Kitabı oku: «Glasglockenleben», sayfa 4

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Familientreffen

Familientreffen in Braunschweig. Für mich sind aufgrund der Entfernung Wochenenden über meinen Erstwohnsitz in Kaiserslautern hinaus eine echte Herausforderung. Wenn ich von Zürich ganz unten im Süden starte, über Kaiserslautern fahre, um dann in den Norden nach Braunschweig zu gelangen, ja, dann weiß mein Rücken Bescheid. Davon abgesehen fallen alle Routinen aus, die ich am Wochenende benötige: Wäschewaschen und Bügeln. Den Koffer packen und das Auto für die nächste Woche richten muss ich auf jeden Fall – egal, wie spät es am Sonntag wird. Aber irgendwie verpacke ich das in die freundliche Aussicht, dass ich die Zürich-Fahrten eh bald hinter mir habe. Bis dahin schaffe ich das schon noch.

Das letzte Februar-Wochenende muss nun also tatsächlich dran glauben; das Familientreffen steht. Michael und ich fahren am Samstag frühzeitig los. Wir haben von allen die weiteste Anfahrt. Wir nehmen wieder meinen Kombi, da man dort nicht wirklich auf Platz achten muss. Die Koffer fliegen einfach hinten hinein, und los geht‘s. Das heißt aber auch, dass ich wieder die ganze Strecke fahren muss. Michael fährt im Gegensatz zu früher nicht mehr so gerne Auto, und schon gar nicht ihm nicht vertraute Autos wie meines.

Die Bäume rauschen am Rand der Autobahn an uns vorbei, während Michael ab und zu bittet: »Fahr nicht so schnell!«

Die Straßenverhältnisse sind nach wie vor gut und scheinen wenig mit winterlichen Komplikationen zu tun zu haben, aber ich nehme trotzdem den Fuß vom Gas. Die meiste Zeit der stundenlangen Fahrt schweigen wir. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. »Ich muss mich kümmern, geht es durch meinen Kopf, »deswegen sitzen wir jetzt hier im Auto.« Ich versuche zumindest, den Ärger über meine Geschwister beiseitezuschieben. Von Jens erwarte ich nicht viel, und Dagmar hat ihre Position deutlich gemacht. »Was soll sich denn durch den Krankenhausaufenthalt an Friedrichs und Rosis Situation geändert haben?« Damit ist klar, dass meine Schwester nicht mit unterstützen wird.

Während ich daran denke, dass Friedrich mit seiner künstlichen Hüfte sicher nie wieder ins Dachgeschoss kraxeln kann, kommt mir kurz der Verdacht, dass er dort vielleicht auch schon Wochen vorher nicht mehr hingekommen ist. Aber dort oben sind doch Friedrichs XP-Rechner und sein Drucker? Ich stelle fest, dass ich überhaupt keine Ahnung mehr von Rosis und Friedrichs aktuellem Leben habe.

Das letzte Mal bin ich vor anderthalb Jahren bei ihnen gewesen – und das kann manchmal eine lange Zeit sein. Ich erinnere mich. Die Zeit zwischen meinem letzten und meinem vorletzten Besuch war länger als diese anderthalb Jahre. Vermutlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich vor anderthalb Jahren auf die Idee kam, eine Woche zu Besuch bei Rosi und Friedrich zu sein. Irgendwie war es eine Ahnung, dass ich vielleicht das letzte Mal so an ihrem realen Leben teilhaben könnte. Natürlich hatte ich mich damals an den geruhsamen Lebensrhythmus von den beiden angepasst, und es war offensichtlich tatsächlich die letzte Gelegenheit, bei der ich im Haus meiner Kindheit übernachtete. Aber das wusste ich damals natürlich noch nicht. Ich bin seinerzeit mit einem Fotoapparat durch das Haus geschlichen und habe nur die schönen Ecken fotografiert. Es gab sie, die schönen Ecken. Zumindest wenn man den ganzen Tinnef mochte, den Friedrich auf Flohmärkten erbeutet hat und den Rosi dann vor den Fenstern von der Decke baumeln ließ.

Meine Neugier hat mich auch in den Keller geführt. Rosi war im Erdgeschoss in der Küche beim Kochen, und Friedrich bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Er saß in einem bequemen Sessel und las ein Buch.

Rosi hat mich gebeten, einen Orangensaft aus dem Vorratsraum im Keller zu holen. Der Vorratsraum war der erste Raum rechts im Keller und schon immer Rosis Refugium. Früher war der Vorratsraum ein Raum mit Essensvorräten. Und Rosi hat dafür gesorgt, dass es so blieb. Mein Blick ist beim Hinausgehen mit dem Orangensaft auf das Regal hinter der Tür gefallen. Gestapelte Elektrogeräte, leere Dosen, leere Marmeladengläser. Wie alt mochten diese Gläser sein?

Vor vielen Jahren musste Rosi sehr sorgsam mit dem Haushaltsgeld umgehen. So hat sie Marmelade eingekocht. Wir haben gespart, wo wir nur konnten, und Rosi ist da sehr erfinderisch und patent gewesen.

Rosi kochte schon lange keine Marmelade mehr ein. Warum konnte sie die Sachen nicht einfach zum Altglas-Container bringen, um Platz zu schaffen? Würde ich das einfach tun, würden alte Wunden wieder aufbrechen. Ich durfte mich nicht einmischen.

Das Regal hinter der Tür des Vorratsraums hat mich dazu verleitet, nicht wieder gleich nach oben zu gehen, sondern erst einmal einen Blick in Friedrichs angrenzenden Hobbyraum zu werfen und anschließend in den so getauften Waschraum mit der Waschmaschine und dem angrenzenden Heizungsraum. Die trübe Kellerbeleuchtung stammte noch aus meinen Kindertagen und tauchte den Keller in ein mir bekanntes funzeliges Dämmerlicht. Die Kellerwände haben es seit über vierzig Jahren nicht über den Rohbau-Zustand hinausgeschafft. Die mit Anti-Rost-Farbe grau gestrichene Metalltür zum Hobbyraum war angelehnt. Sie quietschte noch immer, und ich hoffte, dass das Geräusch nicht nach oben zu Rosi und Friedrich dringen würde. Aber Friedrich hatte wie immer, wenn er las, sein Hörgerät abgeschaltet, und Rosi war mit Kochen beschäftigt. Was habe ich erwartet? Als ich klein war, hatte ich den Hobbyraum immer als Abenteuer-Spielplatz angesehen. Friedrich und Rosi war es wichtig gewesen, dass wir nicht in den Clustern erzogen worden sind, dass Mädchen mit Puppen spielten und Jungen sich im Hobbyraum herumtrieben. Als kleines Mädchen fand ich es cool, dass Friedrich mir beibrachte, mit einer Bohrmaschine genauso gut umgehen zu können wie mit einer Kreissäge oder einer Laubsäge.

Das Quietschen beim Aufschieben der Tür katapultierte mich auch vor anderthalb Jahren schon in meine Vergangenheit zurück. Im Dämmerlicht erkannte ich nur schemenhaft einen übervollen Raum. Gut, Rosi hatte auch schon in meinen Kindheitstagen darüber geschimpft, dass der Raum voll war, und Friedrich selbst dafür verantwortlich war. Auch damals schon konnte niemand mehr den Raum durchqueren, um an der gegenüberliegenden Wand die Tür zur Außentreppe in den Garten zu erreichen.

Meine Hand war an den altbekannten Lichtschalter gefahren. Elektrogeräte. Eine Werkzeugbank, eine Drechselbank, viele Bohrständer und Blechdosen von Keksen, leergefuttert und mit Schrauben wieder angefüllt. Joghurtbecher mit Schrauben, Muttern, Nägeln und Unterlegscheiben. Werkzeuge. Alles voll.

Das Zuziehen der Tür erzeugte das gleiche Quietschen, und ich drehte mich von dort aus wieder nach rechts, um einen Blick in den Waschraum zu wagen. Der Waschraum war eigentlich der Raum gewesen, in dem Rosi die Wäsche in der Waschmaschine wusch und sie an den an der Decke angebrachten Leinen zum Trocknen aufgehängt hatte. Einfache – mittlerweile verrostete – in die Wand geschlagene Metallhaken mit einer darum gewickelten Nylonschnur.

Als ich damals mit siebzehn Jahren geflüchtet war, waren diese Nylonschnüre für mich nicht mehr wichtig gewesen. Damals gab es noch keine Waschsalons – zumindest hätte ich sie mir ohnehin nicht leisten können – und ich war zum Wäschewaschen mit dem Bus zu meinen Eltern gefahren. Waschmaschine an, nasse Wäsche wieder mitnehmen und in meinem neuen Zuhause aufhängen. Eine Kellerwohnung mit Ameisen. Ich hatte nicht einmal einen Kühlschrank und schmierte mir bei den »Besuchen« meiner Eltern vor lauter Hunger ein paar Brote, um wenigstens am nächsten Tag etwas zu essen zu haben.

Irgendwann bin ich einmal zu spät dran gewesen und Zeugin eines Eskalationsgesprächs zwischen Friedrich und Rosi geworden. Friedrich war mit den Einkäufen von der Arbeit nach Hause gekommen, und Rosi war ihn sofort angegangen: »Ich will nicht mehr, dass Anja einen Schlüssel zu unserem Haus hat. Bei der muss ich doch Angst haben, dass sie uns alle Lebensmittel stiehlt.«

Ich habe Hunger kennengelernt und auch, wie man mit einer Tüte Katjes für eine Mark am Kiosk den größten Hunger bekämpfen konnte. Ich habe gedacht, es sei okay, wenn ich bei Rosi und Friedrich etwas esse. Ein paar Brote zu essen, wenn ich zu Gast war, habe ich nicht für Stehlen gehalten.

Diese Erinnerungen schnell wieder abschüttelnd, bin ich damals mit dem Orangensaft wieder zurück nach oben ins Erdgeschoss zu Rosi und Friedrich gegangen. Rosi hat »Essen ist fertig!« gerufen und sich offensichtlich nicht gewundert, dass ich schon eine Weile im Keller verschwunden war. Ich habe ihr dann beim Decken des Tisches geholfen und so getan, als ob alles in Ordnung sei. Die Ausbeute der Bilder von den schönen Ecken des Hauses habe ich später zu einem Fotobuch zusammengeschnitten und ihm den Titel »Das Schatzhaus« gegeben. Das Haus war voller Schätze im Sinne von Rosi und Friedrich. Jahrelang zusammengesammelt, und nie etwas weggeworfen. Das Schatzhaus war etwas, das ich glaubte, festhalten zu müssen, denn irgendwie ahnte ich, dass es bald der Vergangenheit angehören könnte. Ich hatte viele Bilder von den blühenden Blumen in Rosis Garten gemacht. Aus Rosis Hobby mit dem Garten schien mit der Zeit wohl die anstrengende Pflicht geworden zu sein, draußen das Unkraut zu jäten.

Schon damals, vor anderthalb Jahren, hat mich im Dachgeschoss ein Hustenreiz überfallen, der durch den Staub ausgelöst worden war. Es war komplett unklar, wann hier überhaupt einmal jemand in den letzten Jahren Staub gewischt hat. Friedrich bestimmt nicht. Und Rosi auch nicht. Also niemand.

Michael reißt mich aus meinen Gedanken. Ach ja, das Familientreffen. »Was ist denn jetzt? Kommt Dagmar zum Familientreffen oder nicht?« Michael gähnt, nachdem er die Frage gestellt hat.

Wir biegen auf gerader Ebene auf den letzten Autobahnabschnitt ab. Ich unterdrücke sowohl mein eigenes Gähnen als auch die Gereiztheit darüber, dass ich ein viel größeres Recht auf Gähnen hätte. Michael kann nichts dafür. Ich habe keine Ahnung. »Soweit ich die E-Mails interpretieren konnte, kommt Dagmar jetzt wohl doch.«

Wieder steigt unwillkürlich Ärger in mir hoch. Dagmar, die Rosi und Friedrich gegenüber offensichtlich keine Verantwortung übernehmen will. Und wenn ich mich jetzt wirklich mehr um die beiden kümmere, was ändert sich dann an dem Verhältnis zwischen Rosi und mir? Gar nichts! Es wird immer so bleiben, dass Rosi alles besser weiß. Sie hat sich ihre Welt gebaut und noch nie jemanden hereinreden lassen. Diese Besserwisserei hat mich schon immer in Rage gebracht.

Wie würde das dann heute aussehen? Wenn ich zum Beispiel Alltagsgeschichten aus meinem Job erzähle, weiß sie alles besser. Sie wusste, wie man sich verhalten musste, wie man sich organisieren musste oder auch, wie man ein Thema zu lösen hatte. Vor vielen Jahrzehnten gab es nur leider kein Jabber, Skype for Business, Smartphone, Internet und viele andere Arten der heutigen Kommunikation. Rosi ist seit der Schwangerschaft mit Dagmar nie wieder ins Arbeitsleben zurückgekehrt. Aber sie sprach über ihre Arbeit, als hätte sie erst gestern damit aufgehört und als hätte sich seitdem nichts in der Welt verändert.

Wenn ich mich mit der Schilderung des veränderten Berufsbildes gegen ihre Besserwisserei wehre, ist sie beleidigt. »Ich hätte auch Karriere gemacht, wenn ich nicht euch Kinder bekommen hätte!«, schnappt sie dann. »Ich hätte auch gerne studiert! Das war aber nicht möglich, weil meine Zwillingsschwester und ich als die ältesten von fünf Kindern nach dem Krieg sofort Geld verdienen mussten für die Familie! Damit meine jüngeren Brüder studieren konnten! Und deswegen musst du mich nicht für blöd erklären!«

Ist meine Mutter vielleicht eine Frau, die im tiefsten Inneren von Unzufriedenheit und Minderwertigkeitskomplexen geprägt ist? Und wenn es so ist, wie viel haben wir Kinder dazu beigetragen – geprägt von Friedrichs gefühlter Geringschätzung Rosi gegenüber? Friedrich hat Rosi selten zugehört und ihr kaum geantwortet. Manchmal – wenn Rosi es nicht gesehen hat – hat er die Augen verdreht. So etwas geht natürlich nicht spurlos an Kindern vorbei.

Teufelchen: »Irgendwie nicht unbedingt ein Klima, in das man wieder tiefer eintauchen möchte, oder?«

Ich fühle, wie eine leichte Anspannung meinen Nacken hochkriecht. Am liebsten würde ich wieder umkehren. Mir kommen auch Gedanken über die Vergangenheit, die mir ein zynisches Grinsen auf das Gesicht legen. Rosi war immer stinksauer, wenn sie abends noch das Bügelbrett aufbaute. Sie hat es dann mit viel Getöse im Wohnzimmer aufgebaut, während Friedrich, Dagmar, Jens und ich uns vor dem ersten Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher versammelten, um die Sesamstraße oder das Sandmännchen zu schauen und später »Die Drehscheibe« oder sogar »Der Schwarze Kanal« mit Karl-Eduard von Schnitzler. Da wir im Westen in der Nähe der Grenze der DDR wohnten, konnten wir so manchen DDR-Sender empfangen, um neugierig zu verfolgen, was »die im Osten« so über »die im Westen« verbreiteten.

Stinksauer war Rosi, weil wir uns zum Feierabend niederließen und sie noch zu tun hatte. »Ich habe nie Feierabend!«, hieß es dann oft. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann ist es für mich normal, um zwanzig Uhr noch lange nicht still zu sitzen. Oft bin ich um die Zeit noch nicht einmal von der Arbeit zurück nach Hause gekommen.

Rosi bügelte alles, was nicht niet- und nagelfest war, und vor allem bügelte sie permanent Bügelfalten in die Jeanshosen. Bügelfalten in Jeanshosen. Rosi wurde jedes Mal wütend, wenn jemand von uns sagte, dass Bügelfalten nichts in Jeans zu suchen hatten. Auch Kinder sind nicht blöd, und so nahm ich einfach die ungebügelte Jeans von der Wäscheleine und zog sie so an. Besser ungebügelt als mit Bügelfalte.

Die Straßenverhältnisse sind gut, und endlich kurven wir nach Braunschweig ein. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich noch sehr gut in der Stadt meiner Kindheit auskenne; zu viele Straßenführungen haben sich geändert. Braunschweig hat sich zu einer schicken mittelgroßen Stadt entwickelt. Aber den Bahnhof finde ich locker, und die Insider-Parkmöglichkeiten in den Parallelstraßen sind die alten geblieben.

Ich parke gegenüber vom Hauptbahnhof in einer Seitenstraße. Als wir die breite Straße vor dem Hauptbahnhof dann zu Fuß überqueren, sehen wir die Menschenmassen schon von Weitem. Überall Polizei und Absperrungen.

»Scheiße!«, entfährt es mir genervt, »An das Fußballspiel habe ich nicht gedacht.«

Wie in allen Fußballhochburgen ist auch hier seit Jahren Highlife und vor allem leider auch viel Randale zu solchen Ereignissen.

Jens ist groß und dadurch auffällig. Wir entdecken ihn trotz der Menschenmassen fast sofort am Haupteingang am Bahnhofsplatz. Kurze Zeit später sehen wir Arthur und Susanne durch das Menschengewühl Richtung Toilette hasten. In dem Tumult und den Absperrungen des Bahnhofs finden wir keinen vernünftigen Unterschlupf in einem Café, sondern müssen trotz Arthurs Protest mit einem Burger-Restaurant vorliebnehmen.

Offensichtlich hat aber auch das Burger-Restaurant schon etwas unter den Menschenmassen gelitten, denn es sieht ziemlich schmuddelig aus. Wir holen uns schnell jeder ein Getränk und quetschen uns an einen frei werdenden Tisch. Vorbesprechung zum Familienrat.

Eigentlich will ich gar nicht fragen, aber ich wende mich an Jens: »Hat sich Dagmar bei dir per Handy gemeldet?«

Jens nickt. »Sie stand vorhin im Stau und kommt etwas später.«

Später? Dann kann sie genauso gut direkt zu Rosi fahren. Als ich vor zwei Stunden während der Fahrt Michael mein Handy in die Hand gedrückt habe, damit er bei Dagmar nachfragte, ob sie kommt und wo sie steckte, war niemand rangegangen. Aber mit Jens sprach sie offensichtlich. Meine Nummer ist wohl ein Tabu.

Noch während ich mir vornehme, mich nicht schon wieder zu ärgern, fühle ich den Unwillen in mir hochsteigen.

Teufelchen: »Dagmar scheint mal wieder ihr Problem mit Anja auszuleben.«

Engelchen: »Welches Problem denn?«

Teufelchen: »Ach, weiß der Geier! Unwichtig.«

Susanne legt mir den Arm um die Schulter, als sie ihren Kaffee halb ausgetrunken hat. Sie wirft Arthur einen kurzen Blick zu, der nickt. »Anja, komm, du gehst doch bestimmt mal eine rauchen.«

Ich verstehe diesen Wink und verlasse gemeinsam mit Susanne den schmuddeligen Ort.

Kaum auf der Straße, sagt sie: »Ich mache mir echt Sorgen um Rosi. Sie wischt zwar immer alles zur Seite, aber ganz ehrlich: Sie ist total überfordert mit der Betreuung von Friedrich. Außerdem gibt sie niemals zu, dass sie sich mal um sich selbst und ihr kaputtes Knie kümmern müsste.«

Das stimmt, das müsste sie. Tut sie aber nicht.

Damals bei der Feier zum 80-jährigen Jubiläum von Friedrich waren Rosi und Friedrich mit dem Zug angereist. Auf dem Rückweg war Rosi auf dem Bahnsteig übel gestürzt und hatte sich ihre Kniescheibe gebrochen. Sie kämpfte sich sehr lange mit Krücken ab und nahm lieber Schmerzmittel, als sich davon unterkriegen zu lassen. Sie sagte selten ein Wort über ihre Betäubungsmittel, aber in letzter Zeit hat sie schon ab und zu gesagt, dass Friedrich ihr den Schlaf raubte mit seinem Hin- und Her-Wälzen und sie vor lauter Schmerzen dann gar nicht mehr zum Schlafen kam. Bevor Friedrich ins Krankenhaus gekommen ist, war sie sogar zeitweise in das ehemalige Zimmer von Jens ausgezogen, in dem immer noch das von Friedrich selbst gebaute Bett stand.

Eigentlich wussten wir alle, dass Rosis Knie nochmals operiert werden müsste und sie danach selbst in eine Reha gehen sollte. Das wird sie aber niemals tun wollen. Denn Rosi kann Friedrich weder zur OP noch zur Reha mitnehmen. Friedrich würde während dieser Zeit in einer Pflegestation unterkommen müssen. Nichts, was Rosi zulassen würde.

Mein Blick geht kurz auf den Boden, wohin die Asche meiner Zigarette rieselt. Vor viereinhalb Jahren – kurz nach der Feier zu Friedrichs 80. Geburtstag – hat Rosi das allererste Mal mit mir über Friedrichs Krankheit gesprochen: »Die Ärzte haben es jetzt diagnostiziert. Friedrich hat die Parkinson-Krankheit«.

Ich habe dieses Telefonat hingenommen wie alle Telefonate. Parkinson, aha. Vielleicht nahm ich das damals vor viereinhalb Jahren einfach so zur Kenntnis wie Dagmar jetzt wohl immer noch. Ist das nicht die Krankheit, bei der ein Patient einfach bloß ein bisschen mit den Händen zittert? Da ändert sich doch nichts am normalen Leben? Ich habe die Veränderungen natürlich immer nur dann wahrnehmen können, wenn ich überhaupt einmal vor Ort war. Anfangs ist Friedrich durchaus in der Lage gewesen, sich selbst zu versorgen, was er auch tat, als Rosi damals mit Darmblutungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Im Verlauf der Parkinson-Krankheit wurde es aber immer unmöglicher, Friedrich allein zu lassen. Rosi wollte nach wie vor auf keinen Fall, dass Friedrich in eine Pflegestation kam. Auch nicht nur vorübergehend.

Und dann habe ich endlich angefangen, im Internet nachzulesen, was es überhaupt bedeutet, wenn jemand Parkinson-Patient ist. Parkinson ist nicht nur das Zittern. Parkinson macht nicht vergesslich wie die Demenz. Parkinson verlangsamt alles. Das Sprechen, den Bewegungsapparat, die Gelenke versteifen, und die Stimmbänder können gelähmt werden. Der Bewegungsapparat ist es, der ein selbstständiges Leben im Verlauf immer weiter erschwert. Erst ist es ein Sturz. Dann ist es noch einer. Dann bricht der Oberschenkelhals. Die Kraft schwindet und reicht irgendwann nicht mehr, um auch nur einen Schraubverschluss einer Wasserflasche zu öffnen – auch wenn die Physiotherapie und die Medizin das so lange wie möglich hinauszuzögern versuchen.

Friedrich hat den Punkt erreicht, dass er ohne Rosis Hilfe nur noch in einer Pflegestation sein könnte. Rosi bringt alle Kraft auf, um ihm das zu ersparen. Und Rosi tut alles, damit wir glauben, dass sie das schafft.

Susanne lässt nicht locker. »Immer sagen Rosi und Friedrich, es sei alles in Ordnung, aber wenn wir zu Besuch sind, sehen wir, dass nichts in Ordnung ist. Wir wollen uns nicht einmischen, aber meiner Meinung nach muss da echt mal jemand hinter die Kulissen schauen.«

Da ist es wieder, das Zerbersten des Glasglockenlebens. Kann es nicht einfach so weitergehen, wie es gerade ist? Muss es denn unbedingt zusammenbrechen? Ich weiß ja selbst, dass meine Betrachtung aus der Ferne mit der Aussage von Rosi, alles sei in Ordnung, immer offensichtlicher nicht der Realität entspricht. Jedenfalls nicht meiner oder Arthurs oder Susannes Realität. Aber das ändert die Charaktere von Rosi, Friedrich und mir nicht. Worin würde sich Rosi denn überhaupt von mir unterstützen lassen, und vor allem: Welche Unterstützung könnte ich aus der Ferne bieten?

Als ich damals mit siebzehn Jahren aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen bin, habe ich mich erst einmal abschotten müssen. Der Kontakt war schwierig, teilweise mit Misstrauensvorwürfen bestückt und endete komplett, als ich mit Anfang zwanzig mein eigenes ernst zu nehmendes Geld verdiente. Glücklicherweise haben Rosi und Friedrich mir eine schulische Ausbildung finanziert, das rechne ich ihnen hoch an und bin sehr dankbar dafür. Danach habe ich allerdings ein Studium angefangen und trotzdem in Vollzeit gearbeitet.

Mit Mitte zwanzig habe ich gedacht: Deine Eltern haben viel für dich getan. Versuch es doch mal mit einer Annäherung. Das habe ich dann getan. Auf eine oberflächliche Art und Weise hat es auch funktioniert. Die Versuche der Aufarbeitung des gespaltenen Verhältnisses zwischen Rosi und mir musste ich irgendwann aufgeben. Rosis Puls raste ins Unermessliche, wenn ich das Thema aus meiner Sicht ansprach, warum ich a) mit siebzehn Jahren gegangen bin und b) eine Zeitlang den Kontakt ganz abgebrochen habe. Rosi war in keiner Weise kritikfähig und verlangte von mir, dass ich dazu die alleinige Schuld auf mich nahm.

Wenn Friedrich mir dann zur Seite sprang, war es ganz aus mit dem fadenscheinigen Familienfrieden. So blieb es nur, den Aufarbeitungsversuch zu begraben und an der Oberfläche zu bleiben.

Ich glaube, in all den Jahren, in denen ich dann aus beruflichen Gründen in den Süden abgewandert bin, waren Friedrich und Rosi bei mir genau ein einziges Mal zu Besuch.

Vielleicht sogar ein entscheidender Besuch für gewisse spätere Aktivitäten von Friedrich. Ich denke da an den XP-Rechner im Dachgeschoss. Damals bei dem Besuch meiner Eltern haben Michael und ich in einer gemieteten Doppelhaushälfte gewohnt. Rosi und Friedrich haben bei uns Urlaub gemacht. In meinem Arbeitszimmer standen ein Hewlett-Packard-Laptop für 4.000 D-Mark und ein analoges Modem, um mit dem Laptop in das Internet zu kommen. Das war Ende der 90er Jahre.

»Deine Küche ist ja toll!«, hat Rosi bei der Ankunft gesagt. Sie war modern, sah schick aus und war funktional.

Friedrich habe ich gezeigt, wie er mit meinem Laptop ins Internet kam. Von da an war es immer das gleiche Bild, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam. Rosi war in der Küche und Friedrich nirgends zu sehen. Er saß in meinem Arbeitszimmer und surfte im Internet. Und ich betete, dass er das nicht stundenlang tat, denn damals wurden die Internetverbindungen noch sehr teuer im Minutentakt abgerechnet. Erst viel später war eine ISDN-Karte mit einer Flatrate fast eine Revolution.

Heute sind wir ständig online und müssen nur noch auf die Gigabytes achten, die wir bewegen. Privat.

Unternehmen rechnen mindestens in Terrabyte.

Früher war es tatsächlich sehr eingeschränkt, denn mit dem analogen Modem (was beim Einwählen ins Internet so schön ratterte wie ein altes Telefon mit Wählscheibe) war die Telefonleitung für Anrufer besetzt. Entweder telefonieren oder surfen. Fertig.

Friedrich tippte jeden Tag auf meinem Laptop herum und fand das Internet »mega«. Sein Impuls, sich damit zu beschäftigen und für Braunschweig auch Internet zu installieren. Mal sehen, welche Technologie mich in Braunschweig erwartet. Falls ich da überhaupt herandarf.

Susanne knufft mich kurz in die Seite.

Offensichtlich habe ich in meinen Gedanken verfangen etwas länger geschwiegen. Meine Zigarette ist längst fertiggeraucht. »Ach, Susanne. Ich weiß längst, dass es mit Rosi und Friedrich nicht so weitergehen kann. Ich habe aber noch keine Lösung dafür.« Ich muss dringend auf Toilette, und so gehen Susanne und ich zurück zu den anderen in das schmuddelige Burger-Restaurant.

Von Dagmar ist immer noch keine Spur am Horizont zu erkennen. Wir haben Rosi versprochen, dass wir um halb zwei bei ihr sind.

Um dreizehn Uhr klingelt mein Handy. Rosi. »Kommst du pünktlich?« Die anderen Handys klingeln nicht. Will sie nicht wissen, wann alle kommen? Mir schwant etwas. Sie möchte, dass ich da bin, bevor die anderen kommen? Sie weiß nicht, dass Arthur, Susanne, Jens, Michael und ich in 25 Minuten zeitgleich bei ihr auftauchen werden. Mein schlechtes Gewissen rührt sich. Irgendwie hintergehen wir Rosi gerade.

Ich blase zum Aufbruch für Michael und mich. Unser Grüppchen löst sich auf, Jens wird mit Arthur und Susanne mitfahren. Auf Dagmar können wir jetzt nicht mehr warten. Jens hat Dagmar eine SMS geschrieben, dass sie gleich zu Friedrichs und Rosis Haus fahren soll, weil wir jetzt vom Bahnhof abhauen.

Teufelchen: »Kann es sein, dass Dagmar nicht so die Eigenschaft der Pünktlichkeit und damit Verlässlichkeit besitzt?«

Das ist seit vielen Jahren nichts Neues, und offensichtlich scheint das niemanden hier zu stören. Vermutlich hat ohnehin niemand mit Dagmars Erscheinen am Bahnhof gerechnet.

Rosi erwartet uns schon auf dem schmalen Weg vor dem Haus. Wahrscheinlich hat sie wie immer alle paar Minuten oben im Dachgeschoss aus dem Giebelfenster auf den Garagenhof gespäht, ob wir endlich kommen.

Ich werfe einen Blick auf Rosi. Sie ist sehr zögerlich im Gegensatz zu ihren sonstigen Begrüßungen bei früheren Anlässen. Erkenne ich da einen resignierten Gesichtsausdruck in Rosis Gesicht? Sie ist sehr schlank geworden und kommt mir auf einmal alt und zerbrechlich vor. Ob das wohl eine so gute Idee war, dieses Familientreffen?

Wir (Susanne und ich) haben Rosi freundlich untersagt, Kuchen zu backen oder zu kaufen. Früher hätte sie es sich nicht nehmen lassen, uns ordentlich zu verköstigen. Aber dieses Mal hat es gar keine Diskussion darüber gegeben, und Rosi hat nicht widersprochen. Wann hat Rosi eigentlich das letzte Mal einen Kuchen gebacken?

Susanne holt mitgebrachten Bienenstich aus dem Auto, und ich stürze in die Küche, um Rosi das Kaffeekochen abzunehmen. Es ist immer noch die alte blaue Billig-Kaffeemaschine, und ihr Zustand sieht nicht sehr gut aus. Ich wische heimlich mit einem Lappen schnell die gröbsten Flecken weg. Rosi hat sich auch früher schon in ihrer Ehre gekränkt gefühlt, wenn jemand in ihrem Haushalt hinter ihr herputzte. Diese schmerzliche Erfahrung habe ich schon als Vierzehnjährige machen müssen, als Rosi auf einer Kur war und wir Kinder den Haushalt übernahmen. Voller Eifer habe ich an einem Wochenende die Küche in Angriff genommen, alles Geschirr ausgeräumt und die Küchenschränke geputzt – auch oben auf den Schränken, wo der Staub durch die Küchendämpfe zu einer pappigen Schicht geworden war. Ich war stolz auf mein Werk, Friedrich lobte mich. Als Rosi dann zurückkam und ich ihr mein Werk zeigte, ist sie ausgeflippt. Seit wann es jetzt nicht mehr gut genug für uns sei, wie sie den Haushalt führte.

Michael kommt auch in die Küche, um beim Tischdecken zu helfen. Unsere Augen treffen sich, und Michael deutet mit seinem Blick auf den Fußboden.

Ich nicke, zucke mit den Schultern und schüttele den Kopf. Ich habe die Verschmutzungen auf dem Boden auch gesehen.

»Rosi ist mit der Pflege von Friedrich langsam überfordert«, hallen Susannes Worte in mir nach.

Jens schmeißt sich im Wohnzimmer in seinen Lieblingssessel und plärrt Richtung Küche: »Ich will aber Tee haben.«

Das ist wieder typisch. Ich gehe mit dem Teller voll geschnittenem Bienenstich ins Wohnzimmer und lehne mich kurz an den Rahmen der Wohnzimmertür. »Prima, Jens. Dann gehst du jetzt rüber in die Küche und kochst Tee für die, die Tee haben wollen.«

Jens läuft leicht rot an, Susanne grinst, und Rosi guckt scheu.

Rosi gefällt mir nicht.

Nachdem Jens das Teewasser aufgesetzt hat und wir festgestellt haben, dass wir noch weitere Stühle zum Sitzen benötigen, lässt er sich nicht noch einmal lumpen. Außer Friedrich und Rosi kennt er sich von uns Kindern am besten aus und marschiert nach oben, um weitere Stühle zu besorgen.

Der Kaffee ist fertig, ich stelle die Kanne auf den Tisch und sehe aus dem Augenwinkel, wie Jens irritiert wieder in der Wohnzimmertür steht. Es fehlt immer noch ein Stuhl. Unsere Augen treffen sich, und er macht eine leichte Kopfbewegung Richtung Flur. Ich folge ihm in den Flur. »Abgeschlossen«, wispert er in unnachahmlich männlicher Art, sich möglichst kurzzufassen.

»Was ist abgeschlossen?«, zische ich zurück.

»Das Dachgeschoss. Ich wollte den letzten fehlenden Stuhl aus dem Dachgeschoss holen. Dort sind noch zwei Stühle. Geht aber nicht. Rosi hat es abgeschlossen.«

Ich blase kurz die Luft stoßweise durch die Nase und ziehe die Augenbrauen in die Höhe, so, wie ich es immer mache, wenn ich überrascht bin. Also eher selten bis gar nicht. Das »Warum?« liegt mir auf der Zunge, aber Jens würde mir das nicht beantworten können.

Ich werfe einen Blick über die Schulter zu den anderen, die sich auf die Küche und das Wohnzimmer verteilen. Niemand scheint etwas mitbekommen zu haben. »Kein Wort zu den anderen hier, Rosi wird ihre Gründe dafür haben«, flüstere ich meinem Bruder zu.

Er nickt. Wir haben zwar keine Antwort auf das »Warum?«, aber wir werden Rosi sicher nicht bloßstellen. Ihre Entscheidung, fertig.

In all dem Organisationsgewusel der Kaffeetafel stehe ich gerade in der Küche und sehe durch das Küchenfenster, dass Dagmar kommt. Sie bringt ihren jüngsten Sohn Claudius mit. Als Dagmar klingelt, will Arthur sich auch nützlich machen. Er geht die Tür öffnen, um Dagmar zu begrüßen. Arthur ist nur wenige Sekunden schneller als Michael.

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