Kitabı oku: «Reiseziel Utopia», sayfa 3

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Eine Ware aber hat jede Zivilisation zu bieten, selbst wenn sie noch in Höhlen haust. Und diese Ware wird auch von allen Zivilisationen hoch geschätzt: Geschichten. Hier gibt es kein Plateau, das uns beschränkt. Geschichten entstehen aus dem kulturellen und persönlichen Kontext und sind allein dadurch – und das ist wiederum mathematisch beweisbar – unbegrenzt. Zumindest für alle praktischen Anwendungen bis zum Wärmetod dieses Universums.

Auf jeder Welt, die ich besuche, tausche ich einen wesentlichen Teil meiner Datenbank voller Geschichten ein. Im Gegenzug erhalte ich die Archive jener Welt sowie sämtliche erdenklichen Annehmlichkeiten während meines Aufenthalts. Kannst du dir vorstellen, welch ein Schatz in unseren Datenbanken lagert? Bei jedem Handel kommen etwa eintausend Jahre Geschichte, Geschichten und Überlieferungen hinzu, die zuvor nie den Planeten verlassen haben. Dabei versuche ich in der Regel die Finger von den Ergüssen der letzten 50 Jahre zu lassen, da die noch nicht den Test der Zeit überstanden haben. Aber Geschichten, die sich in jedweder Gesellschaft über 100 Jahre oder länger halten, sind

auf die eine oder andere Weise relevant. Und die wahren Schätze sind solche, die von anderen Welten stammen, irgendwann von uns Händlern eingeführt wurden und über das Jahrtausend fest in die lokale Kultur eingeflossen sind. Diesen Test bestehen die allerwenigsten Stories.

Warum wir die einzelnen Planeten so selten anfliegen? Das liegt an der Lichtgeschwindigkeit. Der durchschnittliche Abstand zwischen zwei bewohnbaren Welten liegt bei etwa 80 Lichtjahren, eine Tour besteht bei mir aus 12 Flügen. Das macht dann 960, also knapp 1.000 Jahre, da wir für jedes Lichtjahr exakt ein Jahr brauchen, um die Strecke zurückzulegen. Du guckst verwirrt. Wegen der Zeitdilatation ist es so, dass für uns auf dem Schiff währenddessen die Zeit quasi still steht. Während das Schiff also 80 Jahre fliegt, vergeht für uns keine Zeit. Hey? Hey! Was ist denn los? Wo willst du denn hin? Oh … fuck.

Ich sollte echt nicht trinken und dozieren.


Ich saß mit dem Rücken an der Wand vor Marjas Kabine, die Beine angewinkelt und den Kopf auf den Knien, und wusste nicht, was ich tun sollte. Aus dem Raum kam ihr Schluchzen, mal leiser, mal brach es laut aus ihr heraus.

Normalerweise ist es fantastisch, jemandem im Augenblick einer gewichtigen Erkenntnis beobachten zu können. Wenn endlich alle Puzzleteile zusammenfallen und das große Ganze einen Sinn ergibt. Wenn diese Erkenntnis aber ist, dass alle Verwandten und Bekannten seit Jahren tot sind und man nie wieder in seine Heimat zurückkehren kann, dann ist es einfach nur scheiße. Etwa 170 Jahre waren bereits auf Marjas Heimatwelt vergangen, wenn ich den aktuellen Sprung mitrechnete, während der Abflug für uns nur zwei Wochen zurücklag. Ein Rückflug würde ebenso lange dauern. Genau das hatte Marja nun herausgefunden und begriffen.

Ich war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, hatte immer auf »den richtigen Moment« gewartet, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht

gab. Ich meine – mal ehrlich – wie muss ein Moment beschaffen sein, in dem man mal so nebenbei sagen kann: »Hey, übrigens, du sitzt erstmal hier fest, alles was du bisher kanntest, ist nicht mehr« ?

Die Kabine war verriegelt, aber als Schiffseigner konnte ich die Verriegelung natürlich aufheben. Wäre das richtig, oder ein weiterer Vertrauensbruch? Was sollte ich nur machen?

Ich beschloss, erstmal nichts zu tun. Armselig, oder?

