Kitabı oku: «Glasglockenleben», sayfa 7
Schön wäre es, wenn das das einzige Problem wäre. Ich betrachte die Mappen und Blattsammlungen näher, die mir im Februar auch schon aufgefallen sind. Auf Tischchen, Kartonstapeln, Stühlen, überall liegen Loseblattsammlungen herum. Rechnungen, Arztberichte, Verträge. Friedrich hat vermutlich seit mindestens 30 Jahren keine Ablage mehr so gemacht, dass man sich da zurechtfinden konnte. Kein Wunder, dass Rosi schimpft, wenn sie eine Mahnung bekommt und die Originalrechnung nicht finden kann. Aber das heißt ja eigentlich, dass Friedrich bis vor dem Krankenhausaufenthalt noch nach hier oben gegangen sein muss …
»Fass bloß nichts an! Im Moment kann mir Friedrich wenigstens aus der Erinnerung sagen, welche Unterlagen ich wo suchen muss. Wenn du das durcheinanderbringst, bin ich aufgeschmissen«, hallen in mir Rosis Worte nach. Es ist niederschmetternd. Das Dachgeschoss ist inzwischen so verwohnt, wie es der Hobbykeller ohnehin schon immer gewesen ist.
Teufelchen: »Na, das kann ja heiter werden.«
Mein Blick streift weiter durch den Raum. Neben einem der Schreibtische, wo auch der XP-Rechner und der Drucker stehen, befindet sich ein Papierkorb, der einige zerrissene Papierseiten enthält. Auf der Schreibtischecke liegen weitere Papierstapel. Auch das sieht so aus, als ob Friedrich morgen wieder hier hochkommen werde, um die Papiere weiter auszusortieren und in den Papierkorb zu werfen. Das wird aber nie wieder passieren. Sicher ist es für Rosi harter Tobak, sich hier jetzt einen Überblick zu verschaffen, vor allem über die notwendigen Dinge wie Rechnungen und Verträge. Die Zeiten sind schon längst vorbei, dass es sich Rosi und Friedrich hier oben gemeinsam vor dem Fernseher gemütlich gemacht haben.
Das Bild verschwindet aus meinem Kopf: Rosi im Schaukelstuhl mit Strickzeug in den Händen, Friedrich auf einem bequemen Sessel beim Nachrichtengucken.
Der uralte Fernseher als Erbstück meiner Großmutter steht immer noch auf diesem Eckschränkchen. Ob der überhaupt noch funktioniert? Ein Niesen wegen des Staubs macht sich in mir breit. Wenn es nach mir ginge, würde ich schon ganz gerne eine Bulldozer-Taktik anwenden und hier einfach Luft zum Atmen schaffen. Wegwerfen, was überflüssig ist. Ich bin schon seit vielen Jahrzehnten keine Freundin davon, alles aufzuheben. Ich bevorzuge es seit jeher, meine Unterlagen in Ordnern mit wiederauffindbaren Beschriftungen auf Rückenschildern in meine Regale zu stellen, sodass sich auch Michael inzwischen blind dort zurechtfindet. Einen Keller zum Ansammeln von überflüssigem Zeug gibt es bei uns nicht, und Michael weiß genau, dass alles, was in unserem Stauraum im Dachgeschoss landet, für mich nicht mehr existiert. Das einzig Existente in unserem Dachgeschoss ist für mich die Steuerungsanlage für unsere Satellitenanlage. Damit kann ich mich identifizieren, ich habe die Sat-Schüssel beauftragt und den Aufbau persönlich überwacht.
Ist mein Grusel-Gefühl in Bezug auf die Ansammlung für mich unnützer Sachen ein Ergebnis meiner Kindheitserfahrungen, obwohl ich schon so früh ausgezogen bin? Zeitgleich mit meinem Beschluss, hier für heute genug gesehen zu haben, höre ich wie in Kinderzeiten Rosis lautes Rufen aus der Küche. »Anjaaa! Essen ist fertig! Kommst du?«
Es ist unbestritten, dass Friedrich sich nicht von einem einzigen Buch in diesem Haus trennen kann, welches er nicht persönlich in Hände geben kann, die es wertschätzen. Friedrich ist jetzt aber im Krankenhaus und wird auch in Zukunft ein bisschen machtloser als früher sein, wenn es um seine Bücher geht.
»Wir werden nicht ein einziges Buch ohne seine Zustimmung entfernen«, lautete Rosis Ansage diesbezüglich.
Natürlich würde ich das nie tun.
»Ich würde gerne wenigstens die Bücher im Dachgeschoss loswerden, aber ich habe Angst, dass Friedrich das ins Grab bringt.« Rosis Meinung, die ich teile und somit akzeptiere.
Rosi hat im Krankenhaus trotzdem den Ansatz versucht: »Friedrich, wir müssen aufräumen! Die Bücher im Dachgeschoss können wir doch einfach wegbringen.«
Friedrich ist daraufhin unruhig geworden, und sein Wissen um seine physische Machtlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Gesichtsausdruck hieß Angst. Es hätte fast Zoff zwischen Rosi und Friedrich gegeben.
Das machte keinen Sinn, und so habe ich als Kompromiss vorgeschlagen: »Wir müssen nur sortieren und können auch ein paar Bücher hinter den Dachschrägen verstauen.« Nie im Leben würde ich persönlich die Bücher hinter Regalwänden im Dachgeschoss verstauen. Aber so, wie die Lage war, galt es, Frieden zu stiften. Es brachte nichts. Ich hatte eine eigene Vorstellung, wie es laufen könnte, aber ich war nur Gast. Und ich würde ganz sicher nicht ändern können, was zwischen meinen Eltern schon immer gelaufen ist. Ich mache deren Probleme nach wie vor ganz sicher nicht zu meinen eigenen.
»Rosi, ich mache mich dann mal auf den Weg ins Hotel.« Wir haben die aufgewärmte Gulaschsuppe gegessen, Rosi hat mir am Nachmittag die vielen Ecken im Haus gezeigt. Ich bin müde und habe in den letzten Monaten zu wenig Schlaf bekommen. Ich habe immer noch keine Meinung darüber, welche Rolle ich hier spielen kann. Rosi und Friedrich haben sich mit dem eigenen Haus einen Traum erfüllt. Es ist zwar »nur« das vordere Reihenendhaus in einer Sechser-Reihenhauskette geworden, aber das ist schon viel mehr, als es andere aus der Nachkriegsgeneration geschafft haben. Ich war beim Einzug sieben Jahre alt, und wir Kinder bekamen in der linken Gartenecke einen Sandkasten, den wir im Sommer so mit Wasser fluteten, dass wir uns eine Fahrt an die Ostsee sparen konnten. Das Bild meiner Erinnerung enthält Rosi und Friedrich in Gummistiefeln, während sie den Garten anlegten. Ein eigenes Zuhause mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten für uns Kinder war Rosi und Friedrich wichtig.
Aber jetzt waren die Kinder groß und außer Haus. Das, was blieb, war ein Haus mit nicht allzu großer Grundfläche, das eher in die Höhe gebaut worden war. Diese steilen Treppen! Früher haben Rosi und Friedrich ganz sicher nicht daran gedacht, dass das vielleicht im Alter ein Problem bedeuten könnte. Auch die kurze Überlegung, vielleicht das Erdgeschoss so umzubauen, dass man dort einen Schlafraum einrichten könnte, habe ich schnell wieder verworfen. Selbst, wenn man das täte, würde ein ausreichendes Badezimmer fehlen. Vorne im Flur gleich neben der Haustür ist nur dieses Mikro-Gäste-WC, in dem sich dicke Leute nicht umdrehen können. Immerhin sind heute sowohl Rosi als auch Friedrich nicht mehr dick.
Internet ist nicht für jedermann
Mittwoch. Mein eigenes Bild von mir wird mir heute Morgen beim Frühstück im Frühstücksraum des Hotels wieder einmal bewusst. Ältere Frau in Jeans und bequemem Pullover sitzt allein am Frühstückstisch, trinkt geistesabwesend Kaffee und starrt auf ihr Smartphone. Mein Friseur sorgt dafür, dass meine Haare immer noch blond sind. Graue Haare habe ich noch nicht, aber meine Haare werden immer dunkler. Mein Schwedenblond von früher ist auch längst Schnee von gestern.
Um mich herum springen wieder die Wichtigen und die weniger Wichtigen. Die Wichtigen sind die Anzugträger, zu denen ich hier nicht gehöre. Meine Anzüge parken im Kleiderschrank, und das wichtige Utensil Firmenlaptop gebe ich Ende des Monats beim alten Arbeitgeber ab, um Anfang nächsten Monats einen anderen vom neuen Arbeitgeber zu bekommen. Ich persönlich gebe weniger auf fremd-definierte Statussymbole, und mir ist es herzlich egal, ob ich mit dem Papst zu tun habe oder mit irgendwelchen sonstigen vermeintlichen Größen, die auch nur mit Wasser kochen. Ich bin niemandem gegenüber ehrfürchtig. Ich finde es wichtiger, dass ich mich auch über Kleinigkeiten wie eine blühende Pflanze freuen kann, und nicht an jedem meiner Klamotten ein JOOP-, Hugo-Boss- oder Versace-Label pappen muss.
