Kitabı oku: «Kein Durchkommen»
Bohnet Pleitgen
Kein Durchkommen
Ariadne Krimi 1183
Argument Verlag
Ariadne Kriminalromane
Herausgegeben von Else Laudan
Bohnet Pleitgen bei Ariadne:
Freitags isst man Fisch
(Ariadne Kriminalroman 1177)
Kein Durchkommen
(Ariadne Kriminalroman 1183)
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2010
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
Foto: © Vangardiner (alle Rechte vorbehalten)
Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik
Satz: Iris Konopik
ISBN 9783867549486
Erste Auflage 2010
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Für Doris und Ulrich
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Dramatis personae
Corvus
Prolog
Schlag ins Kontor
In patriotischer Gesellschaft
Unterwegs
Die Nachricht
Blindes Treffen
Morgengefühle
Großraumtaxi
Die Gruppe
Wohngemeinschaft
Die Wetterwette
Chaosforschung
Vier- und Marschlande
Attacke
Gruppen-Meeting
Im Garten Eden
Die Simulation
Ruhe vor dem Sturm
Rausch
French Chris at the Drive-In
Verstrahlung
Die letzte Besprechung
Die Anfahrt
In der Maske
Der große Showdown
Die Meute
Epilog
Danksagung
Weitere Werke
Dramatis personae
Nikola Rührmann (31) | promovierte Physikerin, notorisch neugierig |
Asphalt-Wilfried (37) | Journalist und Hedonist, stets auf Freiersfüßen |
Taxi-Christian (34) | Chauffeur mit akutem Liebeskummer |
Jan N Punkt (35) | Familienvater mit Nase für Verschwörungen |
Edu (77) | Niks Großvater: lange tot, aber allgegenwärtig |
Hauswirt (62) | Katzen- und Blumenfreund, Vertreter des Alltagsverstands |
Arbeitsgruppe am Geomatikum: | |
Prof. Dr. Udo Rindeck (54) | Renommierter Klimaforscher, Chef der Gruppe |
Dr. Thomas Paulsen (33) | Post-Doc und Mitglied des Chaos Computer Clubs |
Miko Landau (28) | Doktorand, telefoniert ständig |
Dorothea Weber (25) | Diplomandin, skeptisch und manipulativ |
Gerd Najen (26) | Computerexperte, spurlos verschwunden |
Jörg Held (25) | Nikolas Diplomand, hadert viel |
Helmut Berger (27) | Nikolas Doktorand, Optimist |
CORVUS | Deutsch-spanischer Satellit, soll wissenschaftliche Daten senden |
Anglistik-Andreas (32) | Neogeologe und Fahrstuhlfahrer |
Yuri Smirnoff (69) | Mathematiker, Spanienkämpfer (1914–83) |
Dr. Franz Seeler (44) | Fernsehmoderator und Wetterfrosch |
Torge (36) | Mädchen für alles und Mann fürs Grobe |
Henri (20) | guest-user auf dem Instituts-Server, ist ganz anders als erwartet |
Corvus
Als sich, gesprächiger Rabe,
Dein weißes Gefieder
In ein schwarzes verfärbte.
Ja, einst war das Gefieder
Des Vogels weiß,
Schneeweiß wie das der Taube,
Vom fleckenlosen Glanz
Des Gefieders der Gänse,
Die das Capitol erretteten
Mit ihrem wachsamen Geschnatter.
Weiß wie das Gefieder
Des Schwans,
Der die Wellen der Flüsse liebt.
Die Zunge, sie schadete dir,
Die geschwätzige Zunge, sie war es,
Die das Weiß des Gefieders
Ins Schwarze verkehrte.
(frei nach Ovids Metamorphosen)
Prolog
Sonntag, der 7. November, 7:21 Uhr
Mit der Geschwindigkeit von siebentausend Metern pro Sekunde fliegt der Satellit auf seiner Umlaufbahn um die Erde. Sein Weg führt von der Nachtseite des Planeten über die Arktis, über die Insel Spitzbergen nach Europa und weiter Richtung Süden. Wäre Norddeutschland in dieser Nacht nicht eingehüllt in eine dicke Wolkendecke, könnte der Mann von seinem Fenster aus beobachten, wie sich der Satellit aus dem Erdschatten bewegt und als heller Lichtpunkt über das Firmament zieht, angestrahlt vom Sonnenlicht, das für das Land darunter schon zu einem neuen Tag gehört, zu einem Tag, von dem er weiß, dass er ihn nicht mehr erleben wird.
