Kitabı oku: «Das Mädchen im Schloss», sayfa 2
Kapitel 2
Wie Amélie beinahe ein Segel in ihrer Suppe gefunden hätte und im Clavichord die Welt der Musik für sich entdeckt
Amélie war heute nicht heimlich, sondern mit Erlaubnis der Hofmeisterin ganz allein im Schloss unterwegs. Das Mittagessen nahmen sie und ihre Geschwister gemeinsam ein. Mit Ausnahme des ältesten Bruders Ferdinand, der im so genannten Kleinen Schloss unweit des großen Schlosses mit seinem eigenen Hofstaat• und den Lehrern lebte, lernte und aß, wie es die Sitte für den Thronfolger erforderte. Alle übrigen Kinder der herzoglichen Familie hatten sich an jedem Wochentag um Punkt 12 Uhr im großen Speisesaal zum Mittagessen einzufinden. Und irgendwann war es beendet. Die Mutter, die Wert darauf legte, alle ihre Kinder einmal am Tag gemeinsam zu sehen, war heute ausnahmsweise nicht zugegen gewesen. Stattdessen hatte Madame Benzin als einzige Erwachsene mit den herzoglichen Kindern am Tisch gesessen, um diese zu beaufsichtigen.
Der Gesichtsausdruck der Dame war von einer derartig kalten und unbeweglichen Strenge gewesen, dass Amélie, die ihr direkt gegenüber saß, am liebsten auf der Stelle davongelaufen wäre. Sie fürchtete sich nämlich vor harten Worten und davor, getadelt zu werden, was leider zu oft geschah. Doch dann wurde sie zum ersten Mal in ihrem Leben von diesem später noch so häufig empfundenen unbezwingbaren Drang ergriffen, erst recht standzuhalten und aufrecht an ihrem Platz zu verharren.
Sie musste dieses Gesicht der Benzin immerfort ansehen – unauffällig, versteht sich, aus niedergeschlagenen Augen – und zwar so lange, bis sich irgendetwas, nur eine Kleinigkeit, darin ändern würde. Dann nämlich hörte die Angst auf. An deren Stelle aber hatte sich eine freche kleine Phantasie in ihren Kopf geschlichen, eine Art banger Erwartung – oder vielleicht war es auch eine heimliche Hoffnung. Was, wenn die lange dünne Nase der Hofdame in einer plötzlichen Regung von Ungehorsam auf einmal an dem silbernen Esslöffel festwachsen würde? Und zwar genau in einem jener Momente, in dem sie ihn, mit einer Portion Suppe gefüllt, in den Mund hinein beförderte? Amélie konnte es genau vor sich sehen: Madame Benzin würde den Löffel zunächst in der gewohnten würdevollen Langsamkeit mit der rechten Hand abwärts zum Teller führen, in die Suppe tauchen, dann frisch gefüllt bis an die Lippen heben und zur Abkühlung einen Augenblick ruhig halten. Aber dann! Auf dem Rückweg vom Mund zum Teller würde die Nase unverrückbar am Löffel kleben bleiben, sich also mitsamt diesem immer weiter vom Gesicht entfernen. Schließlich würde sie unten mit in der Suppe landen und wie ein kleines Segel daraus aufragen. Oder womöglich von den graugrünen Wogen der Suppe überspült werden wie bei Sturm der kleine Felsvorsprung an der Oker. Wie die gestrenge Dame wohl aussehen würde – so ohne Nase?
