Kitabı oku: «Glasglockenleben», sayfa 3
Ich quetsche mich in eine dunklere Ecke und komme mir vor wie ein kleiner unsichtbarer Beobachter. Bin ich ja irgendwie auch. Ich beobachte mich quasi selbst, denn das, was ich sehe, bin in anderen Situationen auch ich selbst. Das hier ist kein Ferienhotel, sondern es ist voller Business-Leute. Und im Gegensatz zu mir heute laufen die Männer noch in ihren Anzügen herum und die Frauen in ihren Kostümen oder Anzügen. Mir fällt mal wieder auf, wie wichtig sich alle vorkommen und wie sie versuchen, sich zu positionieren. Die Frauen streichen betont lässig über ihre kurzen Röcke, und die Krawattenträger vergessen, ihre dicken Bäuche einzuziehen. Es hat etwas Karikaturistisches, von dem ich normalerweise auch ein Teil bin; vielleicht nicht in kurzen Röcken, aber in pompösen Joop-, Boss-, oder Gerry-Weber-Anzügen.
Ich fühle mich gerade mit meinen Schlabberklamotten in der dunklen Ecke wohler und möchte im Augenblick gar nicht weiter über Rosi und Friedrich nachdenken.
Wie ein Blitz durchzuckt es mich, und natürlich denke ich wieder über meine Eltern nach. Vielleicht auch eher über Jens und Dagmar. Wieso fährt Dagmar als Älteste nicht dahin, um nach dem Rechten zu schauen?
Ich habe genug geraucht und verwerfe die Gedanken wieder. Genauso leise, wie ich in den Hof gekommen bin, gehe ich wieder und weiß genau, dass mich auch die Gedanken an meine Geschwister ab jetzt stets wieder einholen werden. Vorerst beschäftige ich mich allerdings mit dem Hotelbett, dem Fernseher und dem warmen Bier aus der Dose.
Irgendwann hat alles einen Anfang
Jede Woche hat einen Freitag, und jeden Freitag hoffe ich, die lange Strecke von Zürich bis nach Hause gut durchzukommen. Ich weiß gar nicht, wo ich permanent diesen erneuten Optimismus hernehme, denn jede Woche ist es das gleiche Stau-Desaster. Klar, vor allem bei Autobahnvollsperrungen »kommt man rum«, wenn man gezwungenermaßen die geplante Strecke verlassen muss. Aber wie angenehm ist es eigentlich, per Umleitung auf einmal am Titisee zu landen, zwei Stunden Zeit zu verlieren und dann auch noch Richtung Westen über Frankreich zu fahren? Flachland-Tiroler wie ich stellen erschrocken fest, dass sie sich im Winter bei 850 bis 1.000 Metern über NN auf glatten Serpentinen-Straßen am Titisee im Schwarzwald befinden. Nur – eines habe ich gelernt: Alles Schimpfen hilft nichts. Steckst du im Stau, kommst du nicht vorwärts. Fertig. Steckst du in einer gefährlichen Situation, pass gefälligst auf! Fertig.
Trotzdem komme ich dann sehr erschlagen in Kaiserslautern bei Michael an und muss immer erst einmal durchschnaufen. Aber egal, wie spät es ist, und egal, wie aufregend es die Nachbarn finden, dass ich viel herumkomme – auch nachts um ein Uhr muss ich noch die Freitagswaschmaschine anwerfen, damit ich am Sonntag wieder Klarschiff habe. Und dann kommt dazu, dass es auch bei mir wohl so ist wie bei vielen anderen auch. Ich möchte nicht aufstehen, wenn ich zur Arbeit muss, aber an freien Tagen kann ich nicht ausschlafen, weil ich denke, dass ich etwas verpassen könnte. Irgendeine freie Minute meiner Freiheit.
Völliger Blödsinn, aber es schmeißt mich trotz kurzer Nacht auch am heutigen Samstag wieder um kurz nach sieben Uhr aus den Federn.
Das führt dazu, dass ich am Samstagabend grundsätzlich müde bin. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Akkus immer leerer werden.
Michael und ich haben gemeinsam ein warmes Abendessen gekocht. Jeder hat wie immer seine Essensportion gemütlich vor den Fernseher mitgenommen. Ich wickele zufrieden eine warme Decke um mich. Wirklich am Esstisch sitzen wir selten zum Essen.
Das Festnetztelefon klingelt, und die erste volle Gabel Richtung Mund gefriert mitten in meiner Bewegung. Warum schon wieder gerade jetzt? In früheren Zeiten hätte ich das Telefon einfach vor sich hin klingeln lassen und maximal ein Knurren von mir gegeben. Ansonsten lasse ich mir von irgendeinem Telefonklingeln nichts diktieren. Außergewöhnliche Zeiten erfordern allerdings außergewöhnliche Maßnahmen.
Missmutig rolle ich mich aus meiner gemütlichen Ess-Position zum Telefon. Arthurs Nummer ist auf dem Display nicht zu übersehen. Also muss ich wohl rangehen. »Hallo, Arthur.« In Gedanken füge ich hinzu: Wir essen gerade.
Was Arthur aber dann sagt, lässt mich aus meiner schlaffen Haltung erwachen.
Teufelchen: »Er kann das gut verpacken, aber Arthur hat Angst, dass sein älterer Bruder Friedrich bald stirbt.«
»Hör mal, Anja. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns noch im Februar bei Friedrich im Krankenhaus treffen könnten. Irgendwie so ein Familientreffen bei Friedrich, weißt du?«
Aha. Also innerhalb der nächsten Tage. Ich bin mir sicher, dass Friedrich noch länger wegen der Reha im Krankenhaus bleiben muss (da diese tatsächlich im gleichen Krankenhaus stattfinden kann). Warum also so ein überstürzter Besuch?
Engelchen: »Hallo? Weil es sonst vielleicht zu spät sein könnte?«
Tja, schade – dann kann das wohl nicht bis zur zweiten Märzhälfte warten, in der ich ohnehin eine Woche bei Rosi zu Gast sein werde. Aber langsam kommt mir ein Verdacht … und der bestätigt sich, als Arthur weiterredet: »Ich würde allerdings dich bitten, das bei Rosi anzuleiern.«
Das ist der Braten, den ich gerochen habe. Ich soll das organisieren.
Ich werde mir wieder klar darüber, dass ich wirklich nicht viel über die verwandtschaftlichen Sympathie- und Antipathie-Verhältnisse weiß, die in den letzten Jahren entstanden sind oder schon immer so waren. Ich weiß aber, dass Rosi Arthur nicht mag und das vermutlich auf Gegenseitigkeit beruht. Irgendetwas ist in der Vergangenheit vorgefallen, was ich nicht weiß und auch gar nicht wissen will. Allerdings kommt Arthur jetzt schon gar nicht mehr an Rosi vorbei und an Friedrich heran. Es ist schon vor dem Krankenhausaufenthalt nicht möglich gewesen, mit Friedrich allein zu telefonieren. Rosi hat sich immer als Sprachrohr betätigt und die Fragen an Friedrich beantwortet. Das geht mir in meinen Sonntagstelefonaten genauso, aber ich bin da hart und sage dann zu Rosi: »Ich habe Friedrich gefragt, nicht dich. Ich möchte seine Antwort hören.«
Mit dem Krankenhausaufenthalt von Friedrich geht Arthurs Weg nur über Rosi – und der führt in eine Sackgasse. Also bin ich wieder die Bypass-Lösung.
Arthurs Stimme klingt dringlich: »Anja, wer soll das denn sonst organisieren?«
Michael wirft mir einen warnenden Blick zu und lässt kurz seine Gabel sinken. Mein Essen ist inzwischen garantiert nur noch lauwarm.
»Kannst du nicht versuchen, dass wir uns Ende Februar alle mit Friedrich treffen können?«
Alle. Rosi, Arthur, Susanne, Dagmar, Jens, Michael, ich – wer noch? Unsicher kratze ich mich am Ohr. Ob Arthur weiß, dass ich auch zu Jens und Dagmar kaum noch Kontakt habe? Klar, ich kann das versuchen. Aber ich habe das untrügliche Gefühl, dass ich dabei zumindest bei Rosi und auch garantiert bei Dagmar auf Unwillen stoßen werde.
Zunächst habe ich aber für mich selbst eine Idee. Wenn ich mich nun tatsächlich wieder mehr mit der Verwandtschaft beschäftigen werde, dann hebe ich jetzt eine Antipathie-Liste aus der Taufe. Ich bin sicher, sie wird schnell wachsen. Erster Eintrag:
Rosi und Arthur mögen sich gegenseitig nicht.
Arthurs Ansinnen ist an sich natürlich nachvollziehbar, besonders in Friedrichs gesundheitlicher Situation kann es schon sein, dass es irgendwann zu spät ist und ein »Wenn nicht jetzt, wann dann?« seine Berechtigung hat. Aber auf der anderen Seite ist das schon ganz schön krass. Rosi und Friedrich sind ja nicht blöd. Werden sie das nicht eher als Abschiedskonzert auffassen? Familienauflauf am Krankenbett … Irgendwie kommt mir die gruselige Vorstellung der letzten Ölung.
Und Arthur? Vermutlich hat Arthur auch im Sinn, noch einmal zu verdeutlichen, dass wir uns alle (außer Dagmar und Jens) Sorgen machen und dass es so nicht weitergehen kann.
Nach dem Telefonat mit Arthur sinniere ich mal wieder über die Situation nach und wandere gedanklich in die Vergangenheit.
Ausflug in die Vergangenheit
Die Beziehung zwischen Rosi und mir ist in meinen jungen Jahren immer angespannter geworden. Das führte dazu, dass ich bereits im Alter von siebzehn Jahren ausgezogen bin. Damals hatten wir weder Handys oder Smartphones, noch gab es Internet, um auch nur irgendeinen Kontakt locker aufrechterhalten zu können. Wenn ich mit Rosi und Friedrich telefonieren wollte, musste ich zur gelben Telefonzelle an der Hauptstraße gehen und dort Münzen einwerfen. Wenn schon der Kontakt zu den beiden so schwierig war, schlief er tatsächlich zur gesamten Verwandtschaft über mehrere Jahre komplett ein. Es hat mich einfach nicht mehr interessiert – und das Desinteresse schloss tatsächlich Dagmar und Jens mit ein.
Erst, als ich ungefähr Mitte zwanzig war, versuchte ich, mich wieder an Rosi und Friedrich anzunähern.
Der Wiederaufbau des Kontakts zur restlichen Verwandtschaft entstand erst sehr, sehr viel später. Zumindest in der Anzahl. Und genau genommen war Arthur vor knapp fünf Jahren der Auslöser dafür gewesen. Mit Arthur hatte ich vorher schon wieder einen ganz losen Kontakt aufgebaut – so lose, dass er eigentlich sehr selten bei uns anrief. Friedrichs 80-jähriger Geburtstag stand damals in ein paar Monaten an, was mir aber nicht sonderlich wichtig war. Ich nehme Geburtstage grundsätzlich nicht so wichtig. Meistens haben Rosi und Friedrich meinen Geburtstag ohnehin vergessen und mir maximal nachträglich gratuliert. Also waren für mich die Geburtstage von Rosi und Friedrich nahezu genauso unwichtig.
Arthur sah das aber bei diesem runden Jubiläum anders. »Wer weiß, vielleicht ist es die letzte Gelegenheit, in der wir noch rüstig genug sind, uns in diesem Kreis zu treffen«, hatte er gesagt.
Nun hätte er diese Bitte ja wohl eher an Friedrich herantragen sollen, was er offensichtlich auch schon getan hatte. Ich habe damals laut gelacht, als Arthur schilderte, wie ablehnend und aufgebracht vor allem Rosi gegenüber der Idee einer Familien-Geburtstagsfeier gewesen war.
»Anja, du bist meine letzte Hoffnung. Wen soll ich sonst bitten, Rosi und Friedrich zu dieser Feier zu bewegen?«, lauteten auch damals Arthurs Worte. Ähnlich wie jetzt wieder in Arthurs Bitte mit dem Familientreffen an Friedrichs Krankenhausbett.
Natürlich habe ich mich auch damals breitschlagen lassen und bei Rosi und Friedrich angerufen. Die Reaktion war die gleiche wie bei Arthur. »So ein Firlefanz kommt gar nicht infrage. Das ist viel zu aufwendig, und wenn du weiter damit nervst, flüchten Friedrich und ich zu seinem Geburtstag in irgendein geheimes Hotel im Harz!«, reagierte Rosi sauer, Friedrich hingegen schwieg.
Dieses Schweigen ließ damals den Verdacht in mir keimen, dass Friedrich sich vielleicht doch gerne feiern lassen würde. Friedrich war inzwischen der Älteste der Sippe und wurde durchaus auch von meinen Cousinen und Cousins verehrt. Auch wenn Friedrich das nie zugeben würde, er ließ sich durchaus gerne als Ältester von allen verehren – und deshalb vermutlich auch gerne zum 80. feiern.
Und ich entwickelte den richtigen Riecher, dass Rosi vielleicht nur so ablehnend war, weil sie sich nicht in der Lage fühlte, eine Feier zu organisieren und zu bezahlen. Aber sie würde deswegen niemals uns Kinder um Unterstützung bitten.
Also unterlief ich Rosis Bedenken, rief außerplanmäßig an einem Samstag an und bot die Übernahme der Organisation und Kosten an. »Ihr müsst nur zur Feier kommen, und ich bin überzeugt davon, dass mich die gesamte Verwandtschaft in der Organisation unterstützen wird. Was meint ihr?«
Rosi war immer noch nicht zur Zustimmung zu bewegen, und Friedrich fing an zu brummeln.
»Schlaft jetzt erst mal eine Nacht darüber. Wir telefonieren morgen wieder bei unserem üblichen Sonntagsgespräch«, sagte ich zum Abschluss des Telefonats.
Am Sonntag war Rosi dann ganz aufgeregt. Sie hatte schon am Samstagabend mit der Liste der einzuladenden Gäste begonnen. »Diesmal müssen wir aber auch meine Geschwister und deren Familien dazu einladen.«
Was der Satz mit Rosis Geschwistern zu bedeuten hatte, verstand ich erst viel später. Sie waren allesamt mehr oder weniger seit vielen Jahren zerstritten und redeten nicht mehr miteinander, bis auf wenige Ausnahmen. Die Feier war der erste Anlass, dass die Geschwister nach fünfzehn Jahren einmal wieder miteinander reden würden.
Auch diese Geschichte zur Jubiläumsfeier trug auf keinen Fall dazu bei, das Verhältnis zwischen Dagmar und mir zu verbessern. Früher haben wir ab und zu telefoniert, aber das ist im Lauf der Zeit komplett eingeschlafen. Ich habe damals also schon lange nicht mehr mit Dagmar telefoniert und war einigermaßen entsetzt darüber, dass sie sofort zickig reagierte. »Aha. Ich habe Rosi und Friedrich auch wegen einer Feier gefragt. Wieso läuft das auf einmal?«
Es ist also alles beim Alten geblieben. Ich habe versucht, Dagmar die Situation zu erklären, aber zum Abschluss hat sie nur gezischt: »Na, dann mach mal! Wenn du jetzt denkst, dass ich mich finanziell beteilige, dann hast du dich geschnitten.« Damals hat Dagmar mit diesem Satz unser Telefonat beendet.
Ich habe sie mit keiner einzigen Silbe um Geld gebeten und war gespannt, ob sie sich wenigstens organisatorisch beteiligen würde. Sie beteiligte sich nicht – obwohl die Feier in der Nähe der Stadt stattfinden sollte, in der sie wohnte. Für mich war es aus der viel größeren Entfernung schwieriger, aber meine Cousinen und Cousins haben das wettgemacht. Ich habe meine Geschwister über die Aktivitäten auf dem Laufenden gehalten. Dagmar wollte dann doch wenigstens zum Programm beitragen und Musik spielen. Sie, ihr Mann, ihre Kinder. Sie wollten Musik spielen. Ansonsten hielt Dagmar sich heraus. Sie hielt sich auch beim Aufbau für die Feierlichkeit heraus, und ihre Familie kam als eine der letzten, vermutlich, um ein Zeichen zu setzen. Es war bereits eine angespannte Situation, die ich aber geflissentlich übersah.
Es war damals Michael, der mir am frühen Abend den Ellbogen leicht in die Seite stieß, als wir draußen bei einer Unterhaltung standen. Unser Blick wanderte auf den Parkplatz, von wo aus Dagmar und Wilfried in das Haus und mit in Frischhaltefolien verpackten Büffet-Resten wieder zu ihrem Auto liefen. Als sie die Büffet-Reste in ihrem Auto verstaut hatten, fuhren sie wieder ab.
»Das gibt’s ja wohl nicht! Nichts geldmäßig beisteuern wollen, sich organisatorisch raushalten, und dann das halbe Büffet einpacken«, hat Michael dicht neben mir geflüstert.
Es war echt peinlich. Aber ich habe mich weggedreht und nichts weiter dazu gesagt.
Ich habe das geduldig ignoriert. Die Feier war ein großer Erfolg, und Rosi hatte es sich später doch nicht nehmen lassen, mir zumindest einen Teil der Kosten zu erstatten.
Mit Dagmar habe ich nicht mehr gesprochen, bis sie eines Abends bei uns anrief. Der anfängliche Telefon-Frieden mit einem lockeren Gespräch über die Feier, schlug dann sehr schnell in einen mir unbegreiflichen Unfrieden aus.
Es gab ein Streitgespräch, bei dem mir Dagmar so einige Dinge an den Kopf warf. »Du hast mich wegen der Feier an die Wand gedrängt. Ich habe mich ausgeschlossen gefühlt!«, wetterte sie.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir damals in diesem Moment der Pulsschlag fast durch die Decke gegangen ist. Irgendetwas scheint in Dagmar permanent zu gären. Sie konnte es doch nicht ernst gemeint haben, mich jetzt auch noch dafür anzugreifen, dass sie nicht bei der Organisation der Geburtstagsfeier mitgemacht hat?
»Dagmar? Es macht keinen Sinn, dass wir uns auf diesem Niveau unterhalten. Mach du dein Ding, ich mach meins, und gut ist das.« Dann habe ich einfach aufgelegt. So geht es nicht. Wir haben seitdem nicht wieder telefoniert. Bis heute.
Michael reagiert inzwischen fast allergisch auf Dagmar, weil er sie nur in diesen Anti-Situationen erlebt. Ich erweitere meine Antipathie-Liste:
Rosi und Arthur mögen sich gegenseitig Nicht.
Michael mag Dagmar nicht.
Und Arthur denkt offensichtlich, ich könne locker bei Dagmar anrufen und fragen, ob sie Ende Februar zu einem Familientreffen bei Friedrich kommen möchte.
Ich seufze und rufe natürlich zuerst bei Rosi an. Mir schlägt eisiger Wind durch das Telefon entgegen, als ich Rosi den Wunsch des Familientreffens vorschlage. Ich verkaufe es als dahingelogenen eigenen Wunsch in diesem Telefonat, weil ich mir Sorgen mache. Arthurs Wünsche lasse ich unerwähnt. Ich kann Rosi nur überreden, indem ich sage, wir wollten uns alle im Haus treffen, und Rosi entscheide dann, wer zu Friedrich ins Krankenhaus dürfe.
Unwirsch stimmt Rosi zu. »Ich kann Arthur ja nicht den Besuch seines Bruders verwehren«, beendet Rosi unser Telefonat. Blöd ist sie nicht; vermutlich ahnt sie, woher der Wind weht.
Normalerweise gehöre ich nicht zu den Menschen, die unter Aufschieberitis leiden und die unangenehmen Dinge immer wieder nach hinten schieben. Aber in dem Fall rufe ich zuerst Jens an und schiebe das Telefonat mit Dagmar nach hinten. Ich habe auch mit Jens schon ewig nicht mehr telefoniert. In den letzten Jahren haben wir uns ab und zu mal zu Weihnachten bei Rosi und Friedrich getroffen, aber das ist auch schon eine Weile her. Jens ist das typische Papa-Kind und aus Hotel Mama wie gesagt erst mit dreißig ausgezogen. Aus Rosis Erzählungen bei unseren Sonntagstelefonaten weiß ich, dass dies eine Zeitlang echt viel Zoff gegeben hat. Friedrich hatte nichts dagegen, wenn Jens weiter bei ihnen wohnen blieb, doch Rosi wollte, dass Jens endlich selbstständig wurde. Friedrich und Jens haben oft die Köpfe zusammengesteckt und über irgendwelche hypothetischen Dinge sinniert. Das hat Rosi immer wieder erzürnt, denn bei diesem Sinnieren war sie komplett ausgeschlossen.
Bis heute macht es mich noch immer ganz aggressiv, wenn ich Menschen um mich herumhabe, die sich in spekulativen Aussagen versteigen. »Hätte, hätte, Fahrradkette.«
Als Jens dann tatsächlich endlich ausgezogen ist, wurden die tiefgründigen Gespräche zwischen ihm und Friedrich durch tägliche Telefonate ersetzt. Jeden einzelnen Abend rief Jens per Handy bei Friedrich an, um mit ihm zu sprechen. Auch das ist bis heute so geblieben. Ich glaube zwar nicht, dass Jens das im Moment fortführt, solange Friedrich im Krankenhaus ist, aber sobald Friedrich wieder raus ist, wird Jens wieder jeden Abend zum Telefon greifen. Da bin ich mir sicher.
Jens denkt nicht lange darüber nach, sondern sagt, er werde auf jeden Fall zum Treffen kommen.
Michael steckt den Kopf durch die Tür meines Arbeitszimmers, wo ich die Telefonate mit Rosi und Jens geführt habe. »Wie lange brauchst du noch?«, fragt er mich.
Achselzuckend murmele ich: »Jetzt muss ich noch Dagmar …« Es ist Sonntag, mein Koffer für die nächste Woche ist gepackt, und nach dem Telefonat ist Feierabend.
»Was soll das denn?!«, schlägt Dagmars Stimme wieder sofort in dieses seltsame keifende Zischen um, als ich mein Anliegen vorbringe. Mein Hörer liegt auf der Schreibtischplatte, der Lautsprecher ist angestellt. Ich weiß, warum. Ich möchte diesen Ton nicht direkt an meinem Ohr haben. Dagmar passt es einfach nicht, dass ich diejenige bin, die von Arthur gebeten wurde, dieses Treffen zu arrangieren, und nicht sie. Statt sich zu fragen, warum das so ist, schießt sie wieder mit Kanonen auf Spatzen.
Michael schlappt erneut in mein Arbeitszimmer und sieht mich fragend an.
Diesmal verdrehe ich die Augen und strecke die Zunge heraus.
»Wieso sollen wir jetzt alle im Krankenhaus auftauchen?«, hören wir Dagmar ungehalten fragen.
Ich versuche, erklärend Arthurs Absichten herüberzubringen. Irgendwie bin ich ja trotzdem nur die Botin. »Es ist eine Idee, um vielleicht in einer Art Familienrat gemeinsam zu beschließen, ob und wie wir Rosi und Friedrich in der gesundheitlich schwierigen Situation helfen können.«
Engelchen: »Ruhig bleiben! Sie fühlt sich wieder nicht abgeholt. Es ist wie damals – das gleiche Ding. Du musst aber niemandem das Wasser nachtragen und eine Bittstellerin spielen. Du bist nur Erfüllungsgehilfin.«
Dagmar schnaubt erbost. »Was soll sich denn durch Friedrichs Krankenhausaufenthalt an seiner und Rosis Situation verändert haben?« Diesen Satz werde ich wohl in meinem Gehirn abspeichern. Er bestätigt meine Überlegungen, dass weder bei Dagmar noch bei Jens angekommen ist, dass nun vielleicht die Kinder die Eltern unterstützen müssen und nicht umgekehrt.
Unverdrossen nenne ich Dagmar die Koordinaten, wann wir uns wo treffen: am letzten Februar-Wochenende um zwölf Uhr mittags am Hauptbahnhof in Braunschweig, da Jens mit dem Zug fährt, und wir ihn dort abholen.
»Ich überlege mir noch, ob ich komme!«, vibriert Dagmars Stimme.
Natürlich, Dagmar. Ich persönlich lege keinen gesteigerten Wert darauf, dass du kommst.
Teufelchen: »Sie wird kommen, weil sie sonst das Gefühl hat, sie würde etwas verpassen.«
Die Verabschiedung ist frostig. Nicht überraschend.
Michael stößt sich vom Türrahmen ab und pfeift leise durch die Zähne. »Oh, man, echt! Was hat Dagmar bloß für einen Film mit dir laufen?«
Wir gehen nach unten ins Wohnzimmer. Feierabend.
Dagmar schafft es leider immer wieder, dass ich mich trotzdem über sie ärgere. Ich will sie doch gar nicht angreifen, aber sie fühlt sich offensichtlich immer von mir angegriffen – egal, was ich tue.
In die Ecke gestellt? Was ist nur mit Dagmar? Warum ist sie so angespannt? Ich kann Streit nicht leiden und lasse mich in meinem heutigen Erwachsenenalter auf keine aggressive Auseinandersetzung mehr ein. Rosi hat diese Vorgehensweise bei mir unbewusst schon in meinen Kinderjahren sehr gut trainiert. Ich bin mit Rosis Wutausbrüchen aufgewachsen. Wenn irgendetwas nicht so lief, wie sie wollte, war dieser Ausbruch da. Mir gegenüber war sie zwar nicht handgreiflich, aber verbal sehr verletzend. Rosis Ton war dabei immer so giftig wie im heutigen Telefonat der von Dagmar. Das gruselt mich, und ich werde dann eher eiskalt und abweisend.
Dabei verstehe ich Dagmars Aktionen umso weniger, je mehr ich von Rosi darüber höre, wie stolz sie als Oma auf ihre Enkelkinder ist. Die Kinder von Dagmar natürlich.
Rosi ist mir in den Sonntagstelefonaten eine Zeitlang sogar richtig auf die Nerven gegangen mit ihrem Stolz. Dagmar ist eigentlich schon seit jeher das Musterkind für Rosi. Sie brachte gute Noten heim, machte ihr Abitur perfekt und studierte dann Musik. Gut, nach einigen Querelen – von denen mir Rosi erst viel später erzählt hat – hat Dagmar Wilfried geheiratet und ihre drei Kinder bekommen: Bastian, Juliane und Claudius, den Jüngsten. Seit der Geburt von Juliane sind die Telefonate von Dagmar und mir immer weniger geworden. Dagmar hat angefangen, sich über Wilfried zu beschweren, und ist noch einmal schwanger geworden. Mit Claudius. Das habe ich nicht verstanden.
Später hieß es: »Wenn Claudius achtzehn Jahre alt ist, dann trenne ich mich.«
Das habe ich noch weniger verstanden.
Die Telefonate schliefen dann einfach ein. Ich habe keine Ahnung, ob Rosi das so früh mitbekommen hat – diesen Stress zwischen Wilfried und Dagmar. Das minderte jedenfalls nicht ihren Stolz auf die Enkelkinder.
Schon damals war bei meinen Sonntagstelefonaten Rosi immer die Rädelsführerin, und Friedrich sagte nur selten etwas. Ich konnte Rosi sogar halbwegs verstehen, denn Dagmar hatte viel eher Rosis Rolle übernommen als ich. Dagmar ist Mutter, wie Rosi. Das bin ich nicht. Also fühlt sich Rosi Dagmar sicher näher als mir, da ich nur als Workaholic Bericht erstatten kann.
Irgendwann ist mir bei einem der Sonntagstelefonate mit Rosi der Geduldsfaden gerissen. »Ich rufe an, um zu hören, wie es euch geht. Wenn ich wissen will, wie es Dagmar oder ihren Kindern geht, dann rufe ich sie an.« Friedrich hat verhalten gelacht.
Wie auch immer ich das geschafft habe; Rosi hat mich ab dem Zeitpunkt mit der Enkelkinder-Berichterstattung verschont. Aber dann kam im Verlauf der Zeit etwas anderes in den Fokus. Wilfried. Ohne dass ich es wirklich bewusst bemerkte, flammte für Rosi immer mehr das Thema Wilfried auf. Vermutlich beklagte sich Dagmar nun auch bei Rosi über Wilfried. Bei mir tat sie das ja nicht mehr, seit wir nicht mehr telefonierten. »Wilfried wird immer seltsamer. Der lässt die Familie im Winter frieren, weil er zu geizig zum Heizen ist«, erzählte mir Rosi.
Noch später: »Wilfried wird immer mehr zum Kauz, der hat extreme Existenzängste. Die Kinder orientieren sich allerdings ohnehin an Dagmar und haben längst ihre Ersatz-Vaterfigur in anderen Männern gefunden.«
Ach, Rosi. Manchmal denke ich, dass ihr Leben nur darin besteht, jemanden zu mögen oder nicht zu mögen. Situationsaktuell. Ich ziehe meine »Antipathie-Liste« hervor und erweitere sie.
Rosi und Arthur mögen sich gegenseitig nicht.
Michael mag Dagmar nicht.
Rosi mag Wilfried schon länger nicht mehr.
Das Verhältnis zwischen Dagmar und mir bleibt nach wie vor sehr angespannt.
Aber nun können wir erst einmal das Familientreffen Ende Februar einläuten und schauen, was da so alles an Sympathien und Antipathien sichtbar wird.