Kitabı oku: «Von Flusshexen und Meerjungfrauen», sayfa 2
Sie taumelt auf ihn zu und ihr Herz gerät ins Stolpern, noch bevor sie in seine Arme sinkt.
Auch das meine krampft sich zusammen. Wissend, dass der Preis, den sie für diesen Augenblick zu zahlen bereit war, höher ist, als ihr Körper verkraften kann.
»Ich bitte nur um einen Kuss«, höre ich sie flüstern, während er sie in seinen Armen wiegt. Die Rufe der Matrosen schallen durch die Nacht und werden ihnen von den Windböen aus dem Mund gerissen. Wellenkämme brechen mit solcher Wucht auf dem Deck, dass ihr Klatschen ohrenbetäubend ist und die Planken erzittern lässt. Ich rieche Angst und Verzweiflung durch die Wellen triefen.
Und doch scheint inmitten dieses Chaos die Welt stillzustehen, als er seine Lippen auf deine legt und dich küsst. So zart, als würdet ihr am Ufer des Meeres liegen, beschützt von der Nacht – und wäret nicht dem Untergang geweiht. Ich spüre seine Berührung auf deinen Mund. Und weiß, dass ich diejenige bin, der sie gilt. Gefangen von diesem Gefühl, erlahmt mein Widerstand, lasse ich mich von den Wellen umherwirbeln, zu gebannt von diesem Moment, der auch mein Untergang sein wird.
»Gib sie mir zurück«, dröhnt Verzweiflung durch das Tosen des Sturms, während meine geliebte Schwester einen letzten Atemzug durch ihre zu schwache Lunge presst.
»Bring mich nach Hause und suche sie«, höre ich dich in sein Ohr flüstern, obwohl ich viel zu weit weg bin.
Als du ins Wasser eintauchst, erfüllt mich Leere, denn die Seele, die ich so lange behütet habe, benötigt keinen Schutz mehr. Und dann tanzt Meerschaum auf den Wellen, die das Schiff bedrängen.
Du bist fort.
Ein letztes Aufheulen und die wütende Raserei der Winde erlahmt.
Er steht am Bug; und auch wenn ich weiß, dass seine Augen nur die Weite des Meeres sehen, blickt er direkt in mein Herz.
Ich werde dich finden, echot seine Stimme in mir. In meinem dummen, verräterischen Herz, das nie darum gebeten hat, so zu empfinden.
Ich tauche unter und fliehe.
Das Leben im Meer ist unerträglich geworden. Mein Vater hat nicht mehr gesprochen, seit seine Tochter verschwunden ist. Ich wünschte, er hätte den friedlichen Ausdruck in deinem Gesicht gesehen.
Manchmal höre ich deine Stimme zu mir sprechen. So wie damals, als wir in den schlimmen Nächten den Schmerzen trotzten, die dich immer wieder überfielen. Ich weiß nicht, welcher mehr quälte. Der, der in deinem Körper wütete, oder der in meinem, weil ich tatenlos zusehen musste.
Du warst nie tatenlos, flüsterst du in meinem Herz. Du hast mir die Hoffnung geschenkt. Die Hoffnung auf eine Liebe – selbst wenn sie nie mir gehörte. Auch wenn ich es mir noch so sehr gewünscht habe. Ich danke dir dafür.
Dein Dank macht es nicht leichter, und der Anblick deiner sich in Meerschaum auflösenden Gestalt sucht meine Träume heim, bis ich beschließe, nicht mehr zu schlafen.
Doch das Murmeln des Meeres lässt mir keine Ruhe.
Nun sind es allerdings andere Worte, die ich vernehme.
Die Worte, die er in den Brief geschrieben hatte, waren für mich bestimmt, und auch wenn sie ungelesen blieben, waren sie nicht verloren, denn das Meer hatte sie aufgefangen.
Auch wenn ich noch nie den Klang deiner Stimme vernommen habe, ist es dein Herz, das laut zu mir spricht. Das deutlicher als jedes Wort nach mir ruft. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst – deine Augen können es nicht verbergen. Ich habe ihr gesagt, dass mein Herz schon vergeben sei, und es bekümmert mich, ihre Hoffnung zu enttäuschen, doch nicht sie ist mir vorbestimmt.
Ein letztes Mal werde ich noch in See stechen, dann bin ich frei.
