Kitabı oku: «Die Hoffnungsvollen», sayfa 8
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Sie stand vor der Tür ihrer Tochter. Nirgendwo Klingelschilder, an denen Namen hätten stehen können. Alles, was zu einem normalen Haus gehörte, fehlte hier, sogar die Geländerstäbe an der Treppe. Überhaupt, das Ensemble von teilweise abgerissenen Häusern hatte einen Schock in ihr ausgelöst. Einige Sekunden hatte sie vor dem Nachbarhaus gestanden oder dem, was davon übrig war, und in dessen halbierte Zimmer gesehen, und sie hatte sofort gewusst, dass die Tapeten aus den Siebzigerjahren stammen mussten. Sogar einen Schrank sah sie noch in einer Zimmerecke, und eine seiner Türen stand, wie das Haus selbst, offen.
Sie konnte sich ja vorstellen, dass Jugendliche gern unter außergewöhnlichen Umständen leben, auch ihre Tochter hatte diesen unsäglichen Hang zur Unangepasstheit. Aber wo hatte sie das bloß her? Niemand in ihrer Familie, weder mütterlicherseits noch väterlicherseits, hatte diesen Freiheitstrieb wie ihre Älteste. Alle hatten sich angepasst und Verantwortung für sich und andere übernommen. Nur ihre Tochter schien durch das Leben zu trudeln, als fehle ihr der Halt. Und dazu passte auch, dass sie ihren Träumen hinterherlief, als gäbe es kein Morgen. Sie meinte wohl, sie wäre ewig jung. Aber mit dem Studium war das Leben nicht vorbei, dann ging es darum, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, eine Familie zu gründen und Kinder aufzuziehen. Wie wollte sie das mit diesem unglückseligen Studienfach tun? Mit Ethnologie konnte man doch keine Familie ernähren!
Sollte sie klingeln? Ein tiefes Gefühl von Ohnmacht machte sich in ihr breit. Als sie vor wenigen Minuten noch vor dem halb abgerissenen Haus gestanden hatte, da hatte sie Alex’ Lebensübermut sogar verstanden. Dass sie mit ihr fühlte, das würde Alex wohl nie begreifen, denn sie kannte ihre Mutter erst, seit sie Mutter war, und das war sie früh, zu früh, bereits mit zwanzig Jahren, geworden. Sie selbst hatte nach der Geburt ihrer Ältesten die innere Sehnsucht nach Freiheit stets in die dicken Mauern ihres Alltags, zwischen Studium, Beruf, Kind und Haushalt gezwängt und ihren Sehnsüchten nie erlaubt, aus den Routinen des Alltags auszubrechen. Ihre eigene Abenteuerlust hatte sie mit Büchern gestillt, in denen sie las, was sie gern selbst erlebt hätte. Das musste reichen, und sie wusste auch, daran war ihre Älteste nicht schuld. Sie gönnte Alex den Lebenshunger, mit dem sie die Welt entdeckte, als wäre sie ein Abenteuerroman. Und doch hatte sie die unbestimmte Angst, dass sie auf eine Katastrophe zusteuerte, indem sie ihre Chance auf eine sinnvolle Ausbildung wegwarf und stattdessen ihren Eingebungen folgte, bis sie ohne Einkommen und ohne Zukunft dastehen würde, gealtert vom ausschweifenden Leben und perspektivlos.
Warum begriffen Kinder nie, wie sehr sich ihre Eltern um ihr Wohl sorgten und selbst mitlitten, wenn es ihnen nicht gut ging, oder wenn sie auf eine Zukunft zusteuerten, in der es ihnen nicht gut gehen würde? Warum betrachteten Kinder die Sorgen ihrer Eltern als ungerechtfertigte Einengung ihrer eigenen Freiheit? Ja, da war der Spruch, seine Erfahrungen muss jeder selber sammeln. Und Alex machte vehement ihre eigenen Erfahrungen, als gäbe es ihre Familie nicht, die ihr jahrelang die Erfahrungen vorgelebt hatte, die man machte, wenn man seinen Alltag meistert. Alex war aus dem Familienleben ausgebrochen. Vielleicht hatte sie als Mutter ihre Älteste zu stark in ihren Ambitionen gebremst, und der heftige Befreiungsschlag, der darauf folgte, war nun total und völlig kompromisslos.
Und plötzlich fühlte sie sich unangenehm davon berührt, dass Kinder jede Etappe der Entwicklung eines Menschen in einer Totalität wiederholten, als wäre es unmöglich, auf den Erfahrungen anderer aufzubauen. Jeder wiederholte und wiederholte. Man konnte es schon im frühen Kindesalter beobachten, wie die Etappen der Persönlichkeitsentwicklung sich unwiderruflich einstellten, wie das Kind, und später der Jugendliche, in seiner eigenen Welt aufging, völlig untangiert von den vielen Generationen vor ihm, bis hin zum Befreiungsschlag aus der Familie und der völligen Unbeeinflussbarkeit des Jugendlichen, der von seinen Eltern nichts mehr wissen wollte. Es war wie eine Naturgewalt im Leben der Menschen.
Doch dass ihre Älteste nun in dieses Abrisshaus gezogen war, brachte das Fass zum Überlaufen. Was dachte Alex sich dabei, sich dieser saufenden und Drogen nehmenden Chaotenszene anzuschließen? Sah sie nicht die Gefahr, sich das Leben völlig zu ruinieren? Wollte sie als Junkie enden?
Sie musste sich Gewissheit verschaffen, deshalb war sie hergekommen. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, wie ihre Tochter hier lebte, und die ganze Fahrt über hatte sie mit ihrem Kollegen über nichts anderes gesprochen als über ihre Tochter, die ihr völlig entglitten war.
Entschlossen und wütend drückte sie auf die namenlose Klingel. Schon diese selbst gebaute Tür flößte ihr Unbehagen ein, als müssten sich die Bewohner hier vor der Realität verbarrikadieren. Sie wollte Alex herausreißen aus diesem Haus, um sie in einem vernünftigen Leben wieder abzusetzen, wo sie hingehörte, vernünftig und mit genügend Respekt vor der Zukunft, die sie doch endlich gestalten sollte. Sie konnte so frei sein, wie sie wollte, aber mit Verantwortungsbewusstsein für ihr eigenes Leben.
Dann hörte sie Geräusche hinter der Tür. Wer auch immer sie einlassen würde, er musste an mehreren Schlössern drehen, bis sich die Tür knarrend öffnete. Vor ihr stand ein blonder junger Mann mit verschlafenen Augen.
‚Um diese Uhrzeit‘, dachte sie. Es war doch schon um elf! Der Fremde widerte sie an, sie wollte ihn nicht einmal ansehen, sondern sofort in das Zimmer ihrer Tochter. Schroff erklärte sie, wer sie war.
„Ich möchte sofort Alex sehen!“, sie hörte die Härte in ihrem eigenen Ton widerhallen, trat – ohne eine Reaktion des verschlafenen Blonden abzuwarten – in den Flur und sah sich um. Der riesige Vorsaal wirkte aufgeräumt, aber wahrscheinlich hatten die Leute hier nichts, um es in den Flur zu stellen. Wenigstens war er in hellen Farben gestrichen. Er sah sogar gut aus, aber darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen.
Vom Vorsaal aus gingen mehrere Türen ab. Wo lag das Zimmer ihrer Tochter? Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich noch einmal zu dem Blonden umdrehen. Der stand immer noch völlig verblüfft an der Tür und starrte sie an. Doch dann räusperte er sich. „Hinten rechts“, erklärte er mit einer Geste seiner Hand, ohne dass sie ihn fragen musste, und sie stürmte voran, lief zum hinteren Ende des Flurs, und ohne zu klopfen riss sie die Tür auf. Dann stand sie mitten im Zimmer und sah in das erschrockene Gesicht ihrer Ältesten, die mit einem Buch in der Hand an einem alten Schreibtisch saß und sie nicht erwartet hatte.
Nun erstarrte auch sie, Zorn und Verblüffung stritten in ihrem Inneren und nahmen ihr die Luft. Das Zimmer sah aus, als wäre es gerade aufgeräumt worden, und ihre Tochter saß an dem Schreibtisch, auf dem ein neuer Computer thronte, wie ein Engel von Disziplin und Fleiß.
Sprachlos sah sie sich um. Ein Ambiente, in dem sie selbst nicht hausen wollte. Ihre Tochter schlief auf alten Matratzen, deren Bettzeug locker, aber gerade darüber geworfen war, sodass man das Bett mit viel gutem Willen als gemacht betrachten könnte. Mitten im Raum stand eine Sitzgruppe um einen niedrigen Tisch, und die Beine der blau gepolsterten Stühle aus den Fünfzigerjahren waren so schräg und niedrig abgesägt, dass man in den Stühlen hocken musste wie in einem Kosmonautensessel.
Auch Bücherregale gab es, schiefe Kellerregale, dunkelbraun gebeizt und reichlich mit Büchern gefüllt, so bunt wie das Leben, von dem ihre Älteste in ihrer ganzen Weltfremdheit träumte.
„Hallo, Mutti!“, sagte Alex plötzlich. „Was machst du denn hier?“
Sie registrierte, dass sie ihre Tochter noch nicht einmal begrüßt hatte, zu heftig waren die Gefühle gewesen, mit denen sie in dieses Zimmer gestürmt war. Und noch immer wusste sie nicht, was sie nun von ihrer Tochter halten sollte. Sie hatte Chaos erwartet, dasselbe Chaos, das sie aus dem Kinderzimmer kannte, das sie so oft aufgeräumt hatte. Aber dieser Raum bot ihr keinen Grund für Kritik. Der Anschein war ordentlich, aber es war nur der äußere Schein, er konnte trügen. Wovor sie eigentlich Angst hatte, das war ja das Leben ihrer Tochter. Trank sie? Rauchte sie? Nahm sie Drogen? Ließ sie sich von den Leuten hier verführen, ihre Zukunft wegzuwerfen, bevor ihr Leben richtig begonnen hatte? Doch sie musste irgendetwas sagen, und weil ihr nicht einfiel, wie sie all die Fragen formulieren sollte, die ihr ihre Tochter sowieso nicht ehrlich beantworten würde, sagte sie einfach: „Ich wollte sehen, wie du hier lebst.“
„Willst du einen Tee?“, fragte nun Alex mit Unschuldsmiene und wies auf einen der blauen Kosmonautenstühle. „Setz dich doch!“
Immer noch stand sie stumm da und blickte sich im Zimmer um, als könne sie doch noch ein rumliegendes Buch oder eine mit Staub verkleisterte Ablagefläche finden. Der Versuch, in irgendeiner Weise das Leben ihrer Tochter mitzugestalten, sie vor den Gefahren in diesem Haus zu bewahren und ihr die Zukunft, die sie sich für sie wünschte, zu Füßen zu legen, war sinnlos. Das hatte sie jetzt begriffen. All ihre Sorgen und ihre Hilfsbereitschaft, mit ihrer Ältesten an deren Leben zu arbeiten, prallten von ihr ab wie von einer gläsernen Wand. Ihre Tochter war durch und durch ein Individuum geworden, das sein Leben selbstbewusst in die Hand nahm und Einmischungen nicht mehr duldete. So fremd sie ihr in diesem Zimmer auch erschien, so sehr verstand sie sie. Ihr Kind war kein Satellit mehr, der um die Mutter wie um die Erde kreiste, sie hatte die Umlaufbahn verlassen. Und dass die Erde um den Satelliten kreiste, das war nur eine lächerliche Vorstellung. Das Einzige, was sie tun konnte, war abzuwarten, bis sich die nächste Entwicklungsphase im Leben ihrer Tochter einstellte, sie in einen Beruf ging und eine Familie gründete. Dann würde sie wieder näher zu ihren Eltern rücken, so war das Naturgesetz.
„Oder soll ich dir den Rest der Wohnung zeigen?“, fragte nun Alex etwas provokanter.
Endlich konnte sie reagieren: „Nein, ich muss wieder los. Mein Kollege wartet draußen im Auto.“
„Was hast du denn? Gefällt dir mein Zimmer nicht?“ Ihre Tochter sah sie herausfordernd an, und immer noch wusste sie nichts zu sagen. Die Erkenntnis um die Unbeeinflussbarkeit des Lebensweges ihrer Tochter hatte sie völlig überrumpelt. Sie schüttelte sich und schließlich gab sie Antwort: „Aufgeräumt ist es ja, aber“, und sie musste tief Luft holen, „ich mache mir Sorgen darüber, wie ihr hier haust.“
„Mutti, mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf mich auf, und ich verspreche dir, Drogen sind für mich tabu. Ich will doch nur in einem eigenen Zimmer leben und muss auf meine Reise sparen.“ Alex begann mit sanfter Stimme für ihr Zimmer zu werben, und das beruhigte sie. Am liebsten hätte sie sich von ihrer Tochter für immer einlullen lassen. Um irgendetwas zu tun, trat sie an den Tisch und entdeckte eine kleine Messingplakette, die daran befestigt war. Sie wischte darüber und las die Aufschrift. „Universitätsbibliothek der medizinischen Fakultät.“ Konnte es sein …?
„Sag mal, Alex, die Plakette – das ist doch ein Bibliothekstisch. Hast du etwa …?“
„Mutti“, stöhnte Alex auf, „denkst du, ich bin in die Bibliothek gegangen, habe den Tisch auf den Rücken genommen und bin damit abgezogen?“ Dann lachte sie. „Die Uni sortiert alte Möbel aus und den Tisch habe ich einfach geschenkt bekommen.“
‚Ja klar‘, dachte sie, ‚meine Sorgen werden schon paranoid. Vielleicht sollte ich Alex einfach mehr vertrauen, dann könnte ich ruhiger schlafen, und Alex wäre frei.‘
Sie nickte: „Na gut“, und ihre Stimme wurde sanfter. „Mein Kollege wartet. Ich muss gehen.“
Alex stand auf und umarmte sie.
Leicht strich die Mutter ihrer Tochter über den Rücken. „Ich wünsche dir viel Erfolg beim Studium. Mach was aus deinem Leben, und wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich bei uns.“ Über ihre Wangen zog sich ein feuchter Streifen. Verstohlen wischte sie sich mit dem Handrücken die Erleichterung aus dem Gesicht. Sie würde – sicher – in die Familie zurückkehren. Und irgendwann würde sie selbst Enkel auf dem Schoß sitzen haben, und Alex würde ihr Kind und ihre Mutter glücklich ansehen. Dieses Naturgesetz würde sich genauso einstellen wie ihr jetziger Freiheitstrieb.
Sie wandte sich zur Tür, und Alex rief ihr hinterher: „Das nächste Mal kündige dich aber bitte an und bring etwas Zeit mit!“ Dieser Satz verletzte sie schon nicht mehr.
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Ende 1993 diskutierte die Fakultät öffentlich über die Zukunft der Ethnologie und damit auch über Ulrichs Stelle. „Evaluierung“ war das Wort, das in den Jahren 1991 bis 1993 alle an der Universität umtrieb. Die Studenten bekamen davon kaum etwas mit. Dennoch wusste Alex, wie alle Studenten, dass in den neuen Bundesländern und damit auch an der Universität Linden alle wissenschaftlichen Einrichtungen und die in ihnen angestellten Personen überprüft wurden. Es sprach sich herum, dass neben der politischen Unbedenklichkeit auch die wissenschaftliche Qualifikation evaluiert wurde. Die Zukunft eines Angestellten hing nun davon ab, ob er für die Staatssicherheit gearbeitet hatte, ob durch ihn Schaden für Kollegen oder Studenten entstanden war und inwieweit sein administratives Wirken und seine wissenschaftliche Arbeit systemstützend gewesen waren. Politisch belastete Lehrkräfte sollten endgültig aus den Universitäten verbannt werden und mit ihnen die sozialistische Ideologie. Wer dem politischen System der DDR zu nahe stand, wem man zu große Staatsnähe vorwarf oder wer nachweislich in irgendeiner Form mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hatte, erhielt die Kündigung.
Die Studenten begrüßten die politische Seite der Evaluierung. Dagegen wurden immer mehr kritische Stimmen gegen die wissenschaftlichen Eignungsprüfungen laut. Sie sahen, dass mangelnde Eignung leicht gegenüber Kollegen herbeizureden war, besonders wenn man die ungünstigen Bedingungen des Wissenschaftssystems der DDR als Argument gegen die Universitätsmitarbeiter ausspielte. Die Lehrenden selbst mieden das Thema, bis die Ergebnisse feststanden. Sprach man sie darauf an, winkten sie ab und verschwanden in ihren Zimmern. Doch Druck und Angst vibrierten in den Räumen der Alma Mater.
Der Hörsaal war schon nach wenigen Minuten überfüllt. Studenten, Doktoranden und Lehrkräfte, Fakultätsratsmitglieder und Museumsethnologen sowie Mitglieder der Berufungskommissionen saßen im überheizten Raum. Einige Zuschauer hockten auf den Tischen, die an den Wänden aufgestellt waren, und andere standen mit ihren Jacken unter dem Arm im Eingangsbereich bei der Tür. Alex hatte Glück gehabt, denn Sabine hatte ihr einen Platz frei gehalten. Sie setzte sich in eine der hintersten Reihen unter die älteren Studenten.
An den Stuhllehnen im Hörsaal knirschte die abgelegte Winterkleidung bei jeder Bewegung der Sitzenden. Die Stiefel scharrten unter den Stühlen über das uralte Parkett und die Leute redeten mit gedämpften Stimmen.
Endlich kam Ruhe in den Saal. Der Dekan leitete die Veranstaltung ein. Doch seine Rede verlief anders, als es Alex erwartet hatte. Mit keinem Wort erwähnte er in seiner Ansprache die personellen Veränderungen, die bereits vollzogen worden waren. Vor einigen Wochen mussten zwei Mitarbeiter gehen, von denen sich nach und nach herumgesprochen hatte, dass sie für die Stasi gearbeitet hatten. Sie gingen leise und ohne Abschied. Danach hatte Alex auch von Entlassungen am Museum gehört. Für sie schien das Problem damit erledigt, zumal Ulrich und die verbleibenden Mitarbeiter eine Unbedenklichkeitserklärung vom Ministerium ausgestellt bekommen hatten, die ihnen offiziell bestätigte, dass sie die politische Prüfung bestanden hatten und auch an ihrer wissenschaftlichen Qualifikation nicht gezweifelt wurde.
Doch nun erfuhr sie, dass die Reformen mit der Evaluierung und der positiven Begutachtung des verbleibenden Personals am Institut nicht abgeschlossen waren.
Der Dekan sprach von personeller Erneuerung, die es zu beschleunigen gelte. Es schien, als ob die politisch bedingten Entlassungen dem Ministerium für den strukturellen Umbau der Universitäten nicht ausreichten. Und Alex fragte Sabine, was das bedeute. Doch die leitete die Frage an ihren Nebenmann weiter, einen älteren Kommilitonen, den sie gut kannten und der selbstgewiss die Rede des Dekans verfolgte.
„Wisst ihr das nicht?“, fragte der und beugte sich dann zu ihnen hinüber. „Nahezu allen Professoren der Universität ist gekündigt worden“, erklärte er dann.
„Was? Auch denen, die positiv evaluiert worden sind?“, flüsterte sie an Sabine vorbei. „Deren Weiterbeschäftigung galt doch als gesichert?“
„Auch denen! Dafür hat man sogar für drei Monate den gesetzlichen Kündigungsschutz außer Kraft gesetzt.“
„Und Ulrich?“, fragte nun Sabine.
„Ulrich hat eine Kündigung aus ‚Mangel an Bedarf‘ bekommen. Aber jetzt wollen sie die Stelle, für die es an Bedarf mangelt, neu besetzen.“ Der Student lachte leise.
„Das ist ja eine Schweinerei!“ Alex hatte erwartet, dass Ulrich an der Universität bleiben würde. Außerdem wurde doch Ulrich nun auch gesamtdeutsch gewürdigt. Und die deutschsprachige Ethnologie feierte seit einigen Monaten die Wiedervereinigung Deutschlands mit der Wahl des Ostdeutschen Ulrich zum Vorsitzenden der Bundesdeutschen Vereinigung für Ethnologen. Wie konnte das sein?
„Das wäre ja der reinste Kahlschlag!“, mischte sich nun auch Sabine ein. „Da muss man sich nicht wundern, wenn überall von Siegermentalität gesprochen wird.“
Der Student nickte. „Die wollen Platz schaffen für westdeutsche Mitarbeiter. Die Ossis sollen raus aus den Universitäten. Es ist der völlige Hohn, dass Ulrich nun auch noch eine Aufforderung bekommen hat, sich auf seine eigene Stelle zu bewerben. Jetzt steht er natürlich in Konkurrenz mit weiteren Bewerbern, die aus dem Westen kommen. Es gibt in dem Bewerbungsverfahren zwar eine Klausel, dass die ehemaligen Stelleninhaber bevorzugt werden sollen. Aber wozu feuert man sie erst, wenn man sie dann wirklich wieder einstellen will? Das ist die reinste Augenwischerei. Jedenfalls gibt es deutschlandweit Ethnologen, die dazu aufrufen, sich nicht auf diese Stelle zu bewerben. Trotzdem soll es schon Bewerber geben.“
Der Dekan hatte seine Rede beendet. Die Anwesenden klatschten verhalten. Dann meldete sich der Versammlungsleiter zu Wort und in wenigen Minuten entbrannte eine hitzige Debatte, in der die Institutsfrage zur Causa Ulrich wurde.
Ein Kritiker hielt Ulrich vor, er sei nicht in der Lage, eine zukunftsweisende Studentenausbildung zu leisten. „Die Studenten müssen jetzt für den gesamtdeutschen Arbeitsmarkt fit gemacht werden“, erklärte er. „Mit einer personellen Erneuerung des Instituts müssen wir dafür Sorge tragen, dass sie internationale Standards erreichen!“
Im Saal raunte es unwillig, das Scharren der Schuhe wurde lauter und eine Frauenstimme beschwerte sich: „Sie können doch nicht ostdeutsche gegen westdeutsche Kollegen ausspielen. Die Arbeitsbedingungen in der BRD waren ungleich besser als in der DDR.“
Doch die kritische Stimme ließ nicht locker: „Ulrich fehlt jede Forschungserfahrung im Ausland. Wie also soll er seine Studenten auf die Forschung vorbereiten?“
Wieder ging ein Raunen durch den Saal, und die Frau machte ihrem Unwillen Luft: „Bei den Reiseeinschränkungen in der DDR ist es zynisch, so zu argumentieren.“
Leises Murmeln bestätigte sie, und eine weitere Frauenstimme warf ein: „Sie können doch nicht erwarten, dass ein Kollege aus der DDR die gleichen Forschungserfahrungen wie seine westdeutschen Kollegen hat.“ Sie bekam Unterstützung: „Wir hätten auch gern im Ausland gearbeitet!“ – „Jeder in der DDR wäre gern gereist!“ – „Ja, genau!“ – „Stimmt!“, rief es im Publikum. „Können wir etwas dafür, dass wir nicht reisen durften?“
Eine kurze Pause entstand, die der Kritiker sofort nutzte: „Trotzdem brauchen wir jetzt einen Kollegen mit Erfahrung!“
„Sollen wir als Ostdeutsche generalbestraft werden?“, konterte es aus dem Publikum und: „Ist eine DDR-Vita ein Entlassungsgrund?“
Einige Personen im Publikum kämpften: „Wir wollen dieselben Rechte, wie unsere westdeutschen Kollegen! Professorenstellen sind unkündbar und es ist das Mindeste, dass man Rücksicht auf unsere Vergangenheit nimmt und diese uns nicht zum Nachteil auslegt. Wir wollen nicht zwei Mal Opfer werden.“
Plötzlich sprang eine Frau von ihrem Sitz auf und beendete abrupt die Diskussion: „Das kann man doch nicht mit anhören!“, rief sie aufgebracht: „Ulrich war Sekretär der SED. Es ist unverantwortlich, ihn weiter lehren zu lassen. Er hat sich seine Professur mit Systemnähe erschlichen!“
Nun brach der Damm endgültig. Die laute Empörung der Verteidiger entlud sich gegen die kritischen Stimmen: „Wir mussten uns alle anpassen!“ – „Wer sich nicht angepasst hat, hat sich ruiniert!“ Und eine dritte Stimme rief: „Sich öffentlich gegen das System zu stellen, wäre das eigene Karriereende gewesen! Als Professor war er verpflichtet, eine Funktion in der SED zu bekleiden.“
„Trotzdem konnte man sich widersetzen“, erwiderte die Frau und legte Bedacht in ihre Stimme. „Dann hätte man berufliche Probleme eben hinnehmen müssen!“
Doch eine Verteidigerin fand sich mit diesem Argument nicht ab: „Das ist völlig naiv! Wie können Sie es wagen, so zu reden. Mit einer westdeutschen Vita hat man überhaupt kein Recht, hier Moral zu predigen. Sie haben weder unter den Bedingungen der DDR gelebt, noch haben Sie bewiesen, dass Sie sich lieber ruiniert hätten, als Systemnähe zu zeigen. Was hätten Sie denn alles für Ihre Karriere getan?“
Ein Professor stand auf und versuchte zu schlichten. Mit einer Ruhe stiftenden Geste seiner Hand und mit eindringlicher Stimme erklärte er: „Ulrich wurde wie alle anderen Universitätsmitarbeiter politisch evaluiert. Seine Vita ist offiziell unbedenklich. Daran sollten wir uns orientieren.“
Und jemand ergänzte: „Außerdem hat er unter den Bedingungen der DDR die Ethnologie in Linden gerettet. Sollten wir ihm jetzt nicht die Möglichkeit geben, zusammen mit unseren westdeutschen Kollegen das Institut zukunftsfähig zu machen?“
Alex betrachtete die beschlagenen Fensterscheiben, an denen einzelne Wassertropfen breite senkrechte Streifen zeichneten. Sie begriff, Ulrich hatte Feinde. Er wurde massiv aus den eigenen Reihen angegriffen. Die Argumente pro und kontra einer personellen Anpassung an den Westen flogen hin und her, und es schien, als seien die Argumente der Gegner Ulrichs in irgendeiner Weise die rhetorisch stärkeren. Sie argumentierten mit kalten Notwendigkeiten, übersahen bewusst die besondere historische Situation der Ostwissenschaftler und wurden dabei ungerecht gegenüber denjenigen, die Jahrzehnte für die Weiterexistenz des Instituts gekämpft hatten. Das Ausblenden der Bedingungen des Wissenschaftssystems in der DDR wirkte auf Alex rücksichtslos. Doch die Argumente der Befürworter Ulrichs, die genau darauf hinwiesen, kamen aus der Defensive. Mit dem Rücken an der Wand reduzierten sie sich auf die Forderung von Rücksichtnahmen gegenüber ihrer Sondersituation, was ihnen wiederum von den prowestlich Argumentierenden als Schaden für die Studenten ausgelegt wurde. Rücksicht müsse man nicht auf die Lehrenden nehmen, sondern allein auf die Studenten, die ab sofort die bestmögliche Ausbildung erhalten sollten.
‚Fanden sie denn keine Argumente, was ein Ostdeutscher zu der gesamtdeutschen Ethnologie beitragen konnte?‘, fragte Alex sich.
Doch die Ossis waren zu sehr in Verteidigungsreden und Diskussionen um Benachteiligungen vertieft, als dass sie argumentativ in die Offensive gegangen wären. Die Nerven lagen blank. Und plötzlich stand eine Frau mitten im Hörsaal, wies mit ihrem Finger auf eine Kollegin, die eben gesprochen hatte, und rief mit schriller Stimme in den Saal: „Das werden wir uns merken!“
Erst war es still, dann begann der Raum zu kochen und eine weitere Frauenstimme konterte: „Wir wissen, wie viel Sie sich merken können“, und Alex kapierte. Sie spielte auf IM-Aktivitäten an.
Die Berufungskommission tagte nicht öffentlich. Sie bestand vorwiegend aus westdeutschen Professoren und sie fällten eine Entscheidung. Ulrich kam nicht auf die Liste der geeigneten und dem Ministerium vorzuschlagenden Kandidaten. Das Institut bekam einen Leiter aus den alten Bundesländern. Da Ulrich nach seiner Evaluierung nichts vorzuwerfen war, klagte er gegen seine Kündigung und gewann. Die Universität musste ihn wieder einstellen, doch Ulrich wechselte das Institut. Anstatt in der Ethnologie lehrte er nun in den Kulturwissenschaften.
Von den ehemals sieben Mitarbeitern hatte das Institut 1994 noch zwei, die bereits vor der Wende am Institut beschäftigt gewesen waren. Einer von ihnen bewarb sich erfolgreich auf seine eigene Stelle, die allerdings vor der Wiederausschreibung auf drei Jahre befristet worden war. Nach Ablauf dieser Zeit wurde er aus dem Universitätsdienst entlassen. Als einziger Mitarbeiter, der die Evaluierung und die Entlassungen beruflich überlebt hatte, blieb am Institut nur Liebert. Die Studenten nannten ihn von nun an den „Quotenossi“. Dass er an der Universität weiterbeschäftigt wurde, lag auch daran, dass er unter den ehemaligen Mitarbeitern der Älteste war und seine Pensionierung und damit seine Entfernung aus der Universität zeitnah in Aussicht stand.
„Kennst du den?“, fragten sich die Studenten in der Raucherecke gegenseitig: „Zwei Professoren treffen sich auf dem Flur zum Rektorat. Sagt der eine zum anderen leise, ‚Noch der Liebert, dann sind wir ostrein.‘“