Wärme ist immer noch da. Trotzdem, so weitab vom Meer sollten sie sich was anziehen. Von hinten sieht es beinahe aus, als stecke Jele nackt in ihren Shorts, das kleine Bikini-Oberteil ist so hell wie ihre Haut. Wenn der Weg steiler wird, streckt sie ihre Kniekehlen durch, warum rührt ihn das? So wie er den Ortsplan in der Hotelhalle in Erinnerung hat, sind es bis zur russischen Grenze nur ein paar Kilometer. Jetzt sind sie schon etwa eine Stunde gelaufen, wobei das im Wald kein Laufen, sondern eher ein Kriechen war.

Vielleicht wär’s besser umzukehren. Es ist so verdammt still hier.

Jele, so wart doch mal.

»Jele?«

»Ja?«

»Es ist schöner zu zweit.«

»Was?«

»Auf einem kratzigen Kraut zu sitzen, während man schwitzt und ein graues Meer sieht, nämlich das Baltische, und es grollen hört und zwei Wildgänse über einen hinwegfliegen und man weiß, dass man jederzeit aufstehen und über eine umgestürzte Kiefer hinweg seine Blase erleichtern und das vorher erwähnen kann.«

»Auch Schweigen ist schöner zu zweit.«

»Und die Konfitüre aussuchen, beim Frühstück im Hotel.«

»Oder jemanden blöd finden.«

»Und nach dem Blitz das Donnern abwarten.«

»In einem Museum nicht stehenbleiben wollen.«

»Nicht das Aufatmen auf dem Berggipfel, aber das Absteigen.«

»Eine Sternschnuppe sehen oder wie bei einer Kuh die Kacke rausflättert.«

»Aufwachen.«

»In einen See steigen, wenn das Wasser kalt ist.«

»Aus einer kühlen Kirche in die Welt hinaustreten.«

»Die Pause im Kino.«

»Beerenflecken im Gesicht, weil sie sich wegschlecken lassen.«

»Ich weiß nichts mehr.«

»Nichts mehr wissen.«

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Es ist nichts Freundliches, was der Uniformierte gerufen hat. Und die Art, wie er jetzt auf sie zukommt, ist eine schrittweise Drohung.

Womöglich ist es ein Wichtigtuer. So oder so wird Nicken und Lächeln das Beste sein. Vielleicht haben sie eine Verbotstafel übersehen. Vielleicht haben sie die Grenze bereits übertreten, dahinten im Walddickicht.

Diese Laute, die irgendwie zu dick sind für den Mund, das ist Russisch. Alles, was der Mann sagt, hat ein Ausrufezeichen. Jele kreuzt die Arme vor ihrer Bikini-Brust.

Er könnte »sa-wásche sdarówje« sagen. Das ist ungefähr alles, was er an Russisch noch weiß. Aber der Typ sieht nicht so aus, als wenn er Spaß verstünde. Er hat die Hand an der Pistole.

Umdrehen, zurückgehen, nicht mehr aufblicken. Nichts sagen, Jele! Ich mag ihn nicht, den Mann.

Was er jetzt wie mit Schalldämpfer geschrieen hat, war ein Befehl.

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Er hat rein gar nichts dabei, womit er sich ausweisen könnte, er hat heute morgen bloß Geld eingesteckt, Meer, Strand, Dünen waren angesagt. Und Lesen im Lichtenberg, endlich mal.

Jele bei der Hand nehmen und rennen, das wär’s. Aber der Mann hat eine Pistole. Und dreht vielleicht durch.

Pro forma wühlt er ein wenig im Rucksack. Auf der Wasserflasche steht swiss. Soll er ihm die zeigen? Oder wirkt das, als wollte er ihm kumpelhaft einen Trunk anbieten? Der Mann will Respekt. Wichtig ist, dass Jele etwas anzieht. Hier, ihr Shirt, ganz warm, als hätte es über einem Ofen gehangen. Da, Jele, nimm – ein Schmerz reißt ihm den Arm hoch, und die Angst sticht zu: Der Typ hat ihn geschlagen!

Er ist gefährlich.

Dieses Milchgesicht ist gefährlich. Jele und er sind sein Spielzeug. Das Handgelenk brennt, und wenn er es beugt, jagt der Schmerz hoch bis zur Schulter. Warum streckt Jele den Arm aus? Hat sie der Hieb auch getroffen? Nein, sie hat eine Karte in den Fingern. O Gott oder wer, mach, dass der Kerl die Karte nimmt. Lass Jele nicht derart zittern.

Endlich.

Statt die Karte anzuschauen, fährt der Mann mit der Kartenkante zwischen seinen Zähnen auf und ab. Er hat makellose Zähne.

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Mit einer unverschämten Langsamkeit hat der Typ die Pistole gezogen und wegaufwärts geschwenkt. Jele hat sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie hat die Hände in den Taschen. Der Typ schaut ihn an und hebt das Kinn. O Gott oder wer, steh uns bei.

Er und Jele gehen nebeneinander, wobei Jeles Füße kaum merklich etwas weiter vorne sind als seine. Wenn der Weg zu schmal wird für beide, reiht er sich hinter Jele ein und sieht dabei über seine Schulter kurz den Kerl, der hat jetzt Schweiß im Gesicht.

Kein Haus weit und breit.

Das Meer grollt nicht mehr.

Als er stolpert und abrutscht vom sandigen Weg und Jele ihm wieder aufhilft, spürt er unterhalb des Nackens den Druck der Pistole. Jedoch erschrickt er nicht. Es ist, als sei der Schreck erstarrt und nicht mehr zu erschüttern.

Was ihn beim Weitergehen peinigt, ist seine volle Blase. Jeden Schritt listet er ihr ab. O Gott oder wer, lass anhalten.

Seit er gestolpert ist, hat Jele ihn nicht mehr losgelassen.

34

Kein Mensch wird ihm das glauben. »Abgeführt von einem Russen, kannst du nicht etwas Besseres erfinden? Im Kalten Krieg vielleicht, aber doch nicht heutzutage.« Kein Mensch. Er weiß es ja selber – dass russische Beamte ausnehmend freundlich, wenn auch manchmal umständlich sind, das steht in seinem Reiseführer.

Sein Gesicht spannt. Entweder hat er zu viel Sonne erwischt. Oder zu viel Angst. Könnte ja sein, dass Angst eine Materie ist, die sich einfangen oder abstreifen lässt, Materie mit wechselhafter Molekülmasse.

Eine Möglichkeit wäre, sich blitzschnell umzudrehen und dem Kerl die Pistole aus der Hand zu schlagen.

Oder schlagartig stehenzubleiben, damit der Kerl aufliefe und stolperte.

Oder...

...ein Kaninchen! Nein, ein Hase. Haben nicht Hasen diese dunklen Ohrspitzen? Feldhase oder Schneehase. Hübscher Kerl.

Da vorne scheint der Pfad wieder in den Wald zu führen. Ein Zollhäuschen oder so was Ähnliches, steht das eher zwischen Bäumen oder frei im Gelände? Nun, weit kann es nicht mehr sein.

35

Ha-ku-na-ma-ta-ta, Schritt um Schritt, ha-ku-na-ma-ta-ta. Das hat ihm der Taxifahrer auf Sansibar beigebracht. »Hakuna Matata«: Nimm’s gelassen. Hat ihm auch erklärt, dass die Krähen von den Hindus importiert worden sind, damit sie die Leichen fressen.

Zwei Tote im Gebüsch, nie gesucht, nie gefunden – das wär vielleicht was für die Nebelkrähen hier auf der Nehrung, rarr-rarr, soviel Hackfleisch!

Zwischen Ohr und Schläfe kauert ein Kopfschmerz.

Er wird sich umgehend beschweren über diese Willkür, diese Schweinerei. Er wird sich sofort erkundigen, an wen die Beschwerde zu richten ist.

Wieder spürt er den Druck der Pistole, der ihn diesmal nach rechts zwingt.

Er wird nicht ruhen, bis er eine schriftliche Entschuldigung in den Händen hat, von wem auch immer. Der Kerl dahinten kann wahrscheinlich kaum schreiben.

Der Druck der Pistole ist weg, sie stehen vor einer Wand, die mal einen grünen Anstrich hatte, vor einer Türöffnung, aus der es nach Aschenbecher riecht. Er geht hinein. Und weiß im gleichen Augenblick, dass das ein Fehler ist.

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