Ich werde auf dich warten.
Egal, wie lange es dauert.
Unablässig murmeln die Worte in meinen Ohren.
Meinem Geist und meiner Seele.
Verfolgen mich und suchen mich heim.
Ich muss fort.
Als das Meer mich in die Flussmündung trägt, blicke ich nicht zurück.
Ich werde eins mit den Gezeiten. Wiege mich mit dem Seegras im Sog der Strömungen, lasse meinen Geist gleich der Kieselsteine am Uferrand hin- und herwälzen. Mond um Mond vergeht. Ebbe und Flut werden zu meinem Herzschlag. Doch die Hoffnung, dass sich der Schmerz ebenso wie die Kanten der Sandkristalle abschleifen würde, bleibt unerfüllt.
Das Meer hört nicht auf zu flüstern, nur weil ich mich in einer Höhle im Fluss verstecke. Ich kann es immer noch hören.
Weil es in mir ist.
Und wer rettet dich?
Schweig, Schwester, schweig.
Ich kann nicht. Du hast es verdient, glücklich zu sein.
Wie kann ich das sein, wenn du fort bist? Wenn alle, die ich geliebt habe, fort sind oder in Trauer verharrt.
Ich bin nicht fort. Du siehst mich nur nicht mehr. Du musst die Augen schließen, um wirklich sehen zu können.
Ich schweige. Im Gegensatz zum Meer, das mich ruft. Ohne Unterlass.
Du kannst nicht vor dem weglaufen, was dir bestimmt ist. Aber du kannst ihm entgegenschwimmen.
Ich schreie meine Trauer hinaus, bis ich die Stimmen in meinem Kopf vertrieben habe. Auch wenn ich weiß, dass sie sich nur in meinem Herz versteckt haben und nie fortgehen werden, bin ich dankbar für einen Moment der Stille.
Der nächste Vollmond bringt eine Sturmflut mit sich. Sie überspült die Ufer der Flussmündung, wirbelt alles durcheinander, heult und tobt, reißt alles mit sich – bis ich aufgebe.
Komm nach Hause.
Das Meer empfängt mich mit salziger Umarmung und ich erkenne, wie sehr ich es vermisst habe, durch die blaue Unendlichkeit zu gleiten. Den Stammsitz meiner Familie meide ich. Meine Art ist langlebig und man könnte mich wiedererkennen.
Ich würde den Schmerz und den Vorwurf in ihren Augen nicht ertragen. Auch nach all der vergangenen Zeit nicht.
Die Erinnerungen wispern.
Jetzt, wo deine Mutter fort ist, wird es deine Aufgabe sein, auf deine Schwestern aufzupassen.
Die arme Kleine – das schwache Herz und dann noch der Verlust der Mutter.
Wie soll sie das nur überleben?
Nach einiger Zeit finde ich, was ich gesucht habe. Die Höhle von ihr, der Verführerin, wie mein Vater die Meerhexe in dem Streit mit meiner Mutter genannt hatte, als er sie versuchte aufzuhalten.
Und als er sie in Stein bannte, nachdem meine Mutter zu Meerschaum geworden war.
Ich wollte nur helfen, flüstert die Statue, wenn ich nah genug an sie heranschwimme.
Was ist wichtiger? Dass alle anderen glücklich sind, oder dass du glücklich bist?
Glück. Glück ist nicht für mich bestimmt, denn mein Glück tanzt in den Schaumkronen der Wellen.
Die Höhle wird meine Zuflucht. Die Tage und Nächte vergehen. Die Strömungen berichten vom Wandel der Welt, lenken mich mit dem Geplapper von den Worten ab, die das Murmeln des Meeres in meine Seele gestreichelt hat. Ohne dass ich es wollte.
Ich werde auf dich warten.
Eines Tages spüre ich, dass ich nicht allein bin. Eine Nixe hat den Weg zu mir gefunden. Geleitet von den alten Legenden über die Meerhexe, die Nixen in Menschen verwandeln kann.
»Du bist umsonst gekommen«, teile ich ihr mit.
»Bitte lass mich mein Anliegen vortragen«, fleht sie mit großen Augen.
»Ich weiß, was du willst, und die Antwort lautet Nein. Vergiss ihn.«
»Das kann ich nicht.«
»Geh fort!«
Sie geht fort. Doch sie kommt wieder. Am nächsten Tag. Und am nächsten. Ich sehe die Hoffnung in ihren Augen.
Hatte so auch meine Mutter gefleht?
»Nun gut. Komm morgen wieder und du erhältst etwas, das dir helfen wird.«
So geschieht es, und wäre mein Herz noch heil, hätte es beim Anblick des Glücks in ihrem Gesicht zerbrechen können.
»Geh«, sage ich ihr, »lege dich zur Ruhe und schlucke diese Perle.«
Sie schwimmt glücklich fort, sie ist gerettet, doch ich verspüre weder Freude noch Friede.
Die Perle würde sie vergessen lassen, warum sie zu mir kam.
Aber was, wenn es das Beste war, was das Schicksal für sie bereithielt?
Was taugt das Beste, wenn es zu Leid und Trauer führt? Du hättest eine Ewigkeit an Vaters Seite verbringen können.
Die Ewigkeit hätte nichts daran geändert, dass ich ihn nicht lieben konnte.
Liebe, Liebe – was nützt Liebe, wenn sie nicht von Dauer ist.
Manchmal ist Liebe zu stark, um vergessen zu werden. Du weißt es, denn kein Zauber der Welt hat es dich vergessen lassen.
In dieser Nacht werde ich heimgesucht von der Sehnsucht der Nixe. Die Perle erwies sich als nutzlos. Vielleicht weil mein Herz doch nie ganz von der Hoffnung lassen konnte.
Verräterisches Ding.
Der Vollmond lockt.
Schwimm an die Oberfläche, Schwester.
Also gut. Ich gebe auf. Ich bin es müde zu fliehen. Die Hoffnung niederzukämpfen, die Trauer zu ertragen.
So viel Zeit ist vergangen, und doch fühlt es sich an, als wäre ich erst gestern zum letzten Mal an der Seite meiner Schwester durch die blaue Unendlichkeit getaucht, umspielt von silbernen Lichtstrahlen des Mondes, der mich zu sich lockt.
Schwimm schneller, Schwester.
Ich zögere. Sollte ich wirklich …
Doch ich bin schon an der Oberfläche angelangt und sehe vor mir den Felsen aufragen, der all die langen Jahre und Jahrzehnte gewartet hat.
Und ich sehe noch jemanden.
Er sitzt auf dem Felsen, den Blick auf das Meer gerichtet. Bis er … den meinen auffängt.
Es wird sein, als würden alle Sterne der Nacht auf einmal aufleuchten.
»Ich habe auf dich gewartet«, flüsterst du, und ich kann es hören, auch wenn die Wellen um mich herum lärmen.
Das Meer verstummt, die Zeit bleibt stehen.
»Viele Leben lang. So viele Körper trugen meine Seele durch die Zeit. Nie konnte ich Frieden finden.«
Du kniest neben mir und die Berührung deiner Hand lässt mein Herz stolpern.
Deine Gesichtszüge sind fremd, aber deine Augen würde ich überall wiederfinden.
»Was wird aus deinem Reich?«
»Ich bin schon lange kein Prinz mehr«, antwortest du auf meine stumme Frage, und es scheint dich nicht zu bekümmern.
»Ich werde mich nicht in einen Menschen verwandeln. Ich kann das Meer nicht aufgeben. Die Erinnerung ist alles, was mir von ihnen geblieben ist.« Du kannst mich verstehen, auch wenn ich an Land nicht sprechen kann.
»Das verlange ich nicht. Ich werde mit dir kommen. Wenn du mich willst.«
Seine Augen werden heller strahlen als die Sonne.
Ich blinzele. Und ich verstehe.
Das Opfer, das er zu geben bereit ist. Für mich. Für uns.
Lass uns gehen, flüstern die Stimmen in meinem Herzen. Lass uns frei, du brauchst uns nicht mehr zu beschützen.
Meine Hand greift nach der seinen und gleichzeitig kann ich endlich loslassen. Sein Lächeln lässt meine Augen überfließen, und während sein Mund meine Lippen berührt, spüre ich, wie sich die Teile meines Herzens wieder zusammenfügen.
Und ich Frieden finde.
Der Kelpie und die Meuterbraut
Mira Valentin
Mira Valentin
Als ich Mira Valentin zum ersten Mal getroffen habe, sah sie aus wie Daenerys Targaryen aus Game of Thrones. Danach habe ich schnell gelernt, dass ihre Cosplay-Kostüme so wandlungsfähig sind wie ihre Buchwelten.
Sie schreibt unter anderem Urban Fantasy (Das Geheimnis der Talente), High Fantasy (Die Lichtsplitter-Saga; gemeinsam mit Erik Kellen; ausgezeichnet mit dem SERAPH 2020) und historische Phantastik (Nordblut). Für ihren Jugendroman Der Mitreiser und die Überfliegerin wurde sie 2017 mit dem begehrten Kindle Storyteller Award ausgezeichnet. Ihre Enyador-Saga wurde bereits ins Koreanische übersetzt. Als ich sie fragte, ob sie eine Kurzgeschichte zu dieser Anthologie beisteuern wolle, schien gerade die Nachmittagssonne auf uns, denn wir verbrachten mit vier weiteren Autor*innen einen gemeinsamen Schreiburlaub auf Mallorca.
Ihre Geschichte hingegen spielt nicht in der Sommerhitze, sondern in einer frostigen Nacht. Eine wichtige Rolle spielt ein Kelpie, ein keltisches Wasserpferd. Mira ist nämlich nicht nur ein Buch-, sondern auch ein Pferdemensch. »Ich habe bis vor fünf Jahren mein Geld damit verdient, Fachartikel über Pferde zu verfassen«, hat sie mir bei unserer Korrespondenz zu dieser Anthologie verraten. Kelpies findet sie schon lange faszinierend. »Das Thema der Anthologie kam mir gerade recht, um mich auf Recherchereise zu den Wasserpferden zu begeben. Und jetzt finde ich sie noch spannender als zuvor.«
Der Kelpie und die Meuterbraut
Er wartet auf mich.
Nur ein paar Meilen, dann werde ich bei ihm sein. Das sage ich mir immer wieder, während ich mich durch das Unterholz des Waldes kämpfe. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, um keine Zweige zum Knacken oder Laub zum Rascheln zu bringen. In diesen Wäldern treiben Räuber ihr Unwesen, die ganz bestimmt ihre Freude an einer Meuterbraut wie mir hätten. Ich habe mich gegen meinen Lehnsherrn gestellt und ihm das Recht der ersten Nacht verweigert. Jede Jungfrau, die einen Mann ehelichen will, muss sich in der Nacht vor ihrer Hochzeit zuerst ihrem Herrn hingeben, so schreibt es das Gesetz unseres Landes vor. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen – eine, die keine andere Braut vor mir gewählt und überlebt hat: den Pfad des Schreckens. Auf ihm wandle ich nun, mit weißen Schuhen und in meinem Hochzeitskleid, genau wie mein Herr es verfügt hat. Ich sehe noch das herablassende Grinsen in seinem feisten Gesicht, während er seine Entscheidung verkündete. Niemand glaubt daran, dass ich lebendig mein Ziel erreiche. Ein Wald, ein See und ein Berg liegen zwischen mir und meinem Liebsten. Und so kämpfe ich mich voran, in der Hoffnung, lebendig über den See zu kommen und nicht stattdessen ihm zum Opfer zu fallen. Ihm, dem tödlichsten aller Schrecken, der arglosen Wanderern auflauert, um sie zu umgarnen, ihren Geist zu verwirren und sie schließlich unter Wasser zu ziehen: dem Kelpie!
Niemand Lebendiges kann von ihm erzählen, denn jedes Auge, das ihn sah, schloss sich für immer. Jede Zunge, die zu ihm sprach, wurde gelähmt und jedes Ohr, das ihn hörte, ist nun taub. Es gibt lediglich Mythen und Legenden, die sich um dieses Monster ranken, doch an eine davon klammere ich mich wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibgut: Um einen Kelpie zu zähmen, so heißt es, müsse man ihm einen Brautschleier über den Kopf werfen.
So wie ein Ritter die Hand auf den Knauf seines Schwertes legt, um sich zu vergewissern, dass es noch da ist, greife ich nach dem durchsichtigen Stück Stoff an meinem Hinterkopf, das mir Klinge und Schild zugleich sein wird – die einzige Waffe, die ich habe. Dann nehme ich einen tiefen Atemzug und schreite weiter voran. Ich sehe die Baumkronen schon lichter werden, die ersten Sterne dringen durch ihre Zweige. Bald habe ich den Wald hinter mich gebracht! Ich kann den See bereits riechen, da bricht auf einmal ein Ast in dem Fichtendickicht neben mir. Ich fahre zusammen. Alle meine Muskeln angespannt, bleibe ich stehen und lausche. Da! Ein weiteres Knacken. Mit kalten Fingern nehme ich den Brautschleier ab.
Schritte kommen auf mich zu, leise und doch so präsent, wie es nur bei einem großen, schweren Mann der Fall ist. Ich sollte weglaufen, doch noch ehe ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen kann, tut sich das Buschwerk zu meiner Rechten auf und lässt eine Gestalt hindurch.
Es ist tatsächlich ein fremder Mann, doch er sieht ganz anders aus, als ich vermutet hatte: nur wenig größer als ich selbst, aber von massiger, gedrungener Gestalt. Sein Gesicht verschwindet hinter einem struppigen Bart. Langes schwarzes Haar fällt ihm in ungepflegten Locken in die Stirn. Weder sein Alter noch seine Gesinnung kann man durch diese übermäßige Behaarung erkennen. Selbst seine Arme sind von einem flaumigen Fell bedeckt. Sollte das der sagenumwobene Verführer sein, dem ich mich stellen muss? Oder ist er einfach nur ein Räuber, der sich zu weit ins Niemandsland vorgewagt hat?
Es ist schließlich seine Stimme, die ihn verrät – tief wie ein Ozean und sanft wie die Berührung einer Gischtflocke. Ja, dieser Mann muss ein Kind des Wassers sein, ein Flussgeist, ein Kelpie in seiner Menschengestalt!
»Ich grüße dich, Meuterbraut! Schon lange hat es keine mehr gewagt, diesen Pfad zu beschreiten.«
»Ich aber wage es«, sage ich entschlossen.
Da lacht er, laut und tosend wie eine Sturmflut. Seine buschigen Augenbrauen tanzen amüsiert nach oben, während er noch weiter auf mich zukommt. »Was macht dich so sicher, dass gerade du den See bezwingen kannst? Dürres, schwaches Geschöpf, das du bist!«
»Ich nehme es lieber mit dir auf als mit meinem Lehnsherrn! Nicht weit entfernt von hier, auf dem Gipfel des nächsten Berges, wartet mein Bräutigam auf mich.«
Während ich rede, behält er meinen Schleier ganz genau im Auge. Also stimmt es wohl, dass man einen Kelpie auf diese Weise unterwerfen kann. Ich umklammere den Stoff fester.
»Soso, dein Bräutigam«, murmelt er. »Denkst du, er würde dasselbe für dich tun?«
»So wie ich für ihn ins Wasser gehen werde, würde er für mich durchs Feuer gehen«, stelle ich klar.
»Ich hatte auch einmal jemanden, der für mich ins Wasser gegangen ist.« Es ist nur ein Flüstern, doch darin liegt das Leid einer ganzen Welt.
Ich staune über diese Worte. Sagt er das, um mich zu überlisten? Kelpies sind tückische Wesen, die einem Menschen den Kopf verdrehen und seine Gedanken zum Schmelzen bringen, bis nur noch ein verworrener Klumpen voller Sehnsucht übrig ist. Und dennoch kann ich mich der Faszination nicht entziehen, die dieser eine, so voller Schmerz gesprochene Satz in mir auslöst. »Was ist geschehen?«, frage ich.
Der Kelpie umrundet mich, wobei er stets genügend Sicherheitsabstand zu mir und meinem Brautschleier hält. »Sie ging den Pfad des Schreckens, genau wie du. Ich stand auf dem Berg, genau wie er.«
Nun sehe ich seine abgerissene Gestalt genauer. Die zahlreichen Flicken auf seinem Mantel, die ausgefransten Ärmel, die kantige Nase zwischen all dem Gestrüpp in seinem Gesicht.
»Ich sah sie sterben, doch anstatt ihr zu helfen, bin ich davongeritten. Ich war einer dieser Menschen, die bereits beim Aufbäumen der ersten Welle all ihre guten Vorsätze über Bord werfen. Deshalb verfluchte mich die Herrin des Sees und bannte meinen Geist in den Körper meines Hengstes. Nur einmal am Tag, für die Dauer einer Stunde, ist es mir erlaubt, meine Menschengestalt anzunehmen.«
Ein kalter Schauder durchläuft mich. Genau das habe ich über Kelpies gehört! Als sagenumwobene Wasserpferde leben sie auf dem Grund von Seen und Flüssen. Dort hinunter entführen sie ihre Opfer, um sie gierig mit Haut und Haar zu verspeisen. Algen schmücken ihre Mähne und Seetang wächst auf ihrem Schweif. Manchmal, in stürmischen Nächten, kann man die Abdrücke ihrer Hufe auf der Wasseroberfläche sehen. Ganz gleich, welche Umstände dazu geführt haben, dass dieser fremde, bärtige Mann sich in ihresgleichen verwandelt hat – er ist mein Todfeind. Der Einzige, der mich aufhalten kann!
»So wird es bei uns nicht sein. Wir haben uns einander versprochen und es gibt nichts, was uns trennen könnte. Nicht einmal der Tod. Nicht einmal du!«
»Du nennst mich im selben Atemzug mit dem Tod?« Es schwingt Verärgerung in seiner Stimme mit und ich frage mich wieso. Wir beide wissen, was er ist – ein Dämon der Tiefe, durch und durch böse, schlimmer als jedes Sterben und jeder Untergang!
»Du hörst die Wahrheit nicht gern?«, frage ich.
»Die Wahrheit?« Er kommt näher, mustert mich von oben bis unten mit seinem raubtierhaften Blick. »Die Wahrheit ist: Ich bin der Einzige, der dich zu deinem Liebsten bringen kann. Du musst mir vertrauen!«
»Vertrauen?«, entfährt es mir. »Ich soll dir vertrauen?«
»Nur so kommst du über den See.«
Einen Moment lang starre ich ihn bloß entgeistert an. »Eher würde ich einem Seeungeheuer vertrauen oder einem reißenden Wasserstrudel!«, sage ich dann.
Diese Worte lösen nun doch eine erkennbare Reaktion im Gesicht des Kelpies aus. Seine buschigen Brauen verengen sich zu einem durchgehenden Strich. Er presst die Lippen aufeinander und ich habe den Eindruck, als würden seine fast schwarzen Augen noch eine Spur dunkler werden. »Dann musst du wohl genau das tun!«, spuckt er mir entgegen.
Und ehe ich noch etwas erwidern oder gar meinen Schleier über ihn werfen kann, ist er mit einem einzigen großen Sprung wieder im Dickicht verschwunden. Ich höre, wie seine Schritte sich entfernen, dann verändern sie sich und nehmen den Rhythmus von Hufschlägen an. Was auch immer nun geschehen wird, auf keinen Fall darf ich auf den Rücken dieses Pferdes steigen – sonst bin ich verloren.
Mit zaghaften Schritten folge ich dem Pfad weiter bis zum Ufer des Sees. Düster wie eine schlafende Bestie liegt er da, die wellenlose Oberfläche im Mondlicht glitzernd. Es gibt weder einen Steg noch ein Boot, um hinüberzukommen. Doch dort drüben am anderen Ufer tut sich bereits der Fuß des Berges auf, der mein Ziel ist. Mein erklärtes, ersehntes, errettendes Ziel. Ich werde es schaffen, auch wenn ich schwimmen muss.
Also ziehe ich meine Schuhe aus, die durch den Schlamm des Waldweges kaum mehr weiß aussehen. Gerade will ich auch mein Kleid aufschnüren, da höre ich ein Schnauben neben mir. Ich drehe mich zur Seite und erstarre. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ist der Kelpie wieder aufgetaucht, diesmal in seiner Pferdegestalt. Der schwarze Hengst sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe: riesig, mit mächtigen Brustmuskeln, weit geblähten Nüstern und stampfenden Hufen. Sein Schweif ist so lang, dass er auf dem Boden der Uferböschung zum Liegen kommt, und die füllige Mähne wird von einer nächtlichen Brise verweht. Mir stockt der Atem vor Ehrfurcht. Gewiss gab es nie ein schöneres Geschöpf unterm Himmelszelt! Selbst die Sterne scheinen heller zu strahlen, im unbedingten Wunsch, einen Reflex auf das seidige Fell des Kelpies zu zaubern. Nie war das Schicksal grausamer als an dem Tag, als es beschloss, dieses Wesen zum Ungeheuer zu machen.
Ich schlucke. Dann reiße ich mich zusammen und ergreife meinen Brautschleier mit beiden Händen. Langsam gehe ich auf das schwarze Pferd zu. »Du hattest recht: Du wirst mich über den See tragen. Es gibt keine andere Möglichkeit!«, sage ich, doch dabei erschrecke ich vor meinem eigenen Wagemut. Nun wird er mir gewiss seine spitzen Reißzähne zeigen! Er wird sich auf die Hinterbeine erheben und seine steinharten Hufe auf mich niederprasseln lassen!
Doch der Hengst macht etwas ganz anderes: Er weicht zurück. Schnaubend und stampfend bringt er einige Schritte Abstand zwischen uns.
»Was ist los? Hast du etwa Angst vor diesem dürren, schwachen Geschöpf?«
Er schüttelt den Kopf, lässt mich aber weiterhin nicht nahe genug herankommen. Ich versuche es noch ein paarmal, dann gebe ich meine Bemühungen auf.
»Warum bist du überhaupt hier?«, schreie ich den Kelpie an. »Wenn du mich töten willst, tu es! Aber spiele nicht mit mir!«
Ein sachtes Blubbern entweicht seinen Nüstern. Vorsichtig macht er einen Schritt auf mich zu, knickt mit den Vorderbeinen ein und legt sich hin. Ich traue meinen Augen nicht! »Du willst, dass ich aufsteige? So wie all die anderen Mädchen, die du auf den Grund des Sees gezogen hast?«
Ich muss zugeben, dass ich jeden Menschen verstehen kann, der dieser Versuchung erliegt. Auch in mir weckt das sagenhafte Pferd den brennenden Wunsch, auf seinen Rücken zu klettern und eins mit ihm zu werden, mit ihm über den silbernen Wasserspiegel des Sees zu galoppieren wie ein ungebändigter Sturm. Ein tiefer, alles verzehrender Zauber geht von ihm aus. Doch da ist etwas anderes in meinem Herzen, das noch ungleich schwerer wiegt: die Sehnsucht nach meinem Liebsten!
Ob der Kelpie das ahnt? Was, wenn ich zum Schein auf sein Angebot eingehe? Dann komme ich vielleicht nahe genug an ihn heran, um ihn doch noch zu bezwingen.
»Du hast recht«, murmele ich deshalb in verklärtem Tonfall und lasse meine Hände mit dem Schleier sinken. »Ich werde dir vertrauen.«
Schritt für Schritt gehe ich näher. Dabei beobachten mich die tiefdunklen Pferdeaugen ganz genau. Sie sind das Einzige, was noch an den verwahrlosten Mann im Wald erinnert. Derselbe Schmerz, dasselbe abgrundtiefe Leid liegt in diesem Blick.
Als ich bis auf wenige Schritte herangekommen bin, spüre ich, dass der Moment gekommen ist – jetzt oder nie! Blitzschnell springe ich auf das liegende Pferd zu und werfe meinen Brautschleier über seinen Kopf. Doch der Kelpie ist schneller. Mit der Geschwindigkeit eines Dämons fährt er herum, schlägt seine Zähne in den Stoff und springt auf. Wütend funkelt er mich an.
Nein! Meine einzige Waffe im Kampf gegen die Bestie ist verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eines: Ich muss um mein Leben schwimmen. Hastig raffe ich den Saum meines Hochzeitskleids und renne zum Wasser. Der See greift nach mir, umspielt meine nackten Füße, zieht mich in seine nassen Arme. Ich lasse mich ganz hineinsinken, greife weit aus, um möglichst viel Raum zwischen mich und den Kelpie zu bringen. Dabei weiß ich, dass ich schon jetzt verloren habe. Ich bin wie eine Motte in einem Spinnennetz, die sich mit jedem Strampeln nur noch weiter ins Verderben reißt. Dort, tief unter mir, in der fadentiefen Schwärze, verschlingt das Monster seine Opfer. Und genau dorthin schwimme ich. Verzweifelt richte ich meinen Blick zum Gipfel des Berges. So nah und doch so unendlich fern!
Liebster, in einer anderen Welt werden wir zusammen sein!
Ob er mich sehen kann, wie einst ein anderer junger Mann, der den Todeskampf seiner Braut beobachtete? Ich weiß nicht, ob es Tränen oder Wassertropfen sind, die bei diesem Gedanken über meine Wangen rinnen.
Eine Welle schwappt von hinten über mich hinweg. Ich kann nicht anders, als mich umzudrehen. Da sehe ich den Kelpie nur wenige Armlängen von mir entfernt. Lediglich sein Kopf und der muskulöse Hals ragen aus den schwarzen Fluten. Ein Schleier aus reiner Angst legt sich über meine Sinne. Meine Schwimmzüge werden langsamer. Ich wappne mich für den Angriff, das letzte Aufbäumen meines zum Tode verurteilten Körpers, den Schmerz.
Nichts davon geschieht. Stattdessen schließt der Kelpie zu mir auf. Ich spüre die Wassermassen, die von seinen Hufen aufgewirbelt werden. In seinen Augen jedoch liegt weder Gier noch Hass. Erneut wendet er seinen Kopf in Richtung seines Rückens. Er will immer noch, dass ich auf ihm reite. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht.
»Wie?«, frage ich atemlos. »Wie ist deine Braut gestorben?«
Die breite Unterlippe des Hengstes bebt. Ein melancholisches Schnauben dringt aus seiner Kehle, wobei sein Blick auf den See hinausschweift. Erst sehe ich nichts dort, doch dann bemerke ich, dass die Wassermassen sich in der Mitte leicht kräuseln. Luftblasen steigen dort hervor und mit jeder weiteren Sekunde vergrößert sich die aufgewühlte Stelle im Wasserspiegel, bis schließlich ein immer größer werdender Strudel entsteht.
»Was ist das?«
Anstelle einer Antwort erhalte ich ein aufforderndes Wiehern. Wie gelähmt halte ich inne. Der dünne Stoff meines Brautkleids bauscht sich in den pulsierenden Wogen des Sees. Ich kann den Blick nicht von dem Strudel in der Mitte abwenden, wo nun ein helles Leuchten aus der Tiefe steigt. Eine unermessliche Verlockung geht davon aus, schlimmer als von dem Kelpie – tausendfach! Ich will dort hinausschwimmen und in dem Leuchten aufgehen, mich ihm hingeben und für immer in ihm auflösen.
Mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: die Herrin des Sees! Sie hat den treulosen Bräutigam verwandelt. Sie hat seine Braut getötet! Wer über den See schwimmt, fällt nicht dem Kelpie zum Opfer, sondern ihr! Mit diesem letzten klaren Gedanken schwinge ich mich auf den Rücken des Pferdes und kralle mich in seiner Mähne fest.
Ein Zittern geht durch den Körper des Hengstes, dann erhebt er sich, bis er mit allen vier Hufen auf der Wasseroberfläche zum Stehen kommt. Krampfhaft umschließen meine Beine seinen Körper. Und doch kann ich den Blick nicht von dem Strudel reißen. Denn das, was nun daraus emportaucht, ist ein Wesen, strahlender als die Frühlingssonne und anmutiger als der Wimpernschlag einer frisch vermählten Braut. Goldenes Haar umweht ihr feines, gleichmäßig geschnittenes Gesicht. Ihr durchsichtiges Gewand besteht aus grüner Seide, besetzt mit Tausenden Muscheln und Perlen. Als Krone trägt sie eine roséfarbene Wasserrose. Durch ein sachtes Winken gibt die Herrin des Sees mir zu verstehen, dass ich zu ihr kommen soll.
Ich will ihr gehorchen! Möge sie mich unterwerfen und in die ewige Dunkelheit führen!
Doch genau in dem Moment, als ich entscheide, vom Rücken des Pferdes zu springen und dem Befehl meiner Gebieterin zu folgen, schnellt der Kelpie davon. Seine Hufe berühren kaum mehr die Wasseroberfläche. Nur die auffliegenden Gischtflocken und der enorme Gegenwind geben mir einen Hinweis darauf, wie schnell er mich davonträgt.
»Nein, lass mich zu ihr!«, schreie ich und will abspringen. Doch etwas hält mich fest! Es ist die Mähne des Kelpies, die sich wie schwarze Fesseln um meine Taille schlingt. Mit aller Kraft versuche ich, sie loszuwerden, doch es gelingt mir nicht.