Kitabı oku: «Die Hoffnungsvollen», sayfa 7
Am Abend schrieb Alex an Sven und versuchte ihm alles zu erklären. Mehrfach begann sie ihr Schreiben. Jörg war ungefragt in ihr Leben eingedrungen und hatte ihn verletzt, Sven hatte sich zurückgezogen und sie mit dieser Situation allein gelassen. Wieder einmal musste sie begreifen, dass niemand für sie ihr Leben ordnen würde. Nur sie selbst konnte das tun. In den schwierigsten Momenten war sie auf sich allein gestellt. Und da war noch die Frage, was und wie viel diese Nacht zerstört hatte? Natürlich war sie selbst mit Schuld an dieser Situation. Aber die Frage war doch nicht, wer wie viel Schuld trug? Die Frage war, wie man einen Weg fand, glücklich zu sein. Und sie stellte sich erstmals eine weitere Frage. Brauchte sie Sven für ihr Glück? Die Antwort war eindeutig ‚Ja!‘ Sven war ein Mensch, mit dem sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte. Und spontan konnte sie sich erklären, woran das lag. Sie liebte seine kreative Kraft, seinen Ideenreichtum, seinen sensiblen Geist und seinen Humor. Sie sah zu ihm auf und wusste, sie würde von seiner Gegenwart profitieren, sozial und emotional. Seine Sensibilität und Verletzlichkeit waren es, die ihn zu seinem Rückzug getrieben hatten. Und es hätte sie ganz sicher abgestoßen, wenn er Jörgs Faustschlag mit Gewalt erwidert hätte. Sein Rückzug war zwar schmerzlich für sie, aber er passte zu seinem Wesen und wenn sie darüber nachdachte, war er die einzige Möglichkeit gewesen, die Situation zu entschärfen. Auch wenn das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, in Alex nagte, begriff sie doch, dass Svens Reaktion die richtige war. Und schließlich hatte sie allein die Situation gemeistert.
12
An diesem Nachmittag war Alex spät dran. Zehn Minuten nach Arbeitsbeginn stieg sie die Treppen zum Institut hinauf. Während sie das Institut betrat, sah sie, wie Dr. Liebert in seinem Zimmer verschwand; und als sie ihre Jacke auszog, erschien er wieder in seiner Tür. Er ging den Flur entlang zur Bibliothek, und nachdem er kurz durch die Tür geschaut hatte, machte er wieder kehrt und lief zurück zu seinem Zimmer. Alex ging zu ihrem Arbeitsplatz und fragte: „Hab’ ich was verpasst?“
Liebert erschien erneut in der Bibliothek. Er blickte durch den Raum und kehrte wieder um. Eine Studentin beugte sich über den Tisch und flüsterte ihr zu: „Heute hat er noch nichts erzählt.“
Fünf Minuten später stand Liebert wieder an der Tür.
„Wir haben in diesem Semester hundertfünfzig Studenten, und keiner von ihnen liest“, kommentierte er ärgerlich den leeren Raum, in dem nur die studentischen Hilfskräfte Bücher katalogisierten.
„Noch vor fünf Jahren haben wir um jeden einzelnen Studenten gekämpft, gegen Immatrikulationssperren und gegen das Abwerben durch größere Fächer. Früher studierten nicht mehr als fünfundzwanzig Studenten aller Jahrgänge bei uns. Wir konnten jeden Studenten individuell betreuen. Heute erkennen wir unsere eigenen Studenten auf der Straße nicht mehr.“ Drohend erhob er den Zeigefinger. „Sie ruinieren sich Ihr ganzes Leben mit diesem Studium. Keiner von Ihnen hat eine Chance, jemals eine Stelle zu bekommen.“ Entschlossen ging er zur Tür, dann drehte er sich noch einmal um. „Wir bilden hier nur für das Sozialamt aus.“ Er machte kehrt und sich auf den Weg zu seinem Zimmer.