Irgendwann wurde das Weinen leiser, ich möchte fast sagen, erschöpfter. Dann fragte sie durch die Tür: »Hast du meinen Eltern die Nachricht geschickt?«

Ich konnte nur mit einem überraschten »Was?« antworten, und sie schrie mit sich überschlagender und brechender Stimme »Die Nachricht! Dass ich an Bord bin, dass es mir gut geht! Hast du die wirklich geschickt?«

»Ja.«

»Wie lange hat es gedauert, bis sie angekommen ist?«

»Etwa sechs Jahre.«

Das verursachte einen weiteren Weinkrampf, und meine Beschwichtigungsversuche blieben ungehört. Aber was hätte ich denn sagen sollen?

Marja weinte sich (und mich) in den Schlaf. Nach ein paar Stunden schlich sie sich aus der Kabine, holte sich am Assembler etwas zu essen und huschte schnell zurück. Ich stellte mich schlafend, ich wollte sie nicht verschrecken und damit vom Essen abhalten, außerdem wusste ich eh nicht, was ich hätte sagen sollen.

Am nächsten Morgen hörte ich sie in ihrem Raum rumoren und gelegentlich auch schluchzen, aber sie reagierte nicht auf meine Zurufe. Erst zum Mittag kam sie heraus und nahm schweigend am Tisch Platz, um ihre Suppe zu löffeln. Sie sah so elend aus, wie ich mich fühlte.

Eine Weile setzte ich mich dazu und aß ebenfalls, was sie stillschweigend duldete. Dann versuchte ich eine Erklärung.

»Wenn der Sprung einmal initiiert ist, kann man ihn nicht mehr abbrechen. Als ich dich gefunden habe, war es zu spät.«

»Ich weiß. Hab ich nachgelesen.«

»Tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir hätte sagen sollen.«

»Ist schon gut.« War es nicht, das konnte ich am Tonfall hören. Ebenso den Wunsch, ich solle besser die Klappe halten. Also tat ich das.

Von dem lebhaften, neugierigen Kind, als das ich Marja kennengelernt hatte, war während des laufenden Sprunges nicht viel zu sehen. Nur langsam näherten wir uns wieder an, vermieden aber bestimmte Themen. Beim nächsten Stopp reduzierte ich das Geschäftliche auf das absolut notwendige Minimum, so dass wir in zwei Tagen fertig waren. Dann setzte ich Kurs auf das 1000-Jahre-Treffen und übersprang damit die drei folgenden regulären Stopps. Ich brauchte eine Lösung für das Marja-Problem.


Historischer Exkurs, Teil III

Elementarteilchen verbinden sich zu Atomen, Atome zu Molekülen. Diese verbinden sich zu komplexeren Strukturen bis hin zu Einzellern. Viele Einzeller bilden einen Organismus. Hochentwickelte Organismen gründen soziale Gruppen, die sich wiederum zusammenschließen und Staaten bilden. Auf jeder Ebene gibt es Botenstoffe, die die Einzelteile verbinden – seien dies Elektronen, Hormone, Worte oder Briefträger. Und auf jeder Ebene erschafft der Zusammenschluss etwas Neues, noch nie da gewesenes.

Wir sind inzwischen auf der interstellaren Ebene angekommen, und die Verbindung zwischen den einzelnen Planeten stellen wir Fernhändler dar. Nicht ohne Grund benennen wir unsere Schiffe »Axon« oder ähnlich – das Axon ist der lange schlauchförmige Fortsatz von Nervenzellen, mit dem sie die anderen Nervenzellen erreichen und Kontakt halten. Was konkret dieser riesige Zusammenschluss von besiedelten Planeten darstellt? Das wissen wir nicht, aber ebenso wenig weiß das Elektron, was ein Molekül ist.

Seit die Fernhändler ihre Touren fliegen und regelmäßig Welten mit einer Infusion neuer und vergessener Geschichten und Ideen versehen, sind nachweislich die Fälle seltener geworden, in denen sich eine Kolonie selbst auslöscht. Dunkle Zeitalter sind im Schnitt kürzer und weniger heftig, wir haben also in jedem Fall einen positiven Einfluss. Und keine Idee ist zu abstrus, als dass sie nicht auf irgendeiner Welt bis zur Gänze ausprobiert und erforscht wird, so dass man sie dann getrost verwerfen oder in das galaktische Erbe aufnehmen kann. Außerdem sorgt der Shakespeare-Effekt (benannt nach einem alten Schriftsteller von der Heimatwelt) für eine annähernd gleiche Sprache auf allen Welten, wenn die Sprachverschiebungen stets wieder zurückjustiert werden.