Er steht in der Mitte des Raums und hält ein Abschleppseil in den Händen. Er streckt die Arme zur Decke, um das Ende des Seils durch eine Öse zu stecken. Es fehlen ihm nur ein paar Zentimeter. Die Spleiße des Seils sind aufgegangen, er bekommt es nicht durch die Öse. Der Schweiß läuft ihm runter. Mit einem Stuhl wäre es ein Kinderspiel. Hier gibt es aber keinen. Hier gibt es gar nichts mehr. Entmutigt lässt er die Arme sinken. Er schaut sich um. Das Fensterkreuz? Zu niedrig. Verdammt, die Öse an der Decke, die wäre es gewesen. Er ist klein und zierlich, das reinste Fliegengewicht, die Öse hätte ihn gehalten. Dass ein paar Zentimeter über Leben und Tod entscheiden sollen, erscheint ihm völlig absurd.
Auf dem Weg über den Atlantik überquert der Satellit die Südspitze Englands und läuft aus dem Sichtfeld Nordeuropas. COnvection, Rotation and Visualization of Underground-Satellite, kurz CORVUS, ein wissenschaftliches Projekt der europäischen Raumfahrtbehörde ESA unter besonderer Beteiligung der Länder Deutschland und Spanien. Der fünfhundert Kilogramm schwere Satellit wurde am 13. Juli 1999 um 16:23 Uhr mitteleuropäischer Zeit von einer russischen Sojus-2-Rakete vom Weltraumbahnhof Baikonur in eine polare sonnensynchrone Erdumlaufbahn gebracht. In einer Höhe von neunhundert Kilometern, dem sogenannten Low Earth Orbit, umkreist CORVUS seit nunmehr vier Monaten alle hundert Minuten die Erde.
Der Mann stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht es noch einmal. Vergebens. Er bekommt das Seil nicht durch die Öse. Er setzt sich auf den dreckigen Boden und starrt erschöpft vor sich hin. Er lauscht dem Regen, der auf das Dach und gegen die Fenster prasselt. Wie weiter? Heute, gestern, vorgestern, alles schwarz. Er muss da raus. Die Verzweiflung ist ihm ins Gesicht gegraben. »Ich lass mich nicht länger erpressen.«
Der Satellit ist vier Meter lang und hat einen Durchmesser von fast zwei Metern. Die zwei Solarpaneele, die wie Flügel an einem Insektenkörper hängen, haben eine Spannweite von zehn Metern und liefern eine elektrische Leistung von insgesamt sechshundert Watt. CORVUS verfolgt drei Missionen: Zum einen soll er erdähnliche Planeten in fernen Sonnensystemen aufspüren, sogenannte extrasolare Planeten. Dafür ist der Satellit mit einem Dreißig-Zentimeter-Spiegelteleskop ausgestattet. An der Helligkeitsschwankung eines Sterns, die das Teleskop misst, soll sich ein vorbeiziehender Planet verraten, wenn er einen Teil des ausgestrahlten Sternenlichts absorbiert.
Hinter der Veranda stößt der Mann auf den Grill, den er im Sommer aus Ziegelsteinen gebaut hat. Er nimmt drei Steine davon runter. Es kleben nasse Blätter dran. Er trägt sie in die Laube. In der Mitte des Raums stapelt er sie aufeinander und steigt vorsichtig drauf. Eine verdammt wackelige Angelegenheit. Das fehlte noch, dass er sich den Hals bricht. Er wischt sich das Wasser aus dem Gesicht. Jetzt den Strick durch die Öse. Diesmal klappt es. Er spürt Erleichterung. Seine Hände zittern. Tränen schießen ihm in die Augen. Er schiebt das Seil weiter durch die Öse. Vorbei, endlich vorbei mit der Erpressung.