Amélie hielt unwillkürlich im Essen inne. Nur mühsam unterdrückte sie ein Kichern. Um ein Haar hätte sie, die gebotene Contenance• vergessend, fast auch noch gegen das Redeverbot verstoßen, welches stets – bis auf das vor Beginn gesprochene Tischgebet – für die gesamte Zeit des Essens galt. Denn beinahe hätte sie ihren Lieblingsbruder Friedrich, der neben Madame am Tisch gegenüber saß, laut gebeten, das fantastische Geschehen schnell mit seinem Silberstift in das kleine, rote, in Wachstuch eingeschlagene Papierheft zu zeichnen, das er immer bei sich trug, um sich darin Sätze, Zahlen oder Kuriositäten• zu notieren. Doch ein Kontrollblitz aus Madames Augen hatte sie zurückgeholt und das ganze Unterfangen verhindert. Ihren zweiten Gedanken, dass schließlich ja auch ihre eigene, Amélies Nase, am Löffel kleben bleiben und am Ende im Tellergrund untergehen könnte, hatte sie infolgedessen nicht mehr zu Ende denken können. Sie hatte ja schließlich nicht zu träumen, sondern weiter zu essen, nach dieser schier unendlichen Portion Vorsuppe noch Hauptgericht und Dessert zu bewältigen, und zwar möglichst viel davon. Denn sie war dünn, zu dünn, geradezu dürr wie eine Bohnenstange, wie Caroline nicht ohne jenen verhassten triumphierenden Unterton in der Stimme bemerkte.
Diese Suppe! Schon morgens gab es nichts außer Milchsuppe oder einer Getreidegrütze zu essen – schon allein das Wort Grütze war eine Zumutung! Aber das war so üblich, auch in einem Adelshaushalt, hatte die Oberhofmeisterin den Kindern mit freundlichem Bedauern erklärt, als Friedrich eines Morgens mutig fragte, ob er Hühnchen bekommen könne. Schließlich mussten die Kinder an vielen Wochentagen schon vor dem Frühstück eine Stunde Sprachunterricht bewältigen. Und Lernen macht auch die strebsamsten Kinder bekanntlich hungrig. Doch die Vorsuppe am Mittag schmeckte genauso grausig wie der Brei vom Morgen.
Neulich, beim festlichen Diner• mit Gästen, da hatten in der Vorsuppe unter einer der ebenso seltenen wie verheißungsvollen Sahnehauben kleine rosafarbene Stückchen geschwommen. Und in der üblichen Unterweisung vor dem Mahl hatte die Hofmeisterin den Kindern erklärt, es handle sich um Krebsfleisch. Aber schwammen nicht Krebse sonst äußerst lebendig mit ihren großen Scheren im Meer herum? Jedenfalls hatten diese Krebse, das wusste Amélie todsicher, auf geheimnisvollen Wegen noch mit Scheren die Freitreppe des Wolfenbütteler Schlosses überwunden – schließlich hatte sie einen wahrscheinlich heruntergefallenen dort liegen sehen – und waren nun ohne in der Festsuppe gelandet. Hier taten sie keinen Mucks mehr und wurden von allen am Tisch gleichmütig verspeist. Und wie immer fand niemand außer ihr, Amélie, etwas Besonderes daran. Ob Amalunde, die Nixe, schon lebenden Krebsen begegnet war? Bestimmt! Im Fluss sollte es doch auch welche geben, aber nur ganz kleine. Die würde sie aber gewiss nicht essen, lieber würde sie mit ihnen plaudern. Denn wahrscheinlich konnten sie ebenso gut sprechen wie Amalunde. Amélies Herz klopfte. Die Nixe – ihre Nixe, ihre Amalunde. Amélie und Amalunde.
„A-ma-lun-de!“, sie sprach es leise vor sich hin. Welch ein wundervoller Name! Das klang wie Musik: herrlichste grüngoldene Wassermusik. Überhaupt sollte sie jetzt besser an die Musik denken! Die Unterhaltung mit der Nixe vor drei Tagen würde ihr sowieso niemand glauben, am wenigsten die Mutter, die sich, wenn sie zwischen ihren zahllosen Audienzen• und Korrespondenzen•, Bällen und wohltätigen Besuchen einmal Zeit hatte, nicht gerade brennend dafür zu interessieren schien, was in ihrer Amélie vorging.