Wir Fernhändler koordinieren uns, und das ist bei den Gegebenheiten keine leichte Angelegenheit. Ein zufälliges Zusammentreffen ist extrem unwahrscheinlich. Kaum eine Gesellschaftsform übersteht mehr als 500 Jahre, was also einst ein sicherer Treffpunkt war, kann nun eine atomare Wüste sein, in der Bücherleser erschossen werden.

Also wurden die 1000-Jahres-Treffen eingeführt. Alle 1000 normalen Jahre treffen wir uns an einem bestimmten Ort. Ausrichter ist ein gigantisches Trägerschiff, welches selbst die Zwischenzeit auf Lichtgeschwindigkeit verbringt, so dass wir stets eine gewohnte Umgebung, technologisch kompatible Werften und bekannte Gesichter antreffen.

Eine Tour aus zwölf Sprüngen dauert für mich etwa 24 Pewochs und führt mich kreisförmig zum 1000-Jahres-Treffen zurück. Gefällt es mir irgendwo besonders gut, bleib ich auch mal einen Monat oder ein Jahr dort. Im Schnitt verbrauche ich im Verlauf der 1000 Jahre etwa acht bis zwölf Monate meiner Lebenszeit. Zum Ende ist immer etwas Puffer, da fliege ich dann einen kleinen Umweg in Lichtgeschwindigkeit, um die fehlenden Jahre aufzubrauchen, während für mich keine Zeit vergeht. Schlussendlich kommen wir stets punktgenau zum Treffen an.

Unsere Zusammenkunft ist nur eine von vielen. Manche Piloten reisen zwischen den verschiedenen Treffen hin und her

und verbinden dadurch diese Knotenpunkte. Das Universum ist unglaublich groß! Und wenn du glaubst, 1000 Jahre Geschichten einer Welt sind bereits beeindruckend, dann überschlag einmal, welche Mengen an Daten auf einem 1000-Jahre-Treffen umgeschlagen werden …

Auf dem Zusammenkünften koordiniert man die Routen für die nächsten 1000 Jahre, so dass alle Planeten immer mal wieder besucht, neue Systeme erforscht und Mehrfachbesuche in kurzer Zeit vermieden werden. Dabei ist alles freiwillig, niemand ist gezwungen, zu den Treffen zu kommen oder exakt diese Welten anzufliegen. Es hat sich einfach als ungeheuer praktisch erwiesen. Und es tut unglaublich gut, hin und wieder bekannte Gesichter zu sehen und Freundschaften mit Menschen zu schließen, die nicht beim nächsten Sprung von der Zeitdilatation gefressen werden.

Ich glaube, wir werden auf dem Treffen eine gute Möglichkeit finden, dich irgendwo unterzubringen.


Man ist als Reisender ja viel gewohnt, aber der Empfangsball des 1000-Jahre-Treffens war an Opulenz kaum zu übertreffen. Was sich hunderte von Welten in Millennien ausdenken können, wurde hier zur Wirklichkeit. Ich war jedes Mal überwältigt und stolz, ein Teil davon sein zu dürfen.

Marja trug ein entzückendes Kleid aus der Nuckelavee-Kollektion. Meine Einwände, dass keine Sau die Viecher kennt, hatte sie mit der Bemerkung vom Tisch gewischt, dass sie dies in den kommenden Jahrtausenden zu ändern gedenke und am besten gleich hier und jetzt damit beginnen würde. Ihr emotionaler Zustand war im Großen und Ganzen stabil, ebenso unser Verhältnis zueinander. Ich selbst trug einen maßgeschneiderten Anzug, wie er auf Hellgate der neueste Schrei ist (oder besser: war, inzwischen sind dort etwa 700 Jahre vergangen. Aber egal – das Teil sieht einfach geil aus).

Der Saal wurde dominiert von filigranen Kristallskulpturen, die in milchigem Beigeton den Raum beleuchten. Möglich wird dies durch biolumineszierende Organismen, die in die Kristalle eingeschlossen sind. Verschiedenste Köstlichkeiten wurden gereicht, während man sich an Kunstgegenständen und Genkreationen hunderter Welten ergötzen konnte.