Ich checke meine privaten E-Mails über mein Smartphone und bekomme kurz einen erhöhten Pulsschlag. Wie erwartet geht der Horror wegen der noch ausstehenden Bezahlungen meiner Reisekosten bei meinem alten Arbeitgeber weiter. Die E-Mail-Längen wachsen mit Rückfragen, die ich ohne meine Aktenordner nicht beantworten kann. Die Aktenordner stehen zu Hause, und ich bin in Braunschweig. Ich fühle mich machtlos, und das macht es mir schwer, die Lösung meiner eigenen Aufgaben zu unterdrücken und hierzubleiben. Das blinkende Anrufsymbol überdeckt auf einmal die E-Mails.
Es ist wie so oft. Rosi und ich sind heute um neun Uhr verabredet. Es ist jetzt halb neun. Es ist Rosis Nummer, die auf dem Display erscheint. Ich habe zwar tatsächlich die Festnetznummer von Rosi und Friedrich in der Android-Cloud gespeichert, aber diese Nummer aus meiner Kindheit ist eine der wenigen Nummern, die ich mir nicht bewusst merken muss, weil sie für immer in meinem Langzeitgedächtnis abgespeichert ist. Es ist eine Nummer aus den Zeiten, wo man sich Telefonnummern noch merken musste.
Rosi wünscht mir keinen guten Morgen. »Wann kommst du?«
»Ich bin gerade auf dem Weg zum Auto und werde wie besprochen um neun Uhr bei dir sein.« Natürlich ist es gelogen – das mit dem Weg zum Auto. Ich schiebe die Kaffeetasse zur Seite, fluche kurz über meine Rückenschmerzen und begebe mich tatsächlich auf den Weg zum Auto.
Heute müssen wir unbedingt die Beantragung des Treppenlifts und der anderen Gehhilfen finalisieren. Wenn der Antrag der Pflegestufe eins durch ist, müssen wir vorbereitet sein. Die Krankenkassen erstatten erst, wenn die Pflegestufe genehmigt ist. Die Anträge insgesamt erinnern mich an ein Zeitalter vor dem Computer. Mal ehrlich, wer von den heutigen Kids kennt noch dieses dünne, pergamentartige Papier in dreifacher Lage, welches in jeder Lage mit einem Durchschlagpapier unterlegt ist? Das sogenannte Kohlepapier habe ich gestern oben im Dachgeschoss auch gesehen. Geschwärzte Folie, die bei Druck mit dem Kugelschreiber oder der Schreibmaschine die schwarze Farbe auf das Papier darunter abgibt, also quasi eine Kopie erzeugt. Ich habe eines der Kohlepapiere aus der Schachtel gehoben, und es ist mir in den Fingern zerbröselt. Irgendwie auch sinnbildlich zerbröselt. Das Kohlepapier war Rosis Welt.
Heute nimmt man einen Kopierer oder einen Scanner. Die Generationen nach mir werden irgendwann fragen, was eine Tastatur ist. Steve Jobs war es, der das Novum der Touch-Screens beim iPhone präsentieren durfte. Was damals revolutionär war, ist heute schon eine Selbstverständlichkeit, und auch ich neige inzwischen intuitiv dazu, auf jeden Bildschirm erst einmal mit dem Finger zu tippen, nur, um dann enttäuscht zu sein, wenn nichts passiert.
Friedrich hat mich durch die Großrechnerräume seines Arbeitgebers in der Forschungsanstalt geführt, als ich noch klein war. Das Auslesen von Lochkarten kenne ich nun nicht mehr, aber Friedrich hat mich in den Raum geführt, in dem riesige Türme standen, die monströs im Raum aufragten und mit ebenso riesigen Geräten gekühlt werden mussten. Dann ist er im Auftrag der Hardthöhe nach El Paso geflogen. Hardthöhe, ein Stadtteil von Bonn. Bundesministerium für Verteidigung. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er an der Berechnung von Raketenabwehrsystemen gearbeitet. Irgendwann hat er festgestellt, dass er nicht für militärische Zwecke arbeiten wollte, und diese Aufgabe hingeschmissen. Friedrich ist immer sehr stolz darauf gewesen, nach dem Krieg einer der wenigen Mathematiker mit dem Spezialgebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen zu sein. Die Zeiten der Großrechnerräume sind längst vorbei. Heute sprechen wir nicht mehr von Megabyte, sondern von Terrabyte. Oder sogar schon von Petabyte.
Ich weiß, dass Friedrich vor einem halben Jahr einen Windows-7-Laptop gekauft hat. Auch er weiß, dass XP aus der Wartung läuft, und außerdem möchte er mit einem Laptop flexibler sein. Mein Blick ist auf den Drucker gefallen. Der hängt per LAN direkt am XP-Rechner und ist somit nicht drahtlos ins Netzwerk eingebunden. Er ist noch nicht WLAN-fähig. Ich habe gesehen, dass der Internetrouter in Rosis Arbeitszimmer im ersten Stock auf der Fensterbank vor dem Balkon steht. Also muss der Drucker auch dorthin, damit wir ihn per LAN als Netzwerkdrucker einrichten können. Denn über eines bin ich mir ziemlich sicher: Wir werden in der nächsten Zeit viel Schriftverkehr erledigen müssen, und zwar über den Windows-7-Laptop.
»Rosi, wo ist denn der Laptop? Kannst du mir den mal geben?«
Allein Rosis suchender Blick verrät schon, dass der Laptop in irgendeiner Schublade verschwunden und gar nicht so richtig in Benutzung ist. Tatsächlich zieht Rosi ihn aus einer Schublade, und glücklicherweise ist das Ladegerät auch dabei. Eine Maus dazu gibt es nicht. Ich werde am nächsten Morgen beim Elektronikladen vorbeifahren und eine kaufen. Mit Maus geht es bei mir schneller, aber wenn es sein muss, komme ich auch mit dem Touch-Panel klar.
Wieder bin ich wenig überrascht, dass auf dem Laptop nahezu nichts installiert ist. Rosi und Friedrich haben seit Jahren jemanden hier aus dem Stadtteil, der sie bei Elektro- und Elektronik-Angelegenheiten unterstützt: Thomas. Der hat vermutlich die Initialkonfiguration gemacht, und das war’s. Das ist natürlich auch nicht im Zeitplan enthalten, aber ich muss wohl oder übel zuerst den Laptop mit dem Internet verbinden, dann eine Firewall und einen Virenscanner darauf einrichten und im nächsten Schritt die ganzen Updates installieren. Ich fackele nicht lange, implementiere über mein eigenes Konto das Firewall- und Antivirenpaket für zwei Jahre und sage Rosi nichts von den Kosten dafür.
Dann ist es so weit. Rosi will ja Computern lernen. Der Laptop läuft, und es kann losgehen. Ich klappe den Laptop auf und beginne, Rosi eine Welt zu erklären, mit der sie sich nie selbst beschäftigt hat: Die virtuelle Welt.
»Wieso kannst du auf meinem Laptop deine E-Mails lesen?«, fragt meine Mutter.
Ich nehme eines der Klemmbretter von Friedrich, auf denen die Papiere sind, die rückseitig schon beschrieben sind. Man kann ja die unbeschriebene Seite noch benutzen. Im Dachgeschoss habe ich viele blütenweiße originalverpackte DIN-A4-Druckerpapierpakete gesehen, die Rosi und Friedrich mit der Vorgehensweise der doppelseitigen Verwendung alter Papiere niemals aufbrauchen werden. Die beschriebenen Rückseiten stammen noch aus Zeiten der Nadeldrucker. Und diese werden erst aufgebraucht, bevor es an das neue Papier geht.
Ich male mit meinem eigenen Kugelschreiber oben eine Wolke hin. Unten male ich links einen Computer hin und schreibe »Anja« darunter. Unten rechts male ich wieder einen Computer und schreibe »Rosi« darunter. Von Rosi wandert nun ein Pfeil in die Wolke mit einem gemalten Briefumschlag. »Egal, wo ich bin, wenn ich Internetanschluss habe, kann ich den Brief jetzt von überall aus der Wolke holen.«
Rosi wird unruhig und versucht, sich zu konzentrieren. »Ach so. Wolken.« Ihre Wangen sind nach meinen wenigen Erklärungen schon angestrengt rosig.
Engelchen: »Es ist verdammt viel verlangt, dass Rosi sich in ihrem Alter neu mit der virtuellen Welt beschäftigt. Aber das muss sie selbst herausfinden. Sie will Computern lernen.«
»Das habe ich mir einfacher vorgestellt«, sagt Rosi nach kurzer Zeit. »Ich dachte, man schaltet das Ding an und legt los.« Damit hat sie recht.
Man schaltet an und legt los. Die Internetseiten »leben«, sie verändern sich.
Rosi schaut irritiert auf das Aufblinken der Anweisung rechts unten, Updates herunterzuladen. »Das sieht ja jedes Mal anders aus!«, ruft sie entsetzt.
Mein Herz sinkt. Nein, Internet ist keine Kaffeemaschine, deren Schalter man anstellt, damit dann der Kaffee durchläuft. Ich habe eine falsche Hoffnung mitgebracht. Rosi hat sich niemals mit Computern beschäftigt und schon gar nicht mit dem Internet.
Inzwischen schaut Rosi mich unruhig von der Seite an. Irgendwie merke ich, dass ihr etwas auf dem Herzen liegt. Ich sehe, dass sie ein wenig mit sich kämpft. Sie steht dann aber doch auf, um zu den Regalen unter der Dachgeschosstreppe zu gehen. Rosi hat mir gesagt, dass dort in den Diplomatenkoffern mit Nummernschloss alle wichtigen Dokumente liegen. Vor uralten simplen Regalen sind diese Jalousien mit den Lamellen angebracht, die man eigentlich zum Sonnenschutz innen an Fenstern anbringt. Sie zieht den roten Koffer heraus, dreht die Nummernschlösser ein wenig und zieht nach dem Aufschnappen des Koffers einen Ordner heraus. Auch rot. Mit einem aus dem Ordner gezogenen DIN-A4-Zettel mit handschriftlichen Notizen schaut sie mich schräg an. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Wir müssen auf die Konten gucken«, sagt sie plötzlich.
Ich muss kurz die Luft anhalten. Rosi ist auf ihre Art phänomenal. Sie will nicht Computern lernen, weil sie Briefe schreiben will, sondern weil sie ihre finanzielle Lage im Blick haben will. Sie hat ein Ziel.
Ich erinnere mich, dass Friedrich vor vielen Jahren einmal stolz am Telefon erzählt hat, dass er alle O-Bankkonten auf Online-Banking mit dem PIN-Verfahren per Handy umgestellt hat – übrigens lange, bevor ich selbst auf Online-Banking umgestiegen bin. Ich fühlte mich damals davon beeindruckt. Irgendwann hieß es, Friedrich habe alle Konten auf Online-Banking umgestellt. Umso beeindruckter war ich gewesen.
Rosi ist insofern phänomenal, weil sie vielleicht nicht selbst die Online-Portale bedienen kann, aber zumindest durch Hörensagen weiß, was Sache ist.
Rosi schiebt mir den Zettel hinüber. »Das sind unsere Konten, und ich würde gerne mal draufschauen.«
Das DIN-A4-Blatt enthält die Auflistung aller Konten, Benutzernamen und Passwörter. Sie lächelt ein wenig. Teilweise sind die Ziffernkombinationen durchgestrichen und durch eine andere Zahlenreihe ersetzt worden. »Friedrich hat aus Sicherheitsgründen die Zahlenkombinationen rückwärts aufgeschrieben. Eine Neun bedeutet eine Eins, eine Acht eine Zwei und so weiter. Ich habe irgendwann die richtigen Zahlen danebengeschrieben, weil mir das zu anstrengend war.«
Ich habe weder einen Plan für die Konten von Rosi und Friedrich, noch wollte ich den je haben. Ich werfe wertneutral einen Blick auf den Zettel und stelle viele Konten fest. Trotzdem bleibt mein Blick gemeinsam mit Rosis deutendem Finger an einem Konto kleben.
»Das ist das Konto, auf das wir Dagmar seit Jahren jeden Monat Geld für ihre Kinder überweisen.«
Ich erinnere mich. Rosi hat es mir gegenüber vor ein paar Jahren einmal am Telefon erwähnt. Zugegebenermaßen hat mich diese Mitteilung damals tatsächlich ein bisschen getroffen. Rosi und Friedrich haben auch mich in meiner Jugendfindungsphase gemäß ihrer begrenzten Mittel finanziell unterstützt – unbestritten. Danach aber nie wieder. Mein Studium habe ich mir selbst finanziert. Meine Führerscheine auch. Als ich auszog, hatte ich nicht einmal einen Kühlschrank. Ich habe es überlebt und zu kämpfen gelernt.
Rosis Finger wandert weiter. »Das ist das Konto für Jens.« Rosi lächelt. »Da ist nicht mehr viel drauf. Wir haben Jens nur während seiner Klage gegen die Berufsgenossenschaft nach seinem Unfall unterstützt.«
Erneut schlucke ich meine komischen Gefühle demgegenüber hinunter. Vieles in der Vergangenheit habe ich einfach weggewischt. Eigentlich will ich mich nicht damit auseinandersetzen, dass Jens und Dagmar so viele Jahre ihre Konten gefüttert bekommen haben. Ich sage natürlich nichts zu Rosis Ausführungen. Aber dieser Moment bringt mich erneut zur Erinnerung, wie das damals war, als ich lieber in dieses Ameisen-Kellerloch ohne Kühlschrank zog, als noch länger zu Hause zu bleiben. Damals fand ich es im ersten Moment cool, endlich meine Ruhe zu haben. Kein Zoff mehr mit Rosi. Ich habe mein Leben selbst in (Un-)Ordnung gebracht. Mit siebzehn Jahren. Ich habe Partys gefeiert, dann jedoch schnell die Sorglosigkeit der Jugend verlernt, wenn mich der Hunger übermannte und meine Geldbörse leer war, obwohl ich schon mit sechzehn Jahren angefangen hatte, in einem Café zu jobben.
Während Rosis Finger auf Dagmars und Jens’ Konto ruht, fällt mir sofort wieder ein, wie ich damals meine letzte D-Mark zum Kiosk gegenüber geschleppt habe, um mir eine Tüte Katjes zu kaufen. Die Hartlakritze, die das Hungergefühl übertölpelten, weil der Mund lange damit beschäftigt war, die Lakritze aufzulösen. Weiß Rosi das eigentlich? Ist ihr eigentlich klar, dass es mich Überwindung kostet, ihr nun zu helfen, nachdem sie mich damals hinausgetrieben und mir ganz sicher nicht geholfen hat? Wie sehr orientiert sich Rosi an ihren Lebensrastern, Menschen in gut und schlecht einzustufen? Menschen, die tun, was sie will, die waren schon immer gut. Bin ich jetzt gut, weil ich tue, was Rosi will? Will sie denn Unterstützung? Will ich denn unterstützen?
Es fühlt sich auch heute noch bitter an, dass damals in meiner ärmsten Zeit mein Wecker kaputtgegangen ist und ich nicht wusste, wovon ich einen neuen kaufen sollte. Ich brauchte ihn dringend, denn ich hatte ohnehin schon viel zu oft verschlafen und war entweder gar nicht in der Schule oder zu spät.
Rosis Finger auf Dagmars und Jens‘ Konten erinnert mich schmerzhaft an die Zeit, in der ich vor Hunger nicht mehr wusste, wie ich mich verhalten sollte. Aber ich bin stur geblieben und habe mein Ding durchgezogen. Abnabelung. Ob Dagmar oder Jens jemals so ein Hungergefühl kennenlernen mussten? Sie hatten keinen regelmäßigen Nebenjob wie ich jeden Sonntag im Café gehabt. Waren es solche Dinge, die Eltern dazu bewogen, das eine Kind zu unterstützen und das andere nicht? Das eine – das bin ich – hat früh gelernt, für sich selbst zu sorgen und nicht zu fragen. Die anderen – Jens und Dagmar – hängen noch am Elternrock. Das sehe ich jetzt an den Konten.
»Friedrich hat im Laufe der Zeit bei der O-Bank nicht nur die Konten für Dagmar und Jens eingerichtet«, erreicht mich Rosis Stimme.
Mir erschließt sich nicht wirklich, warum ich jetzt helfen sollte. Ich muss mich zwingen, meine negativen Gedanken über die Vergangenheit zu verdrängen. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart und lächele Rosi an.
Engelchen: »Du bist hier, um deiner guten Erziehung Rechnung zu tragen. Du bist hier, um zu helfen.«
Teufelchen: »Zum Lächeln ist es aber nicht. Seit Anjas Geburt läuft es nur nach Berechnungen.«
Halt die Klappe!
Teufelchen: »Es ist doch so! Rosi wendet sich dir zu, weil sie erkennt, dass du ihr jetzt nützlich sein kannst.«
Rosi beobachtet mich haarscharf, während ich auf das Portal der O-Bank gehe und die PIN zum Giro-Konto eingebe. Es entgeht ihr also auch nicht, dass sofort ein Pop-up-Fenster mit einer Nachricht aufgeht. »Was ist das?«, fragt sie sofort, statt einfach zu lesen.
»Da steht, dass Kontoauszüge zur Verfügung stehen. Sie werden zum Ausdruck angemahnt.«
Rosi nickt kurz. »Friedrich hat irgendwann mal gesagt, er weiß nicht, wie das geht.« Unten auf dem Tisch liegt der Ordner mit den Kontoauszügen, die nach guter Manier einmal im Monat per Post eingehen. Immerhin.
»Friedrich bezahlt für den Postweg extra und schimpft jedes Mal darüber, weil er ja eigentlich Online-Banking macht«, fügt Rosi nach einer kurzen Pause nachdenklich hinzu.
Friedrich macht Online-Banking. Wohl eher nicht. Ich klicke kurz in die Übersicht der abzurufenden Kontoauszüge. Seit Anbeginn des Online-Bankings ist nicht ein einziger Auszug abgerufen worden. Irgendwie schräg. Offensichtlich reden sowohl Friedrich als auch Rosi über Dinge, die sie gehört haben, die ihnen erzählt worden waren. Es hört sich so an, als ob sie wüssten, worum es geht. Wissen sie aber nicht.
Wie leicht ist es eigentlich, bei einer Kontoeröffnung das Kreuzchen bei Online-Banking zu setzen, wenn der Bankberater (jung und mit dem Internet aufgewachsen) die Vorteile lobt? Sehr leicht, so ein Kreuzchen auf einem Papier. Ich kann es mir gut vorstellen, Friedrich hätte nie zugegeben, dass er nicht weiß, was das bedeutet und welche Möglichkeiten er damit hätte. Hätte.
»Rosi, mal eine Frage. Wie macht ihr eure Überweisungen?«
Rosi sieht mich verständnislos an. »Ich fülle den Überweisungsträger aus und trage ihn zur Post oder direkt zur Bank.« Sie denkt kurz nach. »Friedrich hat mal gesagt, dass wir bei der O-Bank bei Online-Banking eine SMS bekommen und dann mit einer PIN überweisen könnten. Aber das haben wir nie gemacht.«
Neben dem Girokonto bei der O-Bank gibt es sechs Sparkonten. Sechs. Eines für Dagmar, eines für Jens und vier weitere. »Wofür habt ihr denn so viele Sparkonten?«
Rosi zuckt mit den Schultern. »Friedrich will das so. Er nennt es unsere verschiedenen Sparstrümpfe. Sie sind für verschiedene Zwecke bestimmt«, schließt sie, ohne mir die Zwecke zu nennen, und ich hake natürlich nicht nach. Ihre Sache.
Das Girokonto scheint pro Monat durch einen Dauerauftrag 1.000 Euro von einem Girokonto der D-Bank zu erhalten. Früher war es nämlich nicht möglich, ein Girokonto zu eröffnen, wenn es keinen regelmäßigen Zahlungseingang erhielt. Heute ist das zumindest bei manchen Banken keine Bedingung mehr. In der Summe dümpeln auf den O-Bankkonten rund 20.000 Euro herum, und es ist nun für mich keine Frage mehr, dass Rosi nicht nur den Treppenlift will, sondern ihn auch bezahlen kann. Ich habe mich nie für die Finanzen der beiden interessiert. Das ging mich ja auch nichts an. Rosi hat nur ein paarmal am Telefon erwähnt, dass das Haus inzwischen fast schuldenfrei ist.
Die Notizen auf dem DIN-A4-Zettel sind noch nicht zu Ende. Wir gehen auf das Girokonto von Friedrich bei der D-Bank. Auch der Zugang klappt. Rosi ist Bevollmächtigte, aber Inhaber ist Friedrich. Es ist das Konto, auf dem alle aktuellen Angelegenheiten, zum Beispiel Renten- und Versicherungsbeiträge, geregelt werden. Ich erinnere mich, dass Rosi und Friedrich die Anzahl der Konten verschlanken und von der D-Bank weggehen wollten. »Stell dir aber mal vor … Ach nee, das ist viel zu sensibel, die Rentenkassen sind zu kompliziert, und wenn wir das Konto ändern, bleiben die Zahlungen aus.«
Also blieb das D-Bankkonto von Friedrich bestehen.
Ich sehe die 1.000 € für das Girokonto der O-Bank monatlich als Abbuchung. Aber ich sehe darüber hinaus weitere 1.000 € als monatliche Überweisung auf ein anderes D-Bank-Girokonto. Mit einem Blick auf den Papierzettel sehe ich, dass es Rosis Konto bei der D-Bank ist. Rosi ist Kontoinhaberin. Darüber hinaus sehe ich eine zweiwöchentliche Abbuchung von 1.000 Euro pro Monat, die auf ein C-Bank-Girokonto gehen. Mit erneutem Blick auf den Papierzettel sehe ich, dass es Rosis Konto bei der C-Bank ist. Rosi ist Kontoinhaberin. Das sind 3.000 Euro pro Monat im Kreisverkehr. Ich zähle nochmals im Geiste nach. Das sind in der Summe vier Girokonten und sechs Sparkonten. Während wir alle Konten nacheinander aufrufen und die Auszüge ausdrucken, fühlt Rosi sich offensichtlich zu einer Erklärung gedrängt. »Das bei der C-Bank ist mein Haushaltsgeld. Und das auf der D-Bank soll meins sein, falls Friedrich etwas passiert.«
Als wir fertig sind, muss ich erst einmal nach draußen gehen, um eine zu rauchen. So ist es also mit der Wahrheit. Friedrichs Worte der letzten Monate hallen in mir nach: »Alles okay, wir kommen klar.«
Wieder kommen mir auch Dagmars Worte in den Sinn: »Was soll sich denn nach Friedrichs Krankenhausaufenthalt an seiner und Rosis Situation verändert haben?«
Es fühlt sich komisch an. Natürlich ist es nach dem Krankenhausaufenthalt anders – aber tatsächlich nicht so sehr anders, wenn ich nun daran denke, dass Rosi und Friedrich auch vorher schon Hilfe benötigt hätten. So gesehen ist tatsächlich nicht so viel anders.
»Ich finde es gut, wenn ältere Menschen sich mit der digitalen Welt auseinandersetzen.« Engelchen.
»Na toll. Und warum rennen sie dann trotzdem noch zur Post, um Überweisungen in Papierform wegzubringen?« Teufelchen.
Donnerstag. Morgens habe ich die Maus für den Laptop und eine externe Festplatte besorgt, um die Daten vom XP-Rechner zu speichern, damit wir den Rechner verschrotten können. Wir besuchen wieder Friedrich im Krankenhaus. Ich erzähle von unseren Aktivitäten mit dem Laptop und dass wir den Drucker auch ins Erdgeschoss bringen wollen. Von meinem Plan, den XP-Rechner zu verschrotten …
»Super, dann kann ich ja mobil mit dem Laptop arbeiten, wenn ich wieder zu Hause bin. Aber den XP-Rechner will ich auch im ersten Stock haben.«
»Friedrich, ich kann dir den Inhalt vom XP-Rechner auf einer externen Festplatte speichern. Du hast dann über den Laptop Zugriff auf alles.«
Friedrichs Misstrauen dem gegenüber ist nicht wegzureden. Er will unbedingt den XP-Rechner im ersten Stock haben, und Rosi ist sauer.
Auf dem Rückweg macht sie ihrem Ärger Luft. Da der Internetrouter im Balkonzimmer steht, ist klar, dass die Computerperipherie ebenfalls dorthin muss. Zumindest der Drucker und der XP-Rechner, die noch kein WLAN kennen. »Das Balkonzimmer ist mein Zimmer. Immer schon gewesen. Warum soll ich das jetzt auch noch an ihn abtreten? Friedrich hat schon den Keller und das Dachgeschoss verhunzt. Und nun soll ich ihm mein Arbeitszimmer abtreten?«
In der Theorie würde ich persönlich jetzt mit Friedrich verhandeln. Rosi bekommt das Dachgeschoss und Friedrich das Balkonzimmer. Dafür muss aber die Unordnung aus dem Dachgeschoss verschwinden und damit auch die Bücher dort oben. Aber Friedrichs Halsstarrigkeit in Bezug auf seine Bücher verurteilt das von vornherein zum Scheitern. Sie müssen sich einigen. Rosi und Friedrich. »Rosi, Friedrich hat in der Garage Holzplatten, mit denen wir den Schreibtisch im Balkonzimmer vergrößern könnten. Dann würde alles, was Friedrich haben möchte, dorthin passen. XP-Rechner, Monitor, Tastatur, Laptop und Drucker.«
Typischerweise für Rosi und Friedrich hatten sie noch den Kinderschreibtisch von Dagmar behalten. Meinen hatte ich vor vielen Jahren mitgenommen, ihn frustriert zum Aufpeppen mit bunter Folie beklebt und ihn dann vor vielen Jahren mit dem Sperrmüll entsorgt. »Rosi, du bestimmst.«
Knurrend stimmte Rosi zu, dass ich die Arbeitsplatte aus der Garage in ihr Balkonzimmer schleppe.