Ein Flugzeug donnert über den Garten Richtung Fuhlsbüttel. Eine Windböe fegt um das Haus und peitscht den Regen gegen die Fenster. Aus dem einen Ende des Stricks macht der Mann eine Schlinge, das andere befestigt er mit einem Doppelknoten am Abflussrohr des Waschbeckens. Er atmet tief durch. Keiner kann ihm mehr drohen. Damit ist es jetzt vorbei. Kein Durchkommen für die Schweine. Er hat eine Entscheidung getroffen. Wie Yuri Smirnoff. Auch der war bereit, sein Leben zu geben.
Das CORVUS-Projekt hat bei Gesamtkosten von dreihundertvierzig Millionen D-Mark eine verhältnismäßig gute Kosten-Nutzen-Relation, denn neben der Suche nach extrasolaren Planeten verfolgt der Satellit noch zwei meteorologische Missionen. Eine bewegliche Infrarotkamera im Rumpf des Satelliten dient der Erfassung thermischer Daten der Erdatmosphäre. Zusätzlich verfügt CORVUS über zwei schwenkbare Radarsender am Kopf und am Ende des Satelliten, mit denen er die Erde bestrahlt. Zwei daran gekoppelte Mikrowellenantennen empfangen die an der Erdoberfläche reflektierten Signale. Mit seinen beiden Radaraugen tastet CORVUS rund um die Uhr die Gletscherhänge ab und vermisst die Dicke des Schelfeises in den Polarmeeren und die Höhe der kilometerdicken Eisschilde an den Polen.
Eine Kakerlake krabbelt die klamme Wand entlang und verschwindet in einer Spalte zwischen Diele und Leiste. Er knipst das Licht aus. Er lässt sich Zeit, damit sich seine Augen an das Dunkel gewöhnen. Dann steigt er auf die Ziegelsteine und greift nach dem Seil. Wieder das Dröhnen eines Flugzeugs. Der Mann rutscht ab. Er wartet, bis der Flugzeuglärm verklungen und nur das beruhigende Trommeln des Regens zu hören ist. Er steigt wieder auf die Steine. Diesmal kann er das Gleichgewicht halten. Er steckt den Kopf durch die Schlinge. Er ist bereit. »Ja«, sagt er. Und dann noch einmal: »Ja.«
Die Multifunktionalität von CORVUS, also die gleichzeitige Messung von Mikrowellen, Infrarotsignalen und extrasolarem Licht, basiert auf einer ausgeklügelten Mechanik, die eine voneinander unabhängige Bewegung der Detektoren erlaubt. Allerdings lässt sich einer der drei Detektoren, die Infrarotkamera, aus noch ungeklärter Ursache seit Wochen nicht mehr präzise ausrichten. Und damit ist der zweite Teil des meteorologischen Messprogramms von CORVUS nicht mehr durchführbar.
Ein Geräusch. Schatten am Fenster. Schritte auf der Veranda. Sie sind da, mein Gott sie sind da! Jemand rüttelt an der Vordertür. Fäuste schlagen dagegen. Der Mann zieht die Schlinge fester um seinen Hals.
»Aufmachen! Sofort aufmachen! Ich weiß, dass du da bist.«
»Lasst mich in Frieden! Lasst mich endlich in Frieden!«, brüllt er und umfasst mit beiden Händen das Seil.
Schritte hasten um das Haus. Rütteln an der Klinke. Hämmern gegen die Hintertür. »Aufmachen, verdammt noch mal, aufmachen!«
Der Mann rutscht von den Steinen, das Seil spannt sich, die Schlinge zieht sich zusammen, würgt ihn. Er röchelt, Speichel läuft ihm aus dem Mund. Er zieht die Beine an und hängt sein ganzes Gewicht an das Seil. Ein Knorpel reißt.
»Mach endlich auf! Du sollst aufmachen!«
Holz splittert. Ein Lichtbogen springt in den Raum.