Marjas erster Eindruck war ein simples »Whoaaa!«

Ich zeigte zur Decke und entlockte ihr ein noch inbrünstigeres »WHOAAAA!«

Der Saal war kugelrund, alle Gäste bewegten sich durch die künstliche Schwerkraft gehalten auf der Innenseite der Hohlkugel. Von hier konnte man sehen, dass die Kristalle nicht etwa zufällig, sondern nach einem ästhetischen Muster aufgestellt waren, welches nur von der jeweils anderen Seite erkennbar war. Dazwischen fügten sich die flanierenden, tanzenden und pausierenden Gäste ein und gaben dem Ganzen etwas harmonisch Fließendes.

Ich grüßte viele bekannte Gesichter und stellte Marja vor, während ich zielstrebig unseren Weg zum Regenbogenfarn suchte, einer Skulptur, die aus Pflanzen aus verschiedenen Systemen bestand und deren Blätter in allen denkbaren Farben leuchten. Dort hatte ich mich per iMplantat mit einer guten Freundin verabredet.

Sie war gekommen, und sie trug das schwarze Kleid, das ich so an ihr mochte. Eine Weile waren wir mehr als nur Freunde gewesen, und es gab eine Zeit, da wünschte ich, wir könnten unsere Schiffe zusammenlegen.

Schelmisch grinste sie uns an. »Mein alter Freund, schön, dich zu sehen! Du hast dich kaum verändert, stattlich wie eh und je!«

»Elisabeth … Elli … du siehst auch sehr … gut aus«, stammelte ich mir zurecht. Ich konnte das Vergnügen in ihren Augen erkennen. Mit voller Absicht hatte sie mich auflaufen lassen.

»Ach, du alter Charmeur! Alt bin ich geworden, das wolltest du sagen. Das rote Haar ist weiß und die Haut alt und schrumpelig. Ich bin schon lange nicht mehr das feurige Mädchen, mit dem du einst ausgingst.«

Ja, stimmt. Elli hatte seit dem letzten 1000-Jahre-Treffen mindestens 60 Jahre zugelegt.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin etwas überrascht. Was ist passiert? Ich meine, was hat dich aufgehalten?«

»Ach, das ist schon in Ordnung. Ich habe halt einen Gonzales gezogen.«

›Einen Gonzales ziehen‹ war Fernhändlerjargon dafür, auf einer Welt einen Partner zu finden und sein Leben dort zu verbringen. Ähnlich wie die Robinsonade lässt sich der Begriff auf einen einflussreichen Roman zurückführen. Die Höflichkeit hatte eine Standardreaktion auf diese Floskel parat, die ich direkt nutzte:

»Und, war er es wert?«

»Er war ein Arschloch, das habe ich recht schnell gemerkt. Aber sie war wundervoll!«

»Oh, eine Sie? Ich wusste gar nicht, dass du …«

Sie lachte ihr glockenhelles Lachen, das sich kein bisschen verändert hatte.

»Nein, du Dummkopf. Sie, damit meine ich meine Tochter. Aber wie ich sehe, warst du auch nicht untätig.«

Sie blickte in Richtung Marjas, die sichtlich genervt den unverständlichen Worten der Erwachsenen lauschte.

Schnell stellte ich die Damen einander vor und erklärte, wie Marja an Bord der Axon Zwölf gekommen war. Elisabeths Gesicht (ich konnte sie einfach nicht mehr Elli nennen) wurde ernst, und ihr Blick durchbohrte mich, als wüsste sie bereits, was ich vorhatte.

»Soso, ein blinder Passagier also. Weißt du, ich habe Robert und Bo bei den Frosch-Spirituosen gesehen, vielleicht sagst du mal Hallo und ihr plaudert über die alten Zeiten. Ich unterhalte mich derweilen mit Marja, von Frau zu Frau.«

Das lief besser als erwartet. Ich hatte zwar das Gefühl, die Initiative verloren zu haben, aber Frauenthemen waren mir eh unangenehm, Rob und Bo waren klasse Typen und Frosch-Spirituosen … nun ja, die sind kompliziert, ich erkläre das vielleicht später mal.


Dem Detox war zu verdanken, dass ich bei halbwegs klarem Verstand war, als Elisabeth mich am Ohr vom Frosch-Tresen wegzog. Wahrscheinlich war ich nur deshalb überhaupt noch am Leben, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das gerade von Vorteil war.

Mit erstaunlicher Kraft zog mich die alte Frau in ein Separee, welche für private Gespräche überall im Kugelsaal zugänglich waren. Dort erwartete mich schon Marja. Sie hatte offensichtlich wieder geweint.

»Du bist ein gewaltiger Vollidiot, das weißt du hoffentlich?«, fragte mich Elisabeth mit gefährlich ruhiger Stimme. Ich blickte sie an, blieb aber still, da ich ahnte, dass ich trotz der Frage noch keine Redeerlaubnis hatte.

»Dieses Kind hat seine ganze Familie, seine Welt verloren, und dir fällt nichts Besseres ein, als sie auf die größte Party im Universum zu schleppen? Du hast sie belogen, ihr Dinge verheimlicht und dann kein Sterbenswörtchen gesagt, um sie durch ihren Schmerz zu begleiten? Und jetzt versuchst du wohlmöglich, die unangenehme Sache loszuwerden, indem du sie mir als Lehrling aufschwatzen willst?«

Ups … Bingo.

»Ich kenne dich, mein Jüngelchen, das wäre genau dein Stil!«

Ich öffnete den Mund zur Widerrede, doch sie unterbrach mich.

»Und komm mir jetzt nicht mit Regularien und Fernhändler-Regeln!«

Ich schloss den Mund. Eine peinliche Pause entstand.

»Ach, Mensch, du hättest mein Gonzales sein können«, setzte sie mit weicherer Stimme fort, »aber deine Achtlosigkeit hat dir immer schon im Weg gestanden. Also – was machen wir jetzt? Bei mir kannst du sie nicht abgeben, dazu bin ich inzwischen zu alt. Und außerdem hast du noch eine Schuld abzutragen.«

Ich fühlte mich elend, vermied den Augenkontakt mit beiden Frauen und stammelte irgendwas Entschuldigendes vor mich hin. Verdammt, warum mussten mir ausgerechnet jetzt die Augen tränen und die Nase laufen?

»So wird das nichts«, lenkte meine alte Freundin ein, nachdem

sie mich eine Weile hatte zappeln lassen. »Du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen und Menschen in dein Leben zu lassen, auch für länger als einen Planetenbesuch. Und du«, wandte sie sich an Marja, »brauchst jemanden, der dir diese neue Welt erklären kann. Und dafür ist keiner besser geeignet als der Idiot da. Wenn ihr euch also beide einverstanden erklärt« – ihr Tonfall ließ uns wissen, dass wir hier keineswegs eine Wahl hatten – »dann bleibt Marja bis auf weiteres auf der Axon Zwölf, und ihr lernt, euch damit zu arrangieren.«

Das lief überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dass es ein paar harte Worte und schwierige Verhandlungen gäbe, davon war auszugehen, aber ich war doch fest überzeugt gewesen, dass Elli oder später Elisabeth sich des Mädchens annehmen würde. Aber die alte Frau hatte mich mit ihrer Lebenserfahrung ausmanövriert. Tatsächlich fühlte es sich aber gar nicht mal schlecht an. Klar, auf der einen Seite wollte ich niemanden, der meine Unabhängigkeit dauerhaft störte und für den ich letzten Endes auch noch verantwortlich wäre. Auf der anderen Seite aber spürte ich eine Art von Erleichterung und auch Freude, wenn ich mir vorstellte, Marja auch weiterhin an Bord zu haben. Und – hey – ich wurde ja quasi dazu gezwungen! Äußere Einflüsse! Ich selbst nix Schuld!

»Also, Marja, wenn das ok für dich ist und du etwas Geduld mit so einem Eigennbrötler wie mir hast, dann würde ich dich sehr gerne an Bord der Axon Zwölf haben«, bot ich schließlich an.

»Ja, ich denke auch, das wäre ganz ok«, schniefte sie.

»Kleiner Tipp: Ihr dürft euch auch durchaus mal umarmen«, bemerkte Elisabeth, und sofort flog mir Marja um den Hals.

Ich glaube, das tat uns beiden sehr gut.

ENDE


Ingo Muhs

Ingo Muhs wurde geboren und ist aufgewachsen. Seit frühester Jugend ist er ein passionierter Reisender in vielen Welten, die er durch Bücher, Filme und den Computer erreicht. Nachdem er sein Hobby zum Beruf gemacht hat und bei einem renomierten Spiele- hersteller im Raum Frankfurt arbeitet, wagt er nun seine ersten bescheidenen Schritte im Schreiben eigener Kurzgeschichten.

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Carmen Capiti

Ich sehe, dass Ihre Sorge gewissermaßen berechtigt ist«, sagte der Sozialarbeiter, welcher mit ihrer Mutter in der Küche saß. »Kerr ist ... ein spezielles Kind.«

»Immer wieder höre ich das Wort speziell«, antwortete ihre Mutter. »Kann mir mal jemand erklären, was genau das bedeutet?«

Kerr hatte die Beine an den Oberkörper gezogen und saß im Wohnzimmer auf dem Boden. Sie wusste, dass ihre Mutter sie sehen konnte, wenn sie den Hals streckte, darum tat sie so, als wäre sie hochkonzentriert. Sie hatte sich sogar den ausgeschalteten VR-Helm übergestreift, damit die beiden nicht merkten, dass sie lauschte.

»Andere Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren sind in ihrer Entwicklung weiter«, führte der Sozialarbeiter aus, als würde es sich dabei um Neuigkeiten handeln. »Die meisten haben bereits die ersten fünfzehn Level mit den NanoBloxx hinter sich und können die Roboter für produktive Dinge programmieren. Kerr hingegen ...«

»Kerr steckt auf den ersten paar Leveln fest, ich weiß.« Ihre Mutter klang niedergeschlagen. »Sie sträubt sich einfach dagegen, es zu lernen.«

Kerr zuckte zusammen, als etwas ihren Arm streifte. Sie streckte die Hand aus und spürte den weichen Plüsch des kleinen Roboterlöwen. Er schmiegte sich an sie und sie streichelte ihn, was ihre Beklommenheit etwas vertrieb.

Sie sträubte sich doch gar nicht gegen das Lernen. Sie hasste nur, dass es in dem VR-Helm so dunkel war. Natürlich war es an ihr, die Düsternis mit Code-Blöcken zu füllen, aber wie sollte sie die Konzentration dafür hinkriegen, wenn da einfach immer nur diese blöde Beklommenheit war?

»Wir haben andere Kinder wie sie gesehen. Noch ist nicht alles verloren«, sagte der Sozialarbeiter.

»Aber was kann ich tun, um ihr zu helfen? Es muss doch etwas geben!«

Stoff raschelte.

»Ermutigen Sie sie weiterhin zum Üben. Benutzen Sie extrinsische Motivationsfaktoren und fördern Sie intrinsische. Loben Sie sie, wann immer sie Fortschritte erzielt.«

Alles Dinge, die ihre Mutter bereits tat.

»Vielen Dank für Ihre Einschätzung.«

Das sanfte Zischen der Haustür erklang und wenig später berührte Kerr etwas an der Schulter. Sie streifte den Helm ab und wandte sich um. Eine feine Wolke reflektierender Punkte verschwand gerade in der Küche.

Kerr seufzte und nahm den Löwen in die Arme, wo er seinen Kopf gegen ihre Brust rieb und brummte. Ihn fest an sich gepresst folgte sie den Punkten.

»Liebling«, sagte ihre Mutter, die den Tisch deckte. »Wie lief es heute mit deinem Wölkchen?«

Dabei nickte sie in Richtung von Kerrs rechter Schulter, wo sich die NanoBloxx tummelten. Ihre Mutter mochte die Anfänger-Nanocloud verniedlichen, in Wahrheit waren Kerrs Roboterchen aber bedeutend größer als diejenigen in der schimmernden Wolke ihrer Mutter. Und auch bei Weitem weniger zahlreich. Während eine richtige Nanocloud gut eine Million Roboter zählte, umfassten die NanoBloxx nur um die hunderttausend.

»Gut«, sagte Kerr nur und setzte sich. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ein Glas Wasser und verschüttete den Inhalt über dem Tisch.

»Oh!« Sie wollte aufspringen, um einen Lappen zu holen, als sich die Nanocloud ihrer Mutter bereits wie eine Decke über das Wasser legte.

»Lass nur, Süße. Ist nicht so schlimm«, sagte ihre Mutter und küsste sie auf den Kopf. Meinte sie das Training oder die Sauerei auf dem Tisch?

Nur Sekunden später hatten die Nanoroboter die Pfütze getrocknet, das Glas hingestellt und es erneut mit Wasser aus dem Krug gefüllt.

»Ich habe heute Siene und ihren Vater getroffen«, erklärte ihre Mutter. »Sie waren auf dem Weg, Sienes Nanoboard auszuwählen.« Mit den Worten tippte sie sich selbst gegen die Schläfe, wo ein silberner Haarreif ein farbiges Plättchen mit eingelassenen Sensoren an Ort und Stelle hielt.

»Ah«, sagte Kerr und ein Knoten bildete sich in ihrer Kehle.

Sie wusste, dass ihre Mutter sie nur anspornen wollte. Zu wissen, dass bereits die ersten ihrer Altersgruppe ein Nanoboard angepasst bekamen, demotivierte Kerr jedoch mehr als alles andere. Leicht eifersüchtig schielte sie zu dem Haarreif. Wie viel angenehmer das Programmieren damit doch sein musste im Gegensatz zum klobigen und dunklen VR-Helm. Aber nur die älteren Jugendlichen, die das NanoBloxx-Training bereits absolviert hatten, kriegten ein richtiges Nanoboard. Vorher war die direkte Gehirnwellenschnittstelle schlichtweg zu teuer.

Ihre Mutter schien zu bemerken, dass sie Kerr für den Moment nicht helfen konnte, also aßen sie schweigend.


Am Abend stand Kerr vor dem Spiegel und betrachtete die grauen Klötzchen über ihrer Schulter, die sich unablässig bewegten, zu geometrischen Formen fügten und sich wieder voneinander lösten.

Wie sie die NanoBloxx hasste. Im Gegenzug zu den reflektierenden Nanorobotern der Erwachsenen waren sie hässlich und rau. Vor allem aber erinnerten sie Kerr tagein und tagaus daran,

wie viel Kummer sie ihrer Mutter bereitete. Auch jetzt hörte sie sie im Nebenzimmer schluchzen. Wenn sie es doch nur schaffen würde, sich zu konzentrieren, dann könnte sie bestimmt auch bald ihr Nanoboard aussuchen und alles wäre in Ordnung. Siene konnte ihre NanoBloxx bereits dazu bringen, ihr Gegenstände hinterherzutragen oder aufzufangen, was sie fallen ließ. Kerr hingegen kriegte ihre Bloxx nicht mal dazu, eine gleichmäßige Kugel zu formen.

Der kleine Roboterlöwe saß auf ihrem Kopfkissen und maunzte. Eine von ihrer Mutter programmierte Funktion, die sie dazu bringen sollte, zeitig zu Bett zu gehen. Bis vor einigen Jahren hatte das noch funktioniert, aber heute mochte sie sich nicht vom Kuscheltier verleiten lassen. Sie wollte endlich ihrer Mutter den Kummer nehmen und sie stolz machen.

Sie atmete tief durch und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann biss sie die Zähne zusammen und streifte den VR-Helm über. Als die Dunkelheit sie umfing, machte sich sofort die altbekannte Beklommenheit in ihr breit. Wie damals vor fünf Jahren, als ...

Konzentriere dich!, herrschte sie sich an.

Sie aktivierte den Helm und das gleichmäßige sanfte Rauschen des Antischall-Moduls erklang in ihren Ohren. Jetzt war sie allein, abgeschottet von der Umwelt.

Ein einzelner grauer Punkt blinkte in ihrer Peripherie und Kerr lenkte all ihren Fokus auf ihn. Sie hatte die anleitende Stimme auf stumm geschaltet, da sie die Erläuterungen zu den Lektionen bereits in- und auswendig kannte. Der Punkt vergrößerte sich etwas und Kerr erkannte die unzähligen kleinen Greifärmchen und die Module des Nanoroboters.

»Okay«, flüsterte sie. »Jetzt der Code.«

In ihrer Erinnerung durchstöberte sie die Codefragmente, die sie auf den einzelnen Roboter anwenden konnte. Doch kaum schwenkte ihre Konzentration vom leuchtenden Punkt vor ihren Augen ab, fühlte es sich an, als fiele sie in ein schwarzes Loch. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen und ein dicker Knoten

bildete sich in ihrem Hals. Mit einem Schlag kehrte die Panik zurück, die sie damals verspürt hatte, als ihre Durchblutungsstörung sie kurzzeitig hatte erblinden lassen. Sie wollte schreien, sich irgendwo festhalten, doch ihre Hände fassten ins Leere.

Schließlich riss sie sich den Helm vom Kopf und schmetterte ihn quer durch den Raum. Tränen quollen aus ihrem Augen und sie konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten.

Der Roboterlöwe war vom Bett gesprungen und jagte dem davonrollenden Helm hinterher, bevor sich seine viel zu weichen Zähne in dessen Polster verbissen.

»Ja«, schniefte Kerr. »So sehe ich das auch.«

Sie versuchte erfolglos, ihre Atmung zu beruhigen. Stattdessen überflutete sie das schlechte Gewissen. Sie brauchte sich doch nur stärker bemühen! Siene und die anderen kriegten es auch alle auf die Reihe und früher hatte immer Kerr als das aufgeweckte, kluge Kind gegolten.

Sie schluckte einen verzweifelten Schrei hinunter und sprang auf die Beine. Es war vorbei. Sie konnte so nicht weitermachen. Ihre Mutter hatte genug um die Ohren, als dass sie noch so eine Versagerin wie sie als Tochter verdient hätte.

Mit zittrigen Händen zerrte sie ihren Rucksack hervor und entleerte ihn auf dem Bett. Dann begann sie einzupacken, was sie für wichtig hielt. Eine Jacke, frische Unterwäsche, einen Schal.

Der Plüschlöwe hatte ihre Aufbruchbereitschaft aufgeschnappt und rannte freudig im Zimmer hin und her, um ihr Dinge zu bringen, die sie benötigen könnte. Irgendwann schlich er aus dem Raum und trug allerlei aus dem gesamten Haushalt zusammen. Kerrs Sicht war durch die erneuten Tränen verschwommen und sie stopfte einfach alles in ihren Rucksack. Irgendwie würde sie all das schon brauchen. Zum Schluss wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schulterte die Tasche. An der Haustür schlich der Löwe ihr derart um die Beine, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zurück zu lassen. Immerhin war er ihr Begleiter seit sie ein Kind war. Um ehrlich zu sein, hatte ihre Mutter ihn ihr gekauft, als sie damals wegen ihrem Augenleiden in Behandlung gewesen war.

»Na schön«, sagte sie zu ihm und packte ihn sich unter den Arm.

Auf der Straße drehte sie sich noch einmal um. Hätte sie eine Nachricht hinterlassen sollen? Nein. Ihre Mutter wäre sicher glücklich, wenn sie fort war und eine Erklärung brauchte es nicht wirklich. Sie würde es schon wissen.

Die NanoBloxx surrten beständig neben ihrem Ohr und wann immer sie sie verscheuchen wollte, wichen sie ihren Händen aus und kehrten danach an Ort und Stelle zurück.

Kerr hatte gehört, dass es Menschen gab, die keine Nanocloud auf sich geprägt hatten. Sie lebten außerhalb der Stadt und keiner bekam sie je zu Gesicht, weil sie von der Gesellschaft ausgestoßen waren. Diese Leute mussten eine Möglichkeit kennen, wie Kerr ihre dummen Bloxx los wurde. Wenn sie sie nicht befehligen konnte, dann brauchte sie sie auch nicht um sich herum. Da draußen würde sie glücklich werden. Da draußen hatte niemand Erwartungen an sie.

Kaum war sie einige Schritte gegangen, hielt ein Taxipod neben ihr. Sie zögerte kurz, dann fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie an die Stadtgrenze kommen sollte. Also stieg sie in die Kapsel und wählte einen Zielpunkt ganz außen am Stadtrand.

»Herzlich willkommen an Bord, Kerr«, sprach eine automatisierte Stimme.

Die Kapsel stieg in die Höhe und reihte sich über den Dächern der Wolkenkratzer zwischen unzähligen weiteren Pods ein.

Müde beobachtete Kerr die Lichter unter sich. Genauso stellte sie sich vor, dass es unter dem VR-Helm aussehen könnte, wenn sie es hinkriegen würde. Lauter bunte Lichter in der Dunkelheit, die sich bewegten, wie sie wollte. Vielleicht wäre es aber auch vollkommen anders. Die anderen Jugendlichen sprachen immer sehr unterschiedlich von ihrem eigenen Kreationsraum im VR.

Irgendwann löste sich der Pod aus der Reihe und setzte zu einem Sinkflug an. Kerr guckte nach unten und ein kalter Schauer überkam sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.

»Natürlich nicht«, sprach sie sich selber zu. »Das wusstest du auch, Dummchen.«

Sie drückte den Löwen an sich und er begann, mit seiner trockenen Stoffzunge über ihre Hände zu lecken.

Zweifel erwachten in ihr. Was, wenn diese ausgestoßenen Leute sie nicht mochten? Wenn sie sie angreifen würden, nur weil sie die NanoBloxx bei sich hatte? Vielleicht hätte sie gar keine Zeit, zu erklären, was sie von ihnen wollte, bevor sie sie verjagten.