Ja die Mutter! Eigentlich hatte Amélie zu ihr gar keine persönliche Beziehung. Ihrer Kammerfrau•, der Piperin zum Beispiel, fühlte sie sich viel näher. Ihre Mutter bewunderte sie eher aus der Ferne. Philippine Charlotte war hochmusikalisch, hatte eine wohltönende Stimme und spielte verschiedene Instrumente, unter anderem Flöte. Amélie hörte gern zu, wenn die Damen und Herren sich an den Montagabenden im großen Saal einfanden und gemeinsam musizierten. Und wenn sie dann in dem Zusammenklang der verschiedenen Instrumente den feinen festlichmetallischen Klang des Cembalos heraushörte, das die Mutter so wundervoll zu spielen verstand, wurde ihr warm, viel wärmer als von der schrecklichen Suppe.
Pünktlich um ein Uhr sollte sie sich im Musikzimmer einfinden. Zum ersten Mal ganz allein! Heute wollte der Weg durchs Schloss wohl gar nicht enden! Er führte durch lange Flure, in denen unzählige Verwandte der herzoglichen Familie aus riesigen Rahmen von den Wänden auf Amélie herabsahen. Fast noch strenger blickten sie als Madame Benzin. Niemand dieser entfernten Vettern, Onkel, Großtanten und Urahnen lachte oder lächelte. Die Kinder konnte man nur daran erkennen, dass sie auf den Gemälden kleiner als die Erwachsenen dargestellt waren. Ansonsten sahen sie genau so ernst und würdevoll aus und waren auch ebenso gekleidet wie die Erwachsenen. Alle, kleine Mädchen und kleine Jungen, trugen Kleider. Jungen hielten Vögel oder Waffen in den Händen, nur daran waren sie zu erkennen. Amélie fürchtete sich immer ein wenig, durch diese Flure zu gehen. Als sie die Treppe überwunden hatte, wusste sie, dass jetzt der riesige Eckspiegel mit dem breit geschwungenen Goldrahmen kommen würde und sie der schmächtigen Gestalt mit dem Buckel, die sie dort gleich vorüberhuschen sehen würde, nicht entgehen konnte. Aber diesmal wandte sie einen Trick an, um die schreckliche Wölbung hinten an ihrer Schulter verschwinden zu lassen: Sie ging seitwärts, sodass sie sich die ganze Zeit nur von vorne sah. Das ging. Im Weitergehen zupfte sie unwillkürlich unten am Saum ihres dunkelgrünen Samtkleides, das, von der Taille an abwärts von einem unsichtbaren Drahtgestell festgehalten, weit vom Körper abstand. Sie mochte einfach nicht leiden, dass der weiße Spitzenbesatz des Unterrocks darunter hervor schaute, aber das entsprach ja wohl der neuesten französischen Mode. Das behauptete jedenfalls die Oberhofmeisterin.
Jetzt war Amélie vor dem Musikzimmer im zweiten Obergeschossangekommen, wo die herzoglichen Kinder und ihr Hofstaat ihre Räume hatten. Kein Laut war zu hören, die hohe Tür geschlossen. Vorsichtig drückte Amélie die Klinke herunter, öffnete, trat ein. Sie blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, blinzelte, aus der Düsternis der Flure kommend, einen Moment in die Helle des Sonnenlichts, das den Raum freundlich durchflutete. Dann atmete sie tief ein, nahm all ihren Mut zusam men und durchquerte, die neue blaue Mappe für den Unterricht fest unter dem Arm, den Raum. Sie hörte den Nachhall ihrer eigenen Schritte auf dem Parkett, bis sie vor dem Instrument angekommen war, wo sie erst einmal abwartend stehen blieb.
Vor der hellen Fensterfront zeichnete sich die hohe, sehr schlanke, um nicht zu sagen; hagere Gestalt eines jungen Mannes ab. Er trug einen einfachen schwarzen Anzug mit Stehkragen und ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf, unter dem krauses, ein wenig dünnes, dunkelblondes Haar hervorschaute. Der Lehrer trug keine Perücke! Nun wandte er sich der Ankommenden zu. Er nahm ehrerbietig seine Kopfbedeckung ab, schritt dann auf Amélie zu und verneigte sich grüßend vor ihr, wobei sein Oberkörper in diesem kurzen Augenblick eine beträchtliche Wegstrecke von oben nach unten zurückzulegen hatte. Sie sah ein freundliches braunes Augenpaar, fühlte flüchtig einen Handkuss und vernahm dazu den üblichen gemurmelten Satz, den man nie ganz verstehen konnte – offenbar sah es das höfische Reglement auch für einen Musiklehrer so vor – und hörte die wohlgesetzten Worte zur Begrüßung: „Willkommen, verehrte Herzogin, gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Friedrich Gottlieb Fleischer, ich habe die Freude, das Amt des Hoforganisten• seiner Majestät, Ihres herzoglichen Vaters, zu bekleiden und bin nun mit der überaus ehrenvollen Aufgabe betraut worden, Sie, gnädige Herzogin, in die Grundzüge der Musik und des Instrumentalspiels einzuweisen. Wie ich von Ihrer gnädigen Mutter, der Herzogin, vernahm, zeigen Sie bereits ganz besondere Aufmerksamkeit für die Musik?“
Er öffnete den Deckel des Clavichords•, eines rechteckigen Kastens aus rotbraun gemasertem, glänzend poliertem Holz. Nun klappte der Lehrer den Deckel aufrecht nach hinten, so dass Amélie zum ersten Mal aus nächster Nähe einen Blick in das Innere des Instrumentes werfen konnte. Es sah wunderschön aus, war eine kleine geheimnisvolle Welt für sich: Vorn lagen die Tasten mit ihren länglichen, rhythmisch angeordneten schwarzen und weißen Spielflächen. Dahinter befanden sich die über einem hellen hölzernen Untergrund dicht nebeneinander auf einen gebogenen Holzstock gespannten und auf diesem festgeschraubten Saiten. Was Amélie aber am allermeisten faszinierte, war das prachtvolle farbige Gemälde auf der Innenseite des hölzernen Deckels. Vor einem weißen Schloss, von dessen Türmen blaue und gelbe Fahnen flatterten, war eine Gruppe tanzender und musizierender Damen in leichten Gewändern zu sehen. Monsieur Fleischer ließ seiner neuen Schülerin ein paar Momente Zeit, das Kunstwerk zu bestaunen. Dann sagte er behutsam und in freundlichem Ton: „Wenn Sie nun auf dem Stuhl vor dem Instrument Platz nehmen wollen und versuchen, die Hände auf die Tasten zu legen? Ich werde dabei behilflich sein.“ Er rückte einen gepolsterten Stuhl zurecht, auf dem noch zwei zusätzliche Kissen lagen, half Amélie sich zu setzen und ihre Füße so auf einer Fußbank zu platzieren, dass sie aufrecht vor dem Instrument sitzen konnte und ihr Kleid dabei nicht allzu sehr gedrückt wurde. Das war gar nicht so einfach. Amélie drohte sofort vom Stuhl wieder herunter zu rutschen. Um das zu verhindern, stützte sie sich rasch vorn mit den Händen auf den Tasten ab und erzeugte dabei die ersten Clavichordklänge ihres Lebens. Ein wenig erschrocken nahm sie die Hände ebenso schnell wieder vom Instrument und suchte sich auf dem Stuhl nun eine Position, in der sie die Balance halten konnte.
Die Töne hatten wunderlich ungeordnet geklungen und zugleich sanft und weich, ein wenig wie die Laute, die manchmal bei den Hoftänzen gespielt wurde. Ein Klang, der auf angenehme Weise ein bisschen traurig stimmte.
„Ja, das ist ein Instrument mit einem außergewöhnlich schönen Klang“, sagte der Organist, als habe er ihre Gedanken erraten. „Der große Barthold Fritze hat es selbst gebaut, der berühmteste Clavierbaumeister in Braunschweig, aus dessen Werkstatt auch noch viele andere Tasteninstrumente stammen, die inzwischen in aller Welt erklingen. Sie werden Ihre Freude haben an der Musik, die dieses Instrument, das man Clavichord nennt, hervorbringt.“ Behutsam hatte er, während er sprach, ihre kleinen Hände erneut auf die Tasten gelegt. Jetzt bedeutete er ihr, mit einzelnen Fingern langsam nacheinander bestimmte Tasten herunterzudrücken, sie kurz liegen zu lassen und wieder zu lösen. Und auf einmal erkannte sie Teile einer Melodie. Die hatte sie vor einer Woche beim Ostergottesdienst in der Kirche mitgesungen! „Christ ist erstanden“, so hieß das Lied. Noch etwas zaghaft, aber immer freudiger wiederholte sie nun ohne Hilfe die eben angeschlagenen Töne in derselben Reihenfolge. Da war sie, die Melodie! Ihre Finger wollten ihr nicht gleich gehorchen. Die vorderen Gelenke schlenkerten noch herum und bogen sich manchmal durch, wenn sie eine Taste herunterdrückte. Aber die ersten beiden Teile des alten Liedes gelangen schließlich fehlerfrei, sogar im richtigen Rhythmus.
„Sie können noch etwas kräftiger drücken, dann wird der Ton lauter“, wurde sie von Monsieur Fleischer ermuntert. „Das Clavichord ist zwar ein leises Instrument, gut geeignet für die Hausmusik, nicht für einen großen Konzertsaal, aber man kann mit der Stärke des Anschlags bestimmen, wie laut oder leise der Klang sein soll. Wenn ich Ihnen das einmal zeigen dürfte.“ Er hob Amélie samt Stuhl und Fußbank vorsichtig ein wenig zur Seite, zog für sich selbst einen zweiten Stuhl herbei, setzte sich und begann zu spielen. Erst nur mit der rechten Hand, die ganze, schon geübte Melodie, einmal laut, einmal leise, einmal in einer Mischung aus beidem. Dann folgte ein ähnliches Osterlied, das Amélie ebenfalls kannte: „Christ lag in Todesbanden“. Diesmal spielte ihr Lehrer mit der rechten Hand die Melodie und mit der linken eine einfache Begleitung, eine Art zweiter Melodie dazu. Und dann wurde nach und nach ein Musikstück mit immer reicheren Klängen daraus, aus dem zwischendurch, mal langsam, mal schnell und in unterschiedlichen Tonhöhen, immer wieder die Melodie herauszuhören war. Und er erläuterte: „Das war ein Stück des berühmten Johann Sebastian Bach, der Musiker an der Thomaskirche in Leipzig war. Beim nächsten Mal wollen wir einen höfischen Tanz, eine Gavotte•, miteinander ausprobieren, die stammt von einem Franzosen namens Jean Philippe Rameau. Und dazu werde ich dann noch etwas Besonderes mitbringen: Noten. So heißt nämlich die Schrift, nach der Sie lernen können, Musik selbstständig zu lesen, zu spielen und aufzuschreiben und dabei ihre Gesetze zu verstehen. Ich muss nun die Chorprobe in der Schlosskirche leiten und darf mich für heute von Ihnen verabschieden. Aber vorher möchte ich Sie bitten, mir noch einmal Ihr neues Lied vorzuspielen.“
„Ja, gern“, antwortete Amélie gar nicht so schüchtern wie sonst. Das war das Erste und Einzige, was sie, außer der Begrüßung, zu ihrem Musiklehrer sagte. Im Laufe des weiteren Musikunterrichts bei Monsieur Fleischer würde sie es noch so oft und so freudig sagen wie in keinem anderen Fach.
Nachdem ihr Lehrer gegangen war, saß sie noch lange vor dem Instrument und probierte vorsichtig, aber beharrlich, das gesamte Lied darauf zu spielen, langsam, aber flüssig, mal lauter und mal leiser. Sie tauchte dabei so tief in diese neue Welt ein, dass sie fast zu spät zum Tanzunterricht gekommen wäre. