Kitabı oku: «Von Flusshexen und Meerjungfrauen», sayfa 5
»Ganz einfach.« Der Kappa funkelte ihn listig an. »Eine leere Kappa-Haut lebt und atmet und wird stets den Weg zu ihrem Kappa zurück suchen. Solange du aber darin steckst, wird das nicht passieren. Die Haut wird schön mit dir zusammen hier unten bleiben, und du wirst ja wohl nicht dumm genug sein, sie am Grund des Sees einfach auszuziehen, nicht wahr?« Er lachte glucksend. »Keine Sorge, ich werde dich füttern und umsorgen, bis ich dich wieder herauslassen kann – nämlich wenn diese Pest endlich Geschichte ist!« Der Kappa sang nun fast, seine Augen leuchteten.
»Nein!«, rief Taro heftig. »Ich werde dir nicht helfen, eine unschuldige Frau zu töten, die nichts Schlimmeres verbrochen hat, als Musik zu machen!«
Der Kappa lachte höhnisch auf. »Natürlich wirst du das nicht. Du hast es nämlich schon getan. Und du wirst mich jetzt auch nicht mehr daran hindern. Bis später, Menschenkind.« Damit verschwand er von dem winzigen Fenster und ließ Taro allein.
»He! Warte!« Taro paddelte hastig zum Fenster und sah den Froschmann eben noch in einem Dickicht aus Wasserpflanzen verschwinden, das hinter der Hütte wuchs wie ein kleiner Wald. »WARTE!«
Aber seine Menschenstimme verklang schnell im Wasser und der Kappa hörte ihn nicht – oder wollte ihn wohl auch einfach nicht hören. Taro starrte verzweifelt den Luftblasen hinterher, die aus seinem Mund entwichen und zu der plötzlich so unerreichbar fern scheinenden Wasseroberfläche hinauftrieben. Was sollte er nur tun? Er musste hier irgendwie rauskommen! Aber die Fensteröffnung war zu klein, die Tür fest verschlossen, und die Algenwände so viel unnachgiebiger, als sie auf den ersten Blick aussahen. Rastlos schwamm Taro hinüber zum nächsten Fenster, das in eine Art winzigen Garten aus Seegras und Sternpflanzen blickte. Auch dieses war viel zu klein, als dass er sich hätte hindurchzwängen können. Wie zum Hohn schwammen ein paar Fische an ihm vorbei in die Hütte, drehten eine kleine Runde und schwammen wieder hinaus. Taro hätte weinen mögen.
In diesem Moment jedoch geschah ein kleines Wunder. Als Taro den Fischen mit dem Blick folgte, wie sie ruhig und glitzernd im Unterwassergarten ihre Kreise zogen, sah er plötzlich im Seegras unter dem Fenster etwas funkeln. Ein verirrter Strahl gebrochenen Mondlichtes fing sich im blanken Metall einer … Schwertklinge?
Taro schnappte nach Luft. Yaes Schwert! War das möglich? Konnte das wirklich wahr sein? Konnte seine Rettung wirklich, wie der Kappa gesagt und doch eigentlich gelogen hatte, von der Strömung bis hierher und in Reichweite seines Armes getrieben worden sein? Oder zumindest beinahe in Reichweite. Denn sosehr Taro sich auch streckte und sich gegen die Algenwand presste, um den Arm noch ein Stück weiter durch das kleine Fenster zu schieben, er schaffte es nur gerade eben, den Schwertgriff mit seinen Fingern zu streifen. Ein Werkzeug. Er brauchte ein Werkzeug!
Sein Blick fiel auf die Seegrasnester, die das Kappa-Haus dekorierten. Und wenn er sich eine Schlinge aus Gras knüpfte und sie an einen der dekorativen Stöcke band?
Entschlossen machte sich Taro an die Arbeit. Es brauchte eine ganze Weile, bis er mit den Schwimmhaut-Fingern und in der ungewohnten Schwerelosigkeit des Wassers eine Art Angel zusammengebastelt hatte. Und noch länger dauerte es, bis er es tatsächlich schaffte, die Schlinge aus dem Fensterloch heraus und um den Schwertgriff zu manövrieren. Selbst unter Wasser schwitzte er inzwischen wie nach einem Tagwerk bei der Buchweizenernte. Wenn es ihm nun wieder abrutschte, wenn es weiter davontrieb, wenn …
Doch dann, endlich, schlossen sich seine Finger um den Schwertgriff, und er zog die Klinge vorsichtig durch das Fenster zu sich herein. Er hatte das Gefühl, noch nie in seinem kurzen Leben so erleichtert gewesen zu sein, obwohl er gar nicht wusste, wie genau ihm die Klinge helfen konnte. Es fühlte sich einfach unbeschreiblich gut an, sie wiedergefunden zu haben.
In diesem Augenblick hörte er vor dem anderen Fenster jemanden ein zufriedenes Liedchen pfeifen, das sich rasch näherte. Ein schneller Blick verriet Taro: Der Kappa kam zurück! Er trug eine Schale mit etwas, das seltsam schleimig und tentakelig aussah. Taro verbarg das Schwert hastig hinter einem der Seegrasbüschel. Er wusste es besser, als den Kappa offen mit der Waffe zu konfrontieren. Der Froschmann war hier im Wasser zu Hause. Er selbst war trotz seiner neuen Haut immer noch ein Mensch, der im fremden Element höchstens unbeholfen herumpaddeln konnte. Hier unten würde er den Kopfteich des Kappa nicht durch eine List leeren können, und kein Sonnenstrahl würde ihm zu Hilfe kommen. Er musste ihn also auf andere Art bezwingen, auch wenn er noch nicht wusste wie. Also hockte sich Taro auf das Seegrasbüschel, hinter dem er das Schwert versteckt hatte, und wartete, dass die Tür sich endlich öffnete.
Der Kappa kam sehr vorsichtig herein, als erwartete er, dass Taro hinter der Schwelle auf ihn lauern würde, um ihm einen Stein über den Kopf zu ziehen. Als er allerdings sah, dass der Junge nur scheinbar verzweifelt in einer Ecke hockte, breitete sich ein selbstgefälliges Lächeln auf seinem Gesicht aus. »So. Hast du verstanden, dass du nicht entkommen kannst? Gut für dich. Sieh her. Ich bringe dir Essen – ich halte meine Versprechen!«
Aber Taro hatte keinen Appetit, auch wenn sein leerer Magen sich bereits vor Hunger verknotete. Wie lange war er bloß schon hier unten? Dem Licht nach zu urteilen, war der neue Tag noch nicht angebrochen, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Das nachtblaue Wasser begann bereits langsam seine Farbe zu verändern. Er musste unbedingt bald nach Hause. Wenn er nur irgendwie an dem Kappa vorbeikäme!
In diesem Moment erklang, wie zur Antwort auf seine Gedanken, ein lang gezogener, durchdringender und dabei leicht blubbernder Ton. Er kam von weit her, von oben herab, gefolgt von einigen weiteren, spielerisch hüpfenden und zugleich klagenden Klängen, die sich rasch durch den ganzen See verbreiteten und das Wasser ringsumher vibrieren ließen. Der Kappa erstarrte. Und auch ohne dass er die Musik zuvor je vernommen hätte, wusste Taro augenblicklich, was er da hörte. Die Kappa-Frau ließ sich durch ihr unfreiwilliges Landexil nicht davon abhalten, ihr Morgenlied zu spielen. Vielleicht weniger als je zuvor.
»Das ist doch nicht zu fassen!«, zischte der Kappa und schwamm halb aus der Tür hinaus, um hinauf zur Oberfläche zu starren. »Dieses Fischweib! Das tut sie nicht!«
Es war seine Chance. Taro hatte kaum Zeit, seine eigenen Gedanken zu hören, ehe er handelte. Entschlossen packte er das Schwert mit beiden Händen und riss es aus seinem Versteck im Seegras. Dann schoss er auf den Kappa zu, der zu spät bemerkte, wie ihm geschah, und zog die Klinge von unten nach oben über den Froschkörper. In der trägen Schwerelosigkeit des Wassers schien jede Bewegung wie in Zeitlupe abzulaufen. Das Schwert nahm kaum an Geschwindigkeit auf, und als es auf die zähe, faltige Haut traf, glaubte Taro für einen Augenblick, es würde sich einfach darin verfangen und stecken bleiben, um ihm zum zweiten Mal an diesem Tag aus den Fingern zu gleiten.
Aber nicht diesmal. Diesmal schloss Taro die Hände fest um den Griff, einen Finger nach dem anderen, wie Mina-sensei es ihm schon so oft verzweifelt zu erklären versucht hatte. Das Te-no-uchi – dieses eine, entscheidende Mal gelang es ihm. Und die Haut des Kappa riss.
Als müsse die Zeit die zuvor verlorenen Momente wieder aufholen, ging nun alles sehr schnell. Der Froschmann brüllte auf, vielleicht vor Schmerz, vielleicht vor Schreck. Dunkles Blut, fast schwarz im nachtfarbenen Wasser, blühte in schleierartigen Blumen auf und nahm Taro die Sicht. Er spürte mehr als er sah, wie der Kappa zu fliehen versuchte, und mehr aus Reflex denn aus einer klaren Absicht heraus ließ Taro das Schwert fallen, um seinen Feind zu packen. Seine Froschfinger sanken tief in die weiche Haut ein und saugten sich schmatzend daran fest. Und als der Kappa sich mit einem Fauchen zu ihm umdrehte, um sich zu befreien, da glitt die Haut mit einem lauten Schlürfen von seinem Körper, und eine sehnige, muskelbepackte und doch zugleich fast schlangengleich dünne Gestalt kam zum Vorschein, die Taro aus einem Maul voll spitzer Zähne wütend anbrüllte, bis der ganze See unter dem dröhnenden Laut vibrierte.
Doch schon im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen des nackten Kappa vor Entsetzen, als ihm klar wurde, dass er ohne seine Haut nicht würde einatmen können. Mit einem kräftigen Tritt seiner muskulösen Beine drückte er sich vom Boden ab und schoss wie ein Pfeil aufwärts, wo ein erster matter Lichtschimmer den Aufgang der Sonne anzeigte. Seine zurückgebliebene Haut flatterte durch den Druck des aufgewirbelten Wassers in Taros Hand wie ein groteskes Banner.
Taro zögerte nicht lange. Er ließ die Haut los, nahm sein Schwert wieder auf und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben. Dort war immer noch die Kappa-Frau, wahrscheinlich stark geschwächt von ihrer langen Zeit an Land. Und der Kappa-Mann hatte sehr deutlich seine Entschlossenheit gezeigt, sie loszuwerden. Taro fiel nur eine Möglichkeit ein, ihr zu helfen. Er musste ihr ihre Haut zurückgeben.
Als sein Kopf die Oberfläche des Sees durchbrach, leuchtete das erste Licht des neuen Sommermorgens in funkelndem Gold auf dem Wasser. In der Bucht, umgeben von blühenden Seerosen, standen sich die zwei nackten Kappa in geduckter Haltung gegenüber, die nadelspitzen Zähne gefletscht. Sie hatten ihn anscheinend noch nicht bemerkt. Taro schwamm rasch aufs Ufer zu. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, schälte er sich endlich aus der Kappa-Haut, die sich überraschend leicht von seinem Körper lösen ließ und leider noch genauso stank wie zu dem Zeitpunkt, als er sie angezogen hatte.
»Du rücksichtsloses, niederträchtiges Fischweib!«, hörte er den Kappa zischen. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder einen Fuß in meinen See setzt!«
»Dein See?«, fauchte die Frau. »Meine Familie lebt hier seit Jahrtausenden! Wann bist du hergezogen, vor hundert Jahren? Das ist doch lächerlich!«
»Und das gibt dir das Recht, mich zu terrorisieren? Gib es zu, du spielst diese Flöte nicht, weil du die Musik so liebst! Du versuchst, mich in den Wahnsinn zu treiben! Und das nur, weil dir meine Sternalgenwiese nicht gefällt.«
»Du hast meinen Nixenkrautwald dafür ausgerissen!«, schrie die Frau. »Es hat Jahrzehnte gebraucht, ihn in Form zu bringen!«
Der Kappa lachte höhnisch auf. »Dein dummes Nixenkrautgestrüpp! Man konnte nicht hindurchschwimmen, ohne sich die Haut aufzureißen! Nur gut, dass es weg ist! Ich werde die Reste auch noch ausrupfen!«
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da blies die Kappa heftig in ihre Flöte, so schrill und krumm, dass Taro und der Kappa heftig zusammenfuhren. Dann holte sie in einer fließenden Bewegung aus, als führte sie ein Schwert über den Kopf, und hieb ihrem Kontrahenten die Flöte über den Schädel, so kräftig, dass sie mit einem scharfen Knacken am unteren Ende brach. Stöhnend sackte der Kappa in sich zusammen und trieb reglos zwischen den Seerosenblättern. Die Frau stand über ihm. Plötzlich ganz still und seltsam ratlos sah sie auf ihn herab, dann auf ihre zerbrochene Flöte und schließlich zu Taro. Sie hatte blaue Augen. Unfassbar blaue, riesengroße Augen, die im Morgenlicht leuchteten. Taro hatte noch nie blaue Augen gesehen.
»Du hast etwas, das mir gehört«, stellte sie fest.
Taro nickte, noch völlig unschlüssig, was er von der Begegnung halten sollte, deren Zeuge er gerade geworden war.
Die Frau streckte die Hand aus, und weil Taro nicht wusste, was er sonst tun sollte, reichte er ihr die Haut. Die Frau schlüpfte rasch hinein, innerhalb weniger Augenblicke war ihre Gestalt völlig verändert und für Taros unbedarften Blick kaum von dem Kappa zu unterscheiden, den er zuerst kennengelernt hatte. Nur die blauen Augen leuchteten immer noch.
»Und seine?«, fragte die Froschfrau.
»Noch unten«, murmelte Taro.
Die Frau nickte. Dann packte sie den reglosen Kappa-Mann am Arm und verschwand ohne ein weiteres Wort mit ihm im See. Die Oberfläche schlug noch ein paar kleine Wellen. Dann wurde sie wieder glatt, als hätten hier niemals zwei zornige Wassergeister um die Gestaltung der Gärten am Seegrund gestritten.
Taro stand noch eine ganze Weile zwischen den Seerosen, das Schwert noch in der Hand, triefnass und wie benommen. Irgendwann watete er ans Ufer und schlug sich durchs dichte Schilf, bis er den alten Steg erreichte, an dessen Pfosten noch immer sein Übergewand im Morgenwind flatterte wie ein dunkelblauer Wimpel. Auch die Schwertscheide lag noch dort. Hinter der Uferböschung war das Dorf bereits erwacht. Yae würde sicher schon nach ihm suchen.
Taro wrang das Wasser aus seinen Haaren und band sie ordentlich wieder zusammen, zog das Übergewand an und schob das Schwert in die Scheide. Vielleicht würde er all das bald für einen seltsamen Traum halten, dachte er, als er auf die jetzt wieder völlig leere Oberfläche des Sees hinausstarrte.
Aber in seiner Hand lag unzweifelhaft die zerbrochene Flöte der Kappa-Frau. Vielleicht war sie ja verzaubert. Ob er sie damit wieder herbeirufen konnte, wenn er sie reparierte?
Doch obwohl Taro von diesem Tage an jeden Abend am See saß, um die zerbrochene Flöte zu spielen, sah er keinen der beiden Kappa jemals wieder.
Das Tor der Toten
Caleb Roehrig
Caleb Roehrig
Caleb Roehrig schreibt eigentlich Jugendbuchthriller. Doch weil diese so großartig sind – sowohl Niemand wird sie finden als auch Keiner sagt die Wahrheit, die ich in Rekordzeit verschlungen habe –, konnte ich nicht widerstehen und habe ihn für die diesjährige Märchenanthologie angefragt. Inzwischen ist in den USA zudem mit The Fell of Dark sein erster Urban-Fantasy-Roman erschienen und somit gilt Caleb auch hochoffiziell als Phantastik-Autor. Das Buch kann man übrigens als Love, Simon meets Buffy the Vampire Slayer bezeichnen.
Vor der Veröffentlichung seines Debüts arbeitete Caleb sowohl vor als auch hinter der Kamera, unter anderem für eine Reality-TV-Serie. Ursprünglich stammt er aus Michigan, er hat aber auch schon in Chicago, Los Angeles und Finnland gelebt. Überhaupt besitzt Caleb ein ausgeprägtes Reise-Gen. Er hat bereits über dreißig Länder besucht. Die Schweiz war allerdings das erste, in das er sich wirklich verliebt hat.
Sein Märchen spiegelt seine Faszination für die Werke von Hans Christian Andersen wider. Außerdem basiert es lose auf Motiven einer griechischen Sage. Welche, das wird an dieser Stelle aus Spoilergründen allerdings nicht verraten.
Das Tor der Toten
Tief in den dunklen Wäldern, hinter der Ruine eines alten Friedhofs mit seinen verfallenen Grabsteinen, klaffte ein Loch in der Welt. Es lag halb versteckt hinter einer Brombeerhecke und war umringt von Bäumen, die so hoch waren, dass das Sonnenlicht zur Mittagszeit den Boden kaum berührte. Es war so alt wie die Zeit selbst und die Menschen hatten es längst vergessen.
Zumindest behauptete Peter das.
»Es stimmt, Matthias, ich habe es gesehen!«, sagte er an einem Morgen zu Beginn des Frühlings, während die Sonne seine kupfernen Wimpern wie Gold schimmern ließ. Er lachte, hatte Spaß an meinen Zweifeln und etwas regte sich in meinem Herz. Er war so wunderschön mit seinem kantigen Kinn und dem schiefen Lächeln, mit seinen Sommersprossen und dem weichen roten Haar. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ihn liebte. Ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen, hob er das Gesicht zum Himmel und fuhr fort: »Ich kann es dir sogar zeigen. Wenn du mutig genug bist.«
Mut hatte noch nie zu meinen Stärken gehört … aber ich hätte alles getan, um Peter zu beeindrucken. Wir waren schon seit unserer Kindheit Freunde, hatten den Rand der dunklen Wälder erkundet, Glühwürmchen bei Dämmerlicht gejagt und Pilze gesammelt. Aber er war immer der Furchtlose von uns beiden gewesen. Derjenige, der Gefahr als eine Herausforderung deutete und nicht als Warnung.
Am nächsten Tag füllten wir einen Korb mit Brot und Käse – und einer Flasche Wein, von der Peter behauptete, dass seine Eltern sie nie vermissen würden – und machten uns auf den Weg unter die Bäume. Der Duft der Kiefern und der sonnengewärmten Erde hing schwer in der Luft. Ich überließ ihm die Führung und er tauchte sorglos und selbstbewusst in den Wald ein. Sein Lachen war heiter, unwiderstehlich und ich schwelgte in seinem Klang.
»Wenn es wirklich ein Loch in der Welt gibt«, setzte ich an, während ich an einem steinigen Abhang hinaufkletterte, auf dessen Kuppe Peter bereits wartete, »wohin führt es dann?«
»Zur nächsten Welt natürlich.« Er tat so, als wäre das offensichtlich. »Deshalb befindet es sich in der Nähe des Friedhofs. Es ist das Tor, das Gevatter Tod benutzt, wenn er die Seelen der Verstorbenen fortträgt.« Peter grinste. Spukgeschichten machten ihm nur Spaß, wenn er sie selbst erzählte. »Vielleicht treffen wir ihn sogar!«
Er streckte sich zu mir herunter, nahm meine Hand und zog mich das restliche Stück den Abhang hinauf – doch als ich oben ankam, ließ er mich nicht wieder los. Er lief weiter geradeaus, zwischen die Bäume, den Blick auf den Boden gerichtet, und hielt die ganze Zeit über meine Hand. Er fing an, mir eine andere Geschichte zu erzählen, aber mein Herzschlag pochte so laut in meinen Ohren, dass ich ihn kaum verstand. Ein einzelner Gedanke wiederholte sich in meinem Kopf: Er hat mich nicht losgelassen, er hat mich nicht losgelassen, er hat mich nicht losgelassen.
Das war das erste Mal, dass ich zu hoffen begann, er könne mich auch lieben.
Wir durchquerten den Friedhof mit seinen verwitterten Grabsteinen, die sich wie tuschelnde Verschwörer zueinanderbeugten, und drangen tiefer in den Wald vor. Die Schatten wurden dichter und hier und da spross dorniges Gebüsch, dessen Äste vom Gewicht blutroter Beeren nach unten gezogen wurden. So tief war ich bisher nie vorgedrungen und ich drückte Peters Hand noch ein bisschen fester, während ein kalter Schauder mir das Blut in meinen Adern gefrieren ließ.
Wir zwängten uns durch ein Brombeergestrüpp und erreichten endlich unser Ziel. Stille lag über der Lichtung und Tageslicht fiel wie gläserne Scherben durch das Blätterdach der Bäume. Vor mir befand sich ein niedriger Ring aus uralten, moosbewachsenen Steinen und in seiner Mitte wartete ein schwarzer Abgrund.
Die Kälte in meinen Adern breitete sich bis zu meinen Füßen aus und ich sagte mit einem nervösen Lachen: »Das ist kein Loch, Peter. Das ist ein Brunnen.«
»Ein Brunnen ist ein Loch, Matthias.« Er lächelte – seine Stimme war sanft und sein Blick ruhte einen Augenblick zu lange auf meinen Lippen. »Und natürlich tarnt es sich als etwas Gewöhnliches, sonst würden die Menschen erkennen, was es ist, und es zuschütten, um Gevatter Tod fernzuhalten. Aber sein Tor befindet sich dort unten. Das Tor zur Unterwelt.«
Ich hob einen Stein vom Waldboden auf und warf ihn in das aufgesperrte Maul des Brunnens. Lange Zeit hörten wir kein Geräusch … dann ertönte ein hohles Platschen aus der Tiefe.
»Da unten befindet sich nichts«, sagte ich mit einem erleichterten Lächeln, »außer Wasser.«
Peter seufzte theatralisch. »Dein einziger Makel, Matthias, ist, dass du nicht an Magie glaubst.«
Unglücklicherweise lag er damit falsch.
In jenem Sommer waren wir unzertrennlich. Peter dachte sich Lieder aus und brachte mir bei, wie wir sie zweistimmig singen konnten. Ich schrieb Sonette – glühende Liebesgedichte – und las sie ihm bei Mondlicht vor, während wir die Sterne betrachteten. Ich hatte mich noch nicht getraut, ihm zu gestehen, dass er meine Muse war … aber jede Nacht hoffte ich, dass er es erraten würde, damit ich mein Herz nicht aufs Spiel setzen musste, wenn ich es ihm ganz direkt sagte.
»Es klingt gerade so, als hätte jemand das Herz meines guten alten Matthias’ erobert«, stellte Peter eines Nachts scherzhaft fest, während rings um uns herum ein Zikadenkonzert erklang. »Und ich habe die feste Absicht, herauszufinden, wer es ist.«
»Oh?« Ich erstarrte und hoffte inständig, dass ich nicht in Panik geraten würde.
»Ja.« Er fing an, Hinweise an seinen Fingern abzuzählen. »Bisher weiß ich, dass diese Person rote Haare hat – so wie ich. Sie hat braune Augen – wie ich. Und ihre Lippen sehen aus wie ›vom Tau geküsste Rosenblüten‹.« Er sah mich mit einem Unschuldsblick an und fügte hinzu: »Genau wie meine.«
Meine Wangen glühten und ich war dankbar für die Dunkelheit, die uns einhüllte. »Du bist so egoistisch.«
»Und du bist anscheinend eifersüchtig auf ein paar kleine Tautropfen.« Seine Stimme klang neckend, und als ich mich traute, ihn anzusehen, schien er seine helle Freude an diesem Gespräch zu haben. »Denn die dürfen diese ‚weichen rosa Blütenblätter küssen‘, während du dich nur nach einem Kuss sehnen kannst!«
»Mach dich nicht lustig über mich«, brachte ich leise hervor. Mit den Fingern zupfte ich an den Grashalmen und ich befürchtete, dass ich einen katastrophalen Fehler gemacht hatte. »Was ich fühle … meine ich ernst.«
»Dann solltest du vielleicht versuchen, ein bisschen verwegener zu sein, Matthias.« Er stemmte sich von der Wiese hoch, lehnte sich gerade so in meine Reichweite und sah mich bedeutungsschwer mit seinen braunen Augen an. »Sag, was du dir wünschst, und sorg dafür, dass es in Erfüllung geht. Glaub an Magie.«
»Ich … ich wünsche mir, dass du mich küsst.« Nur mit Mühe brachte ich die Worte heraus, sagte sie mit einem nervösen Flüstern – und schon lehnte er sich ganz zu mir, legte voller Verlangen seinen Mund an meinen und Magie strömte durch uns beide hindurch.
Ich hatte ausgesprochen, was ich mir wünschte, und damit erreicht, dass mein Wunsch in Erfüllung ging.
Danach waren wir nie wieder getrennt. Wir schwammen im Fluss und rannten zwischen den Bäumen um die Wette. Wir flochten Blumenkränze aus Gänseblümchen und küssten einander, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Ich war berauscht von ihm, berauscht von der Liebe, und ich wollte, dass unsere gemeinsamen Tage für immer so weitergehen würden.
Aber als sich der Sommer dem Ende zuneigte, schwand auch Peter dahin.
Zunächst machte es sich kaum bemerkbar. Er wurde schneller müde, fand Ausreden, damit wir einen unserer Ausflüge früher beendeten, und legte sich stattdessen irgendwo in den Schatten. Er hörte auf, Lieder zu erfinden, weil es ihn zu sehr anstrengte, sich auf sie zu konzentrieren. Eines Morgens im frühen Herbst sagte er schließlich, dass ihm die Kraft fehle, an jenem Tag irgendwo hinzugehen – und so saß ich neben seinem Bett und wir malten uns stattdessen ein Abenteuer aus.
Dort, in seinem Zimmer, sponnen wir eine Geschichte, in der wir uns durch das Tor der Toten stahlen, um die Menschen zu retten, die wir geliebt und verloren hatten. Die Geschichte wuchs Tag um Tag … bis ich schließlich zu begreifen begann, dass er sein Bett nicht verlassen würde. Nie wieder.
In den Klauen einer rätselhaften Krankheit schwand er langsam, aber stetig dahin und irgendwann musste ich mir eingestehen, dass er sich nicht erholen würde.
An dem Tag, an dem die letzten vertrockneten Blätter von ihren Ästen fielen, streckte er kurz vor der Morgendämmerung den Arm durch die Schatten und ergriff meine Hand.
»Ich habe ihn gesehen, Matthias«, flüsterte er mit heiserer Stimme. Seine eingesunkenen Augen glänzten feucht. »Ich habe Gevatter Tod in meinen Träumen gesehen. Er sagt, das Tor stehe offen. Er wartet auf mich.«
Hitze drückte gegen meine Augen und es fiel mir schwer zu sprechen. »Er darf dich nicht haben. Verstehst du mich? Wir sind noch nicht fertig, und ich werde ihn nicht zwischen uns beide kommen lassen.«
»Du kannst ihn nicht aufhalten.« Seine traurige Stimme zerstob in der Luft wie Sternenstaub.
»Doch, das kann ich.« Es war ein leichtsinniges Versprechen, aber in diesem Moment hätte ich alles gesagt, alles getan, um Peters Furcht von ihm zu nehmen. »Und das werde ich auch. Ich werde ihn zurückschlagen – ich werde das Loch in der Welt selbst verschließen!«
Er atmete schwer und ein Rasseln erklang tief in seiner Kehle, als er wimmerte: »Ich will nicht gehen.«
Sobald er wieder eingeschlafen war, floh ich aus dem Haus und stellte mich zum ersten Mal seit Tagen der Außenwelt. Ich sammelte so viele Holzbretter zusammen, wie ich tragen konnte, und als die Sonne sich über den Horizont schob, machte ich mich auf in die dunklen Wälder. So geschwächt, wie ich nach meiner tagelangen Krankenwache war, brauchte ich Stunden, bis ich die Lichtung hinter dem Friedhof gefunden hatte. Ich schwitzte bereits, als ich mich durch das widerliche Gestrüpp kämpfte und danach wieder dem uralten Brunnen gegenübertrat.
Ich war nicht überzeugt davon, dass es das Tor wirklich gab – aber Peter glaubte daran, und das genügte mir. Alles, was Magie brauchte, damit sie funktionierte, war jemand, der an sie glaubte.
Ich brauchte weitere Stunden, um den Brunnen mit Brettern abzudecken. Noch länger brauchte ich, um genügend schwere Steine heranzuschleppen, um meine provisorische Barriere an Ort und Stelle zu fixieren. Ich häufte sie auf, bis meine Arme sie nicht mehr tragen konnten und das Holz unter ihrem Gewicht knarzte. Bis, so hoffte ich, selbst Gevatter Tod sie nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Inzwischen ging die Sonne unter und die Äste der Bäume formten ein Muster wie aus schwarzer Spitze vor dem violett leuchtenden Himmel.
Zu erschöpft, um aufrecht zu stehen, geschweige denn den langen Weg zum Dorf zurückzugehen, sank ich auf den Waldboden. Meine Müdigkeit holte mich schnell ein und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Vielleicht war das, was ich getan hatte, töricht. Eine abergläubische Tat, die ich nur vollbracht hatte, um mein schmerzendes Herz zu trösten.
Aber zumindest hatte ich nichts unversucht gelassen.
Ein Schauder lief mir über den Rücken. Erschrocken wachte ich auf und setzte mich kerzengerade hin. Mir war schwindelig. Ein kalter Wind pfiff durch die kahlen Bäume und versetzte mir eine Gänsehaut. Es war lange nach Mitternacht und als ich gegen die Dunkelheit anblinzelte, stahl sich eine Gestalt aus dem vom Schatten der Zeit geschwärzten Wald hinaus auf die Lichtung.
Die Gestalt bewegte sich geschmeidig und leise, war unmenschlich groß, kälter als die Nacht und hüllte sich in mehrere Schichten aus Schattenfetzen. Instinktiv wusste ich, dass es Gevatter Tod war, der sich hier näherte.
Mein Atem stockte in der eiskalten Luft und ich wich zurück, als Gevatter Tod sich an die Seite des Brunnens heranschlich. Irgendwie wusste ich, dass er sich meiner Gegenwart bewusst war, obwohl er mir so wenig Aufmerksamkeit schenkte wie ein Pferd einer mickrigen Fliege. Mit einer Bewegung seiner dürren Finger warf er die Bretter und Steine beiseite, die ich den ganzen Nachmittag über angehäuft hatte. Er schleuderte sie zwischen die Bäume wie eine Handvoll Staub.
Und als Gevatter Tod zurück in den Brunnen sprang, öffnete sich sein Schattenmantel lange genug, um mir die Gestalt zu zeigen, die er in den Armen hielt – und mein Herz blieb stehen. Rote Haare, mit Sommersprossen übersäte Wangen, braune Augen, die nach langer Krankheit stumpf geworden waren, und Lippen, die ich einst mit den Blütenblättern einer Blume verglichen hatte …
Es war Peter.
Und als er zusammen mit Gevatter Tod in der gierigen Düsternis des Brunnens verschwand, erklang das klägliche Echo seiner Stimme. »Matthias …«
Panik überflutete mein ganzes Wesen, füllte meinen Kopf mit Chaos. Trotz all meiner Bemühungen, dieses Loch zu verschließen und damit den Jungen, den ich liebte, zu retten, hatte ich versagt. Aber das, was ich in Peters Schlafzimmer gesagt hatte – dass ich ihn nicht Gevatter Tod überlassen würde –, hatte ich auch so gemeint. Ohne darüber nachzudenken, rannte ich nach vorn.
Ich kletterte über den Rand des Brunnens, starrte in seinen bodenlosen Abgrund … und sprang.
Blind und mit atemberaubender Geschwindigkeit stürzte ich durch die zähe Dunkelheit. Die Luft wurde aus meiner Lunge gepresst und als ich auf dem Wasser aufschlug, sank ich wie ein Stein. Wie eine Python würgte mich der Brunnen in einem Stück hinunter.
In den unergründlichen Tiefen unter der Erde traf ich schließlich auf einen felsigen Untergrund. Das letzte Quäntchen Luft entfloh meinen Lippen in einem Wirbel aus winzigen Luftblasen. Während meine Lunge bereits brannte, wurde ich rasch von einer haltlosen Strömung mitgerissen und zur Seite gezogen. Kurz darauf wurde ich in einen engen Tunnel gesogen und der Wasserdruck schmerzte in meinen Ohren. Ich war eine Stoffpuppe, gefangen im Sog der Unterwelt. Meine Lunge schrie förmlich nach einem frischen Atemzug und eine dumpfe Trägheit übermannte mein Bewusstsein.
Just als ich bereit war, aufzugeben und meinen Mund zu öffnen, um einen endlosen Schwall des grässlichen schwarzen Wassers einzuatmen, katapultierte die Strömung mich wieder nach oben. Sterne tanzten vor meinen Augen und meine Glieder kribbelten, aber ich unternahm einen letzten verzweifelten Vorstoß, kämpfte mich durch Schlick und Treibgut … und brach schließlich zur Oberfläche durch. Luft streifte wieder über mein Gesicht und ich sog sie mit langen, hustenden Atemzügen ein.
Licht blitzte in meinem Blickfeld. Ich bemühte mich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und trieb gleichzeitig wie ein Korken auf dem Wasser, das sich glitschig und zäh zwischen meinen Fingern anfühlte. Die Strömung blieb stark, aber jetzt trieb ich auf ihr dahin, ein Spielzeugboot auf einem Strom aus Regenwasser. Über mir wölbte sich der Himmel, gespickt mit grauen Wolken und durchzogen von Lichtblitzen.
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