Liebert war vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt und Junggeselle. Er hatte weder Frau noch Kinder und lebte nur für das Institut. Seit seiner frühen Jugend war er an die Ethnologie gebunden, zunächst als Student in den Fünfzigerjahren, dann als Assistent und schließlich als unbefristeter wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Täglich sah man seine kleine, gedrungene und gebeugte Gestalt durch die Flure des Instituts wandeln. Sein oft müdes Gesicht mit den bläulich verfärbten Augenringen stand in einem auffälligen Gegensatz zu seinen lebendigen Pupillen, die er – wenn er einmal aufblickte – gern strafend in die Gesichter der Studenten blitzen ließ. Seinen Kopf mit dem schütteren braunen Haar hielt er stets leicht gesenkt, als müsse er sich vor dem lebhaften Tumult der Studenten schützen. Selten sah man ihn auf dem Flur in eine Unterhaltung vertieft. Immer war er in Bewegung, aber nicht zielstrebig oder beschäftigt, sondern monoton und gleichförmig, als sei der Gang über den Flur das Ziel seines Lebens.
Liebert hatte seine eigene Inventarnummer. An welcher Stelle seiner Gestalt sie zu finden sei, darüber wurde viel spekuliert. Und noch etwas machte ihn unverwechselbar. Die Studenten kannten ihn ausschließlich im immer gleichen Anzug aus ‚Präsent 20‘, einem Rundstrick aus Polyester. Sie hatten herausgefunden, dass dieser Stoff nur bis Mitte der Siebzigerjahre in der DDR hergestellt und verkauft worden war. Es war also bemerkenswert, dass Liebert diesen bügelfreien Rundstrickstoff in den Neunzigerjahren immer noch trug. Der Anzug schien in all den Jahren an keiner einzigen Stelle fadenscheinig geworden zu sein oder sich verformt zu haben.
„Liebert, in seinem Anzug, ist ein Sinnbild ostdeutscher Qualitätskonfektion“, witzelten die Studenten in der Raucherecke. „Der Anzug wird selbst im Grab noch seine Form behalten.“ Und Sven, der Archäologe, hatte dazu bemerkt: „Wenn unsere alten SED-Kader mit ihrem ‚Präsent 20‘ in tausend Jahren ausgegraben werden, dann können die Archäologen den Anzug sofort anziehen und auf Vortragsreise gehen.“ Die Studenten kicherten, und einer ergänzte: „Nur mit der Zigarette sollte man ihm nicht zu nahe kommen. Das Zeug brennt wie Zunder. Liebert könnte als Fackel enden.“
Doch Liebert war für die Studenten nicht nur der störrische alte Kauz. Er war auch der stets Mahnende, das Gewissen des Instituts. Seine desillusionierenden Zukunftsprognosen waren unter den Studenten gefürchtet. Unvermittelt tauchte er wie ein Schatten aus dem Nichts auf und fragte zornig: „Welche Fächer studieren Sie noch?“
Wenn die Studenten dann höflich ihre Fächer aufzählten, winkte er nur ab. „Bürgerliches Herumstudieren hat man das in den Fünfzigern genannt. Sie studieren mal dies und mal jenes, ohne Ziel und Verstand. Wo wollen Sie denn später arbeiten?“
Hilflos wirkte da die Selbstverteidigung der Studenten. „Wir wollen uns fachübergreifendes Wissen aneignen.“
Liebert lachte nur darüber. „Als ob hier jemand fachübergreifendes Wissen hätte. Wir produzieren hier Magister und Doktor phil., die nicht wissen, wer Platon, Sokrates, Leibniz, Kant und Hegel waren.“
Dann drehte Liebert den Studenten unvermittelt seinen Rücken zu und sie konnten hören, wie er noch beim Weggehen vor sich hin brummte: „Unverantwortlich!“
Liebert war ein klassischer Enzyklopädiker. In seiner jahrzehntelangen Lehrpraxis hatte er sich ein wahres Kompendium an Wissen angeeignet, das er in seinen Unterricht einbezog und in den Prüfungen abfragte. Er rezitierte die Namen, Daten, Gedanken und Kritiker wichtiger Denker von der Antike bis zur Gegenwart, und jedes Wirtschaftssystem hatte in seinen Ausführungen seine eigene Prägnanz. Seine Studenten mussten Ethnien vom äußersten Westen Amerikas bis Australien und deren Wirtschaftsformen im Detail herunterbeten.
Doch im Unterricht wurde seine Erscheinung immer hoffnungsloser und seine Witze immer zynischer. Wenn er auch ab und an die Referenten von Seminararbeiten mit auf die Brust herabgesunkenem Kopf und leisem, aber rhythmischen Schnarchen begleitete, kommentierte er doch gern auch die Auswüchse der zum Massenfach mutierten Ethnologie auf eine Weise, die den betroffenen Studenten die Röte ins Gesicht schießen ließ: „Das war ein durchschnittliches Referat. Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen.“ Oder er thematisierte die umfassende Unwissenheit der heutigen Abiturienten: „Wenn Sie wenigstens Gedanken hätten, dann hätte auch die Sprache für Sie einen Sinn“, und wenn es keine Publikumsmeldungen auf seine Fragen gab, dann rächte er sich mit dem Satz: „Da steh’ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“
Er kämpfte auch gegen das mangelnde Verantwortungsgefühl vieler Studenten, die nicht nur Seminare versäumten, sondern auch zu ihren eigenen Referaten nicht erschienen, sodass das Seminar ausfallen musste. Doch sein Kampf war ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Er führte als einzige Lehrkraft Anwesenheitslisten. Am Ende des Semesters musste jeder Student, der einen Schein für die Teilnahme an einem Seminar haben wollte, bei ihm vorsprechen, mit ihm die Listen durchgehen und auf jeder Seite des Anwesenheitsheftes auf seinen Namen tippen. Wer auf mehr als drei Seiten nicht tippen konnte, dem verweigerte Liebert den Schein. Doch die Studenten fanden auch hier einen Weg, der Kontrolle zu entgehen. Wer selbst nicht anwesend sein wollte, ließ einen Freund für sich unterschreiben, was Liebert bemerkte, aber seufzend ignorierte.
Als Liebert wieder in der Bibliothekstür erschien, versuchte ihn Alex abzulenken: „Erzählen Sie uns doch von Ihrem Studium.“
„Erzählen?“, konterte Liebert und zitierte Talleyrand: „Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.“
Liebert verschwand und schnaufte den Flur entlang, um nach zwei Minuten wieder in der Tür der Bibliothek aufzutauchen.
„Na gut, Sie können ja auch nichts dafür“, lenkte er milde ein. Er trat in den Raum und lehnte sich auf den Bibliothekskatalog.
„Heute verdienen sie sich alle was dazu. Das war bei uns eher unüblich, aber arbeiten mussten wir trotzdem, gemeinnützige Arbeitseinsätze hieß das, freiwillige Pflicht für jeden Studenten, in der Brikettfabrik zum Beispiel. Mitten im Winter haben wir den Kohlendreck aufgeschippt, der von den Förderbändern gefallen ist, und dann in Eisenbahnwaggons verladen. Oder wir waren beim Ernteeinsatz, haben Zucker- und Futterrüben gezogen, die dann entblättert und auf Lkws abtransportiert.“
Dann grinste er. „Kennen Sie das Gespräch zwischen dem Westhasen und dem Osthasen?“
Sie schüttelten den Kopf, und Lieberts Augen leuchteten auf, während sich die Furchen seiner Falten noch tiefer in sein Gesicht einkerbten. Ein breites Schmunzeln machte seine sonst eher verkniffenen schmalen Lippen voll und weich. Seine Brust dehnte sich, und er erhob seine Arme, als wolle er eine Arie anstimmen.
„Nein? Dann hören Sie mal zu. – Der Westhase und der Osthase treffen sich an der Grenze und kuscheln in einer Mulde, wo der Grenzposten sie nicht sieht. Da sagt der Westhase zum Osthasen: ‚Osthase, bald wird es kalt, komm zu uns. Manchmal gibt es Wildfütterung, und wir Tiere haben’s gut!‘ Doch der Osthase grinst nur und schüttelt den Kopf: ‚Nein, nein, Westhase, bei uns hast du’s besser. Hier sind noch so viele Kartoffeln und Rüben im Boden, dass es für den ganzen Winter reicht!‘“
Liebert nickte lächelnd vor sich hin. „Darüber haben wir damals gelacht … über das völlige Versagen des Systems. Heute, wo ich Hunderte Studenten in den Ruin führe, kann ich nicht mehr lachen.“
Schweigend sahen ihn die drei Hilfskräfte an, und Liebert fuhr fort: „Wir haben auch in Schweineställen in Vorpommern gearbeitet. Die Schweine waren so dünn, dass Klaus, mein Kommilitone, auf die Idee kam, ihnen Knoten in die Schwänze zu machen, damit sie nicht durch die Gitter entkommen.
Und nachts mussten wir natürlich Wache halten, um die LPGs vor westlichen Saboteuren und Agenten, oder Sabogenten, wie wir sie nannten, zu schützen. Im Nachbarort wurde dann ein Agent verhaftet. Der hätte sich besonders geschickt als Instrukteur einer FDJ-Leitung getarnt – und später hatte sich herausgestellt, dass seine Tarnung echt war.“
„Das klingt ja spaßig“, nickte Sandra. „Aber wenn man heute in den Medien was über die DDR hört, dann könnte man denken, das Land war so schwarz, wie der Kohlendreck, den sie geschaufelt haben.“
„Ja, ja,“ winkte Liebert ab, „man konnte als Akademiker auch unfreiwillig in die Produktion kommen, zur Bewährung zum Beispiel, wenn man verbotene Revisionistenliteratur gelesen hatte, wie Karl Kautsky oder Georg Lukács. Das könnte den heutigen Studenten nicht passieren, die lesen nämlich überhaupt nichts mehr.“ Ruckartig wandte sich Liebert wieder von ihnen ab und verließ die Bibliothek.
∞
In den nächsten Wochen suchte Alex in der Bibliothek nach neuen Aufgaben. Die Katalogisierung von Neuzugängen war ihr bald über geworden. Doch sie hatte eine Idee. Liebert war nicht auf dem Flur, sie lief zu seinem Zimmer, klopfte und bat ihn um ein Gespräch.
„Wir sollten einen Sachkatalog einführen“, erläuterte sie ihren Plan. „In unserem alphabetischen Katalog kann man nur nach Autorennamen recherchieren.“
„Das ist völlig ausreichend“, wiegelte Liebert ab und sah nur kurz von seinem Schreibtisch auf.
Doch Alex ließ nicht locker: „Die meisten Studenten kennen aber die Autorennamen nicht. Besonders neue Studenten und Nebenfächler finden sich nicht zurecht. Sie haben keinen Zugang zu den Büchern, die sie hier lesen könnten.“
„Diese Kenntnisse kann man im Studium erwerben, falls man zu den Vorlesungen kommt.“ Liebert spielte auf die von ihm viel zitierte Faulheit der Studenten an, die die Vorlesungen und Seminare seiner Meinung nach methodisch schwänzten und sich lieber außeruniversitären Vergnügungen hingaben.
„Wir bekommen aber immer mehr Bücher von unbekannten Autoren. Es gibt ja nicht nur die Klassiker, die jeder kennen sollte. Man muss in der jüngsten Literatur auch querlesen können. Das geht nur, wenn man seine Lektüre nach thematischen Kriterien zusammenstellen kann.“
„Meinen Sie wirklich, dieser Aufwand lohnt sich, wenn Sie in die leere Bibliothek sehen?“ Inzwischen hatte er seine Papiere zur Seite geschoben und sah sie durchdringend an.
„Wer studieren will, der sollte auch den besten Zugang zur Bibliothek haben“, erwiderte Alex. „Die jüngsten Anschaffungen verlieren sich in der Bibliothek. Wenn wir sie nicht zugänglich machen, dann brauchen wir sie auch nicht zu kaufen.“
„Und wie wollen Sie den Katalog aufbauen?“
Alex atmete auf, sie hatte ihn fast überzeugt. Schnell holte sie ihre Skizze hervor und begann ihr Vorhaben ausführlich zu erläutern.
„Ich denke, wir gliedern den Katalog sowohl nach den regionalen als auch nach den thematischen Schwerpunkten des Studiums. Wir orientieren uns an den Hauptvorlesungen. Dazu müsste man für jedes neue Buch fünf Karteikarten anfertigen, eine für den Autorenkatalog, eine für die regionale Einordnung und drei für die Themen, die das Buch bearbeitet.“
„Gut, schreiben Sie mir eine Liste mit den Schlagworten. Ich prüfe sie dann mit Ihnen.“ Er wendete sich wieder seinen Papieren zu: „Ich habe jetzt zu tun, bitte gehen Sie.“
Alex machte sich an die Arbeit. Sie entwarf alle Themengruppen des Katalogs. Dann schrieb sie erste Karteikarten mit einer elektrischen Schreibmaschine, die immerhin erlaubte, einen Text mehrfach auszudrucken, und sortierte sie ein. Liebert war schließlich einverstanden mit dem Ergebnis und der Katalog blieb.
13
Endlich hielt sie Svens Antwort in den Händen. Den Brief hatte sie bereits auf der Treppe aufgerissen und nun las sie belustigt, dass er nach Jörgs Faustschlag auf sein Kinn fast eine Woche seinen Kiefer nicht mehr richtig hatte bewegen können.
„Der coup de poing hat mich so aus der Umlaufbahn geworfen, dass an eine Rettung meiner Geliebten nicht zu denken war. Die schweren seelischen und körperlichen Verletzungen mussten mit einer Überdosis schöngeistiger Literatur und gelehrsamen Graudrucks geheilt werden. Ich würde mich überaus freuen, wenn du meinen Rückzug verzeihen und mich nächsten Freitag wieder gnädig in deinen Armen aufnehmen könntest. Wir könnten für zwei Tage nach Berlin fahren.“
Sven trug ihr also die Geschichte mit Jörg nicht nach. Sie würden sich wiedersehen, schon bald, und mit dieser Gewissheit eilte sie zur Vorlesung ans Ethnologische Institut.
Dort drängten sich die Studenten im Hörsaal. Sie strömten in einem Gewirr fröhlicher Stimmen durch die Türen, schoben sich und scharrten unaufhaltsam redend mit den Stühlen, hängten – immer noch redend – ihre Jacken schief auf die Lehnen, hoben sie lässig wieder auf, wenn sie herunterfielen, setzten sich und plauderten mit ihren Nachbarn über Partys, Konzerte und andere abendfüllende Unternehmungen.
Alex nahm das Stimmengewirr wahr und sie fühlte sich passend unter den Studenten, die eine alle Alltagssorgen entbehrende Ausgelassenheit zeigten, wie sie eben nur Studenten eigen ist. Keine Existenz- oder Zukunftssorgen belasteten hier die Stimmung. Hörte man ihnen zu, dann war es, als wäre von jedem von ihnen die Last einer jahrelangen Bedrückung abgefallen. Als wären sie plötzlich befreit worden, um sich endlich in das Abenteuer Jugend zu stürzen. Die nie abreißenden Gespräche kreisten darum, was man erlebt hatte, plante zu erleben und was zu erleben man unbedingt weiterempfahl. Wenn sie dann und wann stöhnten, dann nur, weil ein schriftliches Referat kurz vor der Abgabe stand oder Prüfungen absolviert werden mussten. Die Studenten des Instituts für Ethnologie erlebten, als hätten sie nur diese fünf Jahre Zeit, die Welt, wie sie ist, zu umarmen und alles zu probieren, was sie zu bieten hatte. Das hatte eindeutigen Vorrang vor allen studentischen Pflichten, die als lästige Begleiterscheinungen ihres Studiums nebenbei erledigt wurden. Die Abende wurden angefüllt mit dem, was der urbane Kontext der Universität zu bieten hatte. Ein Abend allein im eigenen Zimmer oder gebeugt über den Schreibtisch war Grund für tröstendes Mitleid. Der Unternehmungsdurst hatte sie fest im Griff und von Alltagssorgen hatten sie noch nichts gehört, geschweige denn gefühlt. Selbst die Zukunft zu sein, das war das Elixier, aus dem sie ihre innere Freiheit schöpften, alles zu tun, was ihnen gerade in den Sinn kam und alles zu lassen, was Arbeit auch nur im Entferntesten ähnelte.
Dort saß Sabine und Alex sah, dass neben ihr und einer weiteren Kommilitonin noch ein Platz frei war. Sabine nickte auf ihre Frage, ob sie sich dazusetzen dürfe, und konzentrierte sich gleich wieder auf die Unterhaltung, die sie mit ihrer Nachbarin führte.
„Ich habe einen süßen Typen kennengelernt“, bekannte diese. Sie hieß Manja und studierte im selben Semester wie Alexandra.
„Er studiert Kommunikations- und Medienwissenschaften. Wir haben uns verabredet zum Inchtabokatables-Konzert, nächste Woche.“ Fröhlich lachte sie: „Was für ein Name.“
Alexandra mischte sich sofort ein. „Dann übt schon mal den Namen. Wer ihn am Einlass richtig ausspricht, bekommt freien Eintritt. Ich habe sie übrigens auch schon gehört, zu Silvester. Wir haben Freunde besucht, Archäologen, und waren beim Konzert. Herrlicher Folk-Rock. Das lohnt sich.“
„Und habt ihr den Namen richtig ausgesprochen?“
„Nein, aber einige nach uns haben das geschafft. Zu Silvester sind wir übrigens weiter an die Ostsee gefahren, wo wir in einer alten Burgruine im Freien geschlafen haben.“
„Letztes Silvester war ich nur auf einer Party, aber letztes Wochenende waren wir in Berlin.“
„Berlin?“, vergewisserte sich Alex. Das war doch ihr Ziel für das nächste Wochenende. Sie musste lächeln, während der Hörsaal stiller wurde, weil Dr. Liebert dreimal versucht hatte, sich Gehör zu verschaffen.
14
Am Mittwoch gegen acht erwachte Alex vom Klingeln an der Wohnungstür. Noch halb im Schlaf trottete sie durch den Flur, öffnete und stand vor einem fremden Mann, seriös gekleidet, mit schwarzem kurzem Haar, Mitte vierzig.
„Sind Sie Alexandra Sanger?“, fragte er ohne Umschweife.
Alex nickte und sah fragend zu dem Fremden auf, der sie amüsiert anlächelte.
„Ich bin ein Kollege Ihrer Mutter“, erklärte er seinen plötzlichen Besuch. „Sie wird nachher bei Ihnen nach dem Rechten sehen, wenn wir unseren Termin hinter uns haben. Ich wollte Sie nur warnen, räumen Sie Ihr Zimmer auf.“
Immer noch lachend drehte er sich um und winkte ihr beim Gehen zu. Alex blieb verdutzt an der Tür zurück. Ihr Auftritt im gestreiften Schlafhemd, mit nackten Beinen musste den Fremden erheitert haben. Sie strich sich über das wirre Haar und dachte an ihr ungewaschenes Gesicht. So stand sie noch eine Weile an der Tür, bis sie endlich registrierte, dass es an der Zeit war, sie zu schließen. Sie trottete in ihr Zimmer zurück und sah sich um.
Der Fußboden und die Tische lagen voller Papiere und Bücher, dazwischen standen schmutzige Gläser und Teller, lagen Taschentücher und Knüllpapier. Ihre Kleidung war im ganzen Raum verteilt, und auf dem Tisch stand ein überquellender Aschenbecher. Kurzum, ihr Zimmer war der Albtraum jeder Mutter.
‚Muss das heute sein?‘, dachte sie. Immer dieses Misstrauen, dieses ewige Misstrauen. Ihre Eltern hassten den Gedanken, dass sie in einem Abrisshaus wohnte. Sie kannte deren Angst vor Alkohol und Drogen, und eine solche Wohnsituation musste sich für sie mit diesen Gefahren verbinden.
Doch als Alex ihre Eltern Monate nach ihrem Umzug über ihre neuen Wohnverhältnisse aufgeklärt hatte, hatte sie auch darauf hingewiesen, dass sie die nächste Zeit für ihre erste Forschungsreise sparte und jeden Pfennig, den sie nicht in die Miete stecken musste, zurücklegen wollte. Sie leistete sich nichts und arbeitete sowohl während des Semesters als auch der Semesterferien. Das war für Alex der Inbegriff vorbildlichen Verhaltens, was wollten ihre Eltern mehr?
Die sahen das anders. Ihr Vater hatte die Forschungsreise für ein absurdes Hirngespinst gehalten, und ihre Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt. Beide machten ihr keine langen Vorhaltungen, das hatten sie nie getan. Doch sie spürte deutlich ihren Widerwillen. Mit ihrem Schweigen gaben sie ihr zu verstehen, dass sie nichts von ihrer Wohnungswahl hielten. Das Leben in einem quasi besetzten Haus gehörte sich nicht. Es passte nicht in ihre Welt von Anstand und bürgerlicher Moral.
‚Muss ich jetzt mit Schrankwand, Fernseher und Schrebergarten leben, um euch angepasst genug zu sein?‘, hatte sie gedacht, und die Erinnerung an das Leben ihrer Eltern, die immer darauf bedacht gewesen waren, niemals aufzufallen, hatte Abscheu in ihr ausgelöst.
Natürlich, sie hatten sich in der DDR niemals einspannen lassen. Politischen Eifer hatte es bei ihnen nie gegeben: ‚Welch ein Glück‘, dachte Alex. Aber die Freiheit der Kleinen, die in der Masse schwimmen und sich in der Bedeutungslosigkeit verlieren, nur um frei zu sein, reichte ihr nicht.
Sie wollte sich ein Netzwerk aufbauen, von dem sie profitieren konnte. Dazu gehörte es, unter Menschen zu leben. Das einsame Leben ihrer Kindheit, ohne Freunde und Gäste im Haus, nur im engsten Familienkreis, erschien ihr sinnlos. Wie hatte sie als Kind ihre Freundinnen beneidet, wenn sie das vergnügte Miteinander, die Lebendigkeit des Zusammenseins in deren Familien beobachtet hatte. Sie hatte väterliche und mütterliche Freunde vermisst. Denn von ihnen hätte sie lernen können, wie der Umgang mit Menschen funktioniert.
Ihre neuen Kompetenzen bereicherten sie. Sie wusste, sie waren der Schlüssel zu Erfolg und Karriere. Nur, wer im Gespräch stand, wurde beachtet und nur wer beachtet wurde, wurde auch gefördert. Das galt besonders für ein Massenfach wie die Ethnologie. Soziale Kompetenz war diejenige Fähigkeit des Menschen, die am häufigsten mit Intelligenz verwechselt wurde und das besonders von denjenigen Lehrkräften, die kaum Zeit hatten, von ihrer Arbeit aufzublicken, um ihre Studenten persönlich kennenzulernen. Wer sozial aktiv war, gewann die Sympathie und die Anerkennung seiner Mitmenschen ganz nebenbei, ohne sich anstrengen zu müssen.
Alex hatte lange an sich arbeiten müssen. Sie hatte die Leichtigkeit der Unterhaltungen ihrer Kommilitonen stets bewundert, besonders der westdeutschen, die mit den Lehrern in lockerem Austausch standen, spaßten und scherzten. Deren Körpersprache strahlte Selbstverständlichkeit aus. Sie flogen in der Unterhaltung, die Gestik ihrer Arme und die Mimik ihrer Gesichter harmonierten mit ihrer Sprache, und ihre Fröhlichkeit wirkte so selbstverständlich, als wären sie nicht der Schwerkraft ausgesetzt. Sie wollte selbst fliegen lernen, die Leichtigkeit der Kommunikation erwerben, lernen, sich unter Menschen wohlzufühlen. Und gerade der Einzug in diese Hausgemeinschaft war ein bewusster Schritt aus ihrer Isolation gewesen. Das aber würden ihre Eltern nie verstehen.
Alex beschloss, sich umzukleiden. Dann begann sie, ihre Unterlagen zu sortieren und das Zimmer aufzuräumen. Zum Schluss wischte sie Staub und saugte den Teppich, den sie mit Tilo bei der Messe besorgt hatte. Zufrieden sah sie sich im Zimmer um. In den anderthalb Jahren, die sie hier wohnte, war es um einige Einrichtungsgegenstände reicher geworden. Zwischen den Fenstern hatte sie zwei dunkelgebeizte Kellerregale aufgestellt, in denen sie nun ihre Bücher versammelte. Sie erfreute sich daran, dass die Regale immer voller wurden. Mitten im Raum stand die blaue Sitzgruppe, deren Beine sie so gekürzt hatte, dass die gepolsterten Stühle schräg nach hinten geneigt standen. An dem ebenfalls tiefergelegten Tisch zeugte ein kleines Messingplättchen davon, dass es sich einst um einen Bibliothekstisch gehandelt hatte. An der linken Zimmerseite lag eine Matratze, auf der sie schlief, und über ihr hatte sie die Wand mit Schnüren und Stoffen in Knüpftechnik gestaltet, sodass ein spinnenwebenartiges Gebilde entstanden war. Aber die wichtigsten Einrichtungsgegenstände waren ihr Schreibtisch vor dem Fenster, mit ihrem Computer und einem alten Drehstuhl, von dem sie sich einbildete, dass er in den Achtzigerjahren bereits einem Akademiker gehört hatte. Alex setzte sich an den Schreibtisch und wollte gerade ein Buch aufschlagen, als es klingelte.