»Halt!«
Schlag ins Kontor
Montag, der 8. November, 8:14 Uhr
Ein Schrei lässt mich hochfahren, ein Schrei, langgezogen, hoch und schrill. Mein Hauswirt? Es klingt schauerlich. Da ist was passiert. Ich stelle die Kaffeetasse auf den Tisch, die Seite mit der E-Mail von Miguel Valino segelt zu Boden. Ich hebe sie auf. Wieder ein Schrei. Ich laufe aus meiner Wohnung, stürze die Treppen runter, stolpere im Hochparterre über die Kehrichtschaufel, die der Trottel von Theologiestudent dort vergessen hat, und klingle Sturm an der Tür meines Hauswirts. Er öffnet selbst, den Mund vom Schreien noch aufgerissen, die rechte Hand mit blutendem Daumen gen Decke gereckt.
»Frau Doktor Rührmann, wunderbar! Verbinden Sie mich bitte, schnell!«, wimmert er.
Ich ziehe kurzerhand das seidene Einstecktüchlein aus seinem Jackett. »Drücken Sie das erst mal auf die Wunde. Was ist passiert?«
»Kommen Sie in meinen Salon und schauen Sie sich das Elend an.«
Ich folge ihm. In der Mitte des Raums steht das, was mein Hauswirt seine Biedermeiergarnitur nennt. Ein rosshaarbezogenes Sofa vor einem zierlichen Tischchen aus dem gleichen Birkenholz, dazu zwei zerbrechliche Stühle und eine Vitrine von achtzehnhundertzwanzig mit alten Weingläsern und Moccatässchen von Sèvres.
»Bei dem Versuch, diesen Tisch zusammenzusetzen«, er zeigt auf einen Holztrümmerhaufen vor einem der Fenster, »habe ich mich mit dem Schraubenzieher verletzt«, klagt er und hält den Daumen höher.
»Da war der Schreck wohl größer als der Schmerz«, antworte ich trocken und betrachte das Objekt seiner handwerklichen Bemühungen. »IKEA. Sehr praktisch.«
»Genau«, begeistert sich mein Hauswirt. »Der Tisch ist ausziehbar. Gerade richtig für meine Geburtstagsgäste, die ich nächste Woche erwarte. Die Krönung wird eine Mandelschokoladentorte von Pritsch sein.«
»Wir sollten uns erst mal um Ihren Daumen kümmern. Haben Sie Verbandszeug?«
Der Hauswirt nickt. »Nebenan habe ich ein Erste-Hilfe-Köfferchen.« Mit erhobenem Daumen geht er aus dem Zimmer.
»Jod nicht vergessen!«, rufe ich ihm nach.
An den Wänden hängen Scherenschnitte und goldgerahmte Bilder. Aus einem Ölgemälde der Renaissance blicken die strengen Augen eines Paares auf mich runter. »Meine Altvorderen!«, hat mein Hauswirt mal stolz verkündet. Dabei kenne ich ihn als leidenschaftlichen Sammler und kann mir die erste Begegnung mit diesen Urahnen im Antiquitätengeschäft lebhaft vorstellen. Seit 14 Jahren wohne ich in seinem Haus und gehöre inzwischen selbst zum Inventar. Der verwundete Nachfahre der Ahnengalerie ist immer noch nicht zurück. Teufel, wo bleibt der Jammerlappen. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Ich halte den Ausdruck der E-Mail immer noch in der Hand. Es klebt Blut vom Hauswirt dran.
Dientes de flores, cofia de rocío,
manos de hierbas, tú, nodriza fina,
tenme prestas las sábanas terrosas
y el edredón de musgos escardados.
Voy a dormir … Ah, un encargo:
si él llama nuevamente por teléfono
le dices que no insista, que he salido …
Zähne aus Blumen, Haube aus Tau, Hände aus Kräutern, du liebe Amme, halt mir die erdigen Laken bereit, und die Decke aus gejätetem Moos. Ich gehe schlafen … Ach, eine Bitte: Wenn er wieder anruft, sagst du ihm, dass er nicht drängen soll, dass ich weg bin …
Warum hat mir Miguel Valino diese Zeilen geschrieben? Voy a dormir – Ich gehe schlafen. Frei nach einem Gedicht von Alfonsina Storni, das sie kurz vor ihrem Tod noch zur Post gebracht hat. Was will Valino mir damit sagen? Übersetze ich seine E-Mail richtig? Wenn ich doch besser Spanisch könnte.
Mein Hauswirt kommt mit dem Erste-Hilfe-Köfferchen zurück. Die Katze Mutz folgt ihm mit aufgestelltem Schwanz und springt auf das Biedermeiersofa. »Das Sofa«, protestiert mein Hauswirt schwach, »hat gerade erst einen neuen Bezug bekommen, aber das ist nun mal ihr Platz.«
»Zeigen Sie mal«, leite ich die Notoperation ein. Vorsichtig nehme ich das Einstecktüchlein von der Wunde.
»Liebe Frau Doktor Rührmann, ich kann kein Blut sehen«, jammert mein Hauswirt und blickt eisern zur Seite. Mutz macht einen Katzenbuckel und gähnt ausgiebig.
»Jetzt brennt es ein bisschen«, warne ich, als ich mich mit Tupfer und Jod nähere.
»Blut«, seufzt mein Hauswirt.
»Jod«, korrigiere ich.
Er schreit auf.
»Reißen Sie sich doch zusammen!«
Mutz springt ohne einen Laut vom Sofa und reibt sich an meinen Beinen. Etwas unangenehm.
»Ich weiß«, sagt mein Hauswirt mit weicher Stimme, »dass so ein Tisch nicht zu meinem Ambiente passt. Ich will ihn ja auch nur für mein Geburtstagsfest aufstellen.«
»Wenn die Tischdecke lang genug ist, sieht man die Beine nicht«, sage ich.
»Ich habe sogar eine Damasttischdecke.«
Ich schneide ein Pflaster zurecht und klebe es auf die Wunde.
»Vielen Dank. Sehr schön«, sagt er zufrieden. »Sie wissen doch, am übernächsten Sonntag werde ich dreiundsechzig. Ach, übers Alter sollten wir nicht sprechen. Es ändert sich sowieso jeden Tag.« Er blickt kurz auf den Haufen Bretter und fragt lebhaft: »Frau Doktor Rührmann, Sie sind doch mit diesen Eigenbauprodukten aufgewachsen. Mögen Sie mir beim Zusammensetzen des Tisches helfen? Ich wollte unseren Theologiestudenten schon darum bitten, aber sein Handy ist ständig besetzt.«
»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen«, entgegne ich eilig und sprinte zur Tür. »Aber ich muss los. Zur Patriotischen Gesellschaft. Mein Chef hält da einen wichtigen Vortrag.«
»Dann vielleicht heute Abend?«
»Vielleicht heute Abend.«
Ich bin schon im Treppenhaus, da ruft er mir noch hinterher: »Frau Doktor Rührmann! Wie wird das Wetter an meinem Geburtstag?«
»Wenn es nicht regnet«, rufe ich zurück, »wird die Sonne scheinen.«
In patriotischer Gesellschaft
Montag, der 8. November, 10:47 Uhr
»Es gibt keinen Zweifel mehr am Klimawandel. Wir Menschen tragen die Hauptschuld an der Zerstörung unseres Lebensraums.« Udo Rindeck, Professor am Max-Planck-Institut für Meteorologie und an der Universität Hamburg, spricht die Sätze wie eine Offenbarung. Er blickt von seinem Manuskript auf und schaut prüfend ins Publikum. Angesichts der zahlreichen Zuhörer, die sich im Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765 eingefunden haben, könnte sich seine Miene erhellen. Seit einer Dreiviertelstunde lauschen sie nun seinem Vortrag Der Klimawandel und die Folgen für Hamburg und harren in demutsvoller Erwartung der apokalyptischen Aussichten. Aber Rindecks Gesicht verfinstert sich, mahnend hebt er den Zeigefinger. »Heute, im Jahr 1999, ist der Klimawandel für die Wissenschaft längst eine Tatsache. Leider ist diese Tatsache noch immer nicht bis zur Politik vorgedrungen.«
Ich schaue zu den Fenstern, gegen die der Regen mit tausend Fingern trommelt. Es regnet seit Tagen. Seit Dienstag letzter Woche 11 Uhr 31, um genau zu sein. Tag und Nacht strömender Regen. Bis auf ein paar Sonnenstunden am Sonntag.
»Die Menschheit«, Rindeck treibt seine Stimme in die Höhe und legt eine kleine Schwingung rein, »sitzt in einem Fahrstuhl, dessen Tragseile gerissen sind, und während der Fahrstuhl im freien Fall nach unten saust, beruhigt sie sich mit den Worten: Bis hierher ging es noch gut, bis hierher ging es noch gut. Aber entscheidend ist nicht der freie Fall, liebe Hörerschaft, entscheidend ist die Landung.«
Beklommenes Lachen. Ich lache nicht. Wer Rindeck länger kennt, weiß, dass er gern auf dieses Fallbeispiel zurückgreift. Das letzte Mal tat er es bei einer Kolloquiumsveranstaltung, und das Auditorium, darunter lauter Erstsemester, brüllte vor Lachen. Dabei meint es Rindeck alles andere als lustig.
»Um die Mechanismen des Klimawandels zu verstehen«, Rindeck senkt die Stimme, zwingt seine Zuhörerschaft, konzentriert zuzuhören, »müssen wir die Mechanismen des Wärmehaushalts unseres Planeten genau begreifen.«
Mein Blick wandert über die quadratischen goldeloxalglänzenden Täfelungen und über den sorgfältig gewachsten Parkettboden mit seinen hübschen Intarsien. Das Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765 bestand ursprünglich aus einem Wohnhaus und mehreren zum Fleet hin gelegenen Ladengeschäften. Errichtet wurde es, so konnte ich einem blauen Emailleschild an der Außenfassade entnehmen, auf dem Grundstück des Rathauses, das beim Großen Brand 1842 vernichtet wurde.
Die Windstöße, die an den Fenstern rütteln, werden heftiger. Tropfen malen lange Straßen auf die Scheiben. Ich stelle mir vor, wie sich die Passanten draußen unter ihren Regenschirmen ducken.
»Die Sonne ist Energiequelle für alles Leben«, sagt Rindeck, und als hätte er sie gerufen, bricht sie unversehens aus den dahinjagenden Wolken und zeigt ihr blasses, kaltes Gesicht. Aber nur für einen Augenblick. »Ein Drittel der einfallenden Strahlung wird von der Atmosphäre und der Oberfläche ins All reflektiert. Zwei Drittel werden von der Erde absorbiert und in Form von Wärmestrahlung wieder abgegeben. Sie kennen das.«
Nur zu gut. Drängender ist: Was hat Valino mit dieser E-Mail sagen wollen? Ich hatte ihm eine technische Frage gestellt, und er kommt mir mit dieser kryptischen Antwort.
»Kein Mensch«, sagt Rindeck, »mag im Sommer in der Mittagshitze barfuß über die Terrasse laufen.« Vereinzelte Lacher für den müden Vergleich. Vielleicht wäre es ja gar nicht aufgefallen, wenn ich mich um die Teilnahme am Vortrag gedrückt hätte, zu der Rindeck uns alle verdonnert hatte, weil sich nicht einschätzen ließ, wie viele Zuhörer ins Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765 kommen würden, und er auf keinen Fall vor leeren Stühlen dozieren wollte.
»Ginge die von der Erde abgestrahlte Energie im Weltall einfach verloren, würden auf der Erde arktische Temperaturen herrschen. Dank unserer Atmosphäre und der darin enthaltenen Treibhausgase wird aber ein Teil der Infrarotstrahlung absorbiert und an die Erde zurückgegeben.«
Mit seinen schmalen Lippen und den müden Augen hinter der randlosen Brille erinnert Rindeck an den dünnhäutigen Hermann Hesse, ein ständig säuerlich blickender Asket, der Steppenwolf der Meteorologie. Sein Körper ist sehnig und wirkt durchtrainiert. Bestimmt joggt er jeden Morgen um sechs einmal um die Alster. Ich führe öfter Gespräche mit ihm über Politik, Geschichte und Literatur. Er hat eine geniale Fähigkeit, diese Felder miteinander zu verbinden. Und er hat nicht verlernt, zuzuhören. Trotzdem geht mir seine wissenschaftlich-intellektuelle Beharrlichkeit manchmal fürchterlich auf den Senkel.
Abseits des Podiums sitzt die Vorsitzende des Kuratoriums der Patriotischen Gesellschaft, Frau Kämmerlein. Zu Beginn des Vortrags hat sie eine höfliche Begrüßungsrede gehalten. Frau Kämmerlein trägt eine Hornbrille, flache Schuhe und eine hochgeschlossene Bluse. Ihre Wangen sind kaum merklich mit Rouge bestäubt. Jeden Satz Rindecks bestätigt sie mit einem zufriedenen Kopfnicken und hält die Augen dabei geschlossen. Wäre die Anrede Fräulein aus dem deutschen Sprachgebrauch nicht herausgefallen, zu Kämmerlein würde sie passen wie die Faust aufs Auge.
»Durch die natürlichen Treibhausgase steigt die Energiebilanz, und das Leben auf der Erde wird halbwegs erträglich.« Rindeck reibt sich die Hände. Kleine Anspielung auf die sparsame Beheizung des Saals. Wie ähnlich sie sich sind, Rindeck und Valino. Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich nicht besonders verstehen.
»Vor dem Klimawandel hat die Erde genauso viel Energie ins All abgegeben, wie ihr von der Sonne zugeführt wurde. Inzwischen hat der Mensch diese Balance empfindlich gestört. Durch zusätzliche Treibhausgase in der Atmosphäre nimmt die Erde inzwischen mehr Energie auf, als sie ins All zurückgibt.«
Links von mir sitzt Thomas Paulsen, wie ich Post-Doc und graue Eminenz unserer Gruppe. Er ist 31 Jahre alt, nur ein paar Monate älter als ich. Er hat seinen Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und lauscht andächtig Rindecks Worten. Oder tut zumindest so. Thomas ist Mathematiker, ein Chaostheoretiker, wie er selber sagt. Es heißt, er sei früher Mitglied im Chaos Computer Club gewesen, aber dazu äußert er sich nicht.
»Kohlenstoffdioxid, besser bekannt unter dem Namen Kohlendioxid, ist das bedeutsamste künstlich erzeugte Treibhausgas, aber nicht das einzige.«
Man hört den Straßenverkehr mit seinen wasserspritzenden Autoreifen bis in den Saal. Da bleiben Taxi-Christian die Kunden weg. Bei dem Scheißwetter geht keiner freiwillig raus.
»Die Quellen der von Menschen erzeugten Treibhausgase sind vielfältig und reichen von Kraftwerken bis zu Maisfeldern. Die Wirkung der diversen Chemikalien, die von uns in die Atmosphäre geblasen werden, ist unterschiedlich stark. Fest steht, dass seit der industriellen Revolution der Anteil von Treibhausgasen in der Atmosphäre dramatisch angestiegen ist.«
Ein Klingelton schrillt in den Vortrag.
»Gehen Sie ruhig ran«, sagt Rindeck und schließt die Augen. »Wir warten gern.«
Hektisches Nesteln in der zweiten Reihe. Rindeck öffnet die Augen und fährt fort: »In einhundert Jahren werden möglicherweise dreimal höhere Emissionswerte als heutzutage erreicht, je nach Entwicklung der Weltwirtschaft und ihren Produktionsmechanismen.«
Ich summe leise Ina Deters NDW-Song vor mich hin.
Ich stell das Telefon leise und die Klingel ab,
bin nach dem Aufstehn schon müde und schlapp,
mir ist wie kopflos im Wasser zu treiben,
ein Tag, um seine Memoiren zu schreiben,
und was draußen passiert, interessiert mich nicht,
geht die Welt heut unter, geht sie ohne mich …
Dorothea Weber, Diplomandin mit leichtem Unterbiss, dreht sich genervt nach mir um. Ihre Schenkel haben wenig Platz in dem engen Stuhl. Sie schreibt bei Thomas eine theoretische Arbeit zur Modellierung von Atmosphäre und Ozean. Ihre schwarzen, eng beieinanderliegenden Augen werden zu Kohlestückchen, wenn sie wütend wird. Sie sehen mich immer an, als hätte ich gerade was Unanständiges gesagt.
»Die Erde wird sich auf jeden Fall aufheizen, selbst wenn der Ausstoß von Treibhausgasen morgen gestoppt würde.«
Valino würde hier widersprechen. Ich erinnere mich an die letzte Diskussion zwischen ihm und Rindeck. Fiel dabei nicht das Wort legado? Vermächtnis? Oder legrado? Ausschabung?
»In den wahrscheinlichen Szenarien wird sich die Erde um weitere eins Komma acht bis zwei Komma acht Grad Celsius erwärmen. Der Meeresspiegel dürfte dann um achtzehn bis einundfünfzig Zentimeter ansteigen. Und das schmelzende Eis Grönlands ist in diese Rechnung noch gar nicht einbezogen.«
Rechts von mir nickt es semmelblond: Helmut Berger, mein Doktorand und ausgestattet mit einem grenzenlosen Optimismus, was die Welt im Allgemeinen und seine Arbeit Dekadische Variabilität und Entwicklung der troposphärischen Stickoxidkonzentration im Speziellen anbetrifft. Helmut Berger ist immer gut gelaunt und extrem geduldig. Aber wenn man ihn semmelblond nennt, dann dreht er durch.
»Bevor wir uns nun den zweifellos traurigen Aussichten für Hamburg zuwenden, die mit einem solchen Temperaturanstieg verbunden sind, möchte ich Ihnen darlegen, aufgrund welcher Erkenntnisse wir zu solch düsteren Voraussagen gekommen sind.«
Jörg Held, mein Diplomand, schnauft hörbar durch seine schmale, gebogene Nase. Er schreibt über den Wärmehaushalt der Erde. Ein enorm fleißiger Student, der sich wie ein Terrier an jedem Problem festbeißt.
»Eine wesentliche Grundlage für die Klimaforschung bilden die Satellitendaten. Auch meine Gruppe nutzt für ihre Analysen die Daten eines Wettersatelliten.«
Bei diesem Stichwort geht ein Ruck durch unsere Gruppe. Die Erfolglosigkeit der letzten Wochen steckt uns allen noch in den Knochen. Warum antwortet CORVUS nicht vernünftig? Und warum antwortet Miguel Valino nicht vernünftig, sondern mit Versen?
»Wie aber lässt sich das Klima vorhersagen?«, fragt Rindeck gespannt und frisch.
Vor uns sitzt Miko Landau, der an genau dieser Frage arbeitet. Ich schaue auf seinen Hinterkopf, auf die Stelle, wo sich sein Haar zu lichten beginnt. Als Informatiker ist Miko zuständig für unseren neuen Parallelrechner, aber ehrlich gesagt halte ich seinen Diplomanden Gerd Najen für weit versierter. Seit Ewigkeiten arbeitet Miko an seiner Doktorarbeit Variabilität des Klimas auf langen Zeitskalen, als hätte er den Titel der Dissertation zu wörtlich genommen. Es dürfte spannend für ihn werden, wenn seine Stelle in zwei Monaten ausläuft. Gerd Najen wäre der ideale Kandidat für seine Nachfolge. Wo steckt Najen eigentlich? Ich schaue mich nach ihm um, kann ihn aber nirgends entdecken.
»Also wie lässt sich das Klima vorhersagen?«, wiederholt Rindeck. »Na ganz einfach, ähnlich wie das Wetter.« Die Leute lachen. »Natürlich ist es realiter nicht trivial. Klimavorhersage ist nicht gleich Wettervorhersage. Aber bleiben wir mal beim Wetter: Stellen Sie eine Differenzialgleichung auf, die das Wetter beschreiben soll, also beispielsweise Temperatur, Windgeschwindigkeit, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit als Funktion der Zeit und des Ortes. Nun sammeln Sie diese Daten über den aktuellen Zustand der Erde mit Hilfe von Satelliten.«
Rindeck muss allmählich zum Ende kommen. Er überzieht.
»Dann programmieren Sie einen Computer, der die numerische Lösungsapproximation durchführt, um vom Jetzt-Zustand auf den etwas später herrschenden Zustand zu schließen, dann auf den noch späteren Zustand und so weiter und so fort. Simulation nennt man das. Lassen Sie Ihr Computerprogramm laufen und verkünden Sie stolz Ihre Simulationsergebnisse. Hat Ihr Computer allerdings mehr als drei Tage vor sich hin simuliert«, Rindeck macht eine rhetorische Pause, »verkünden Sie die Ergebnisse lieber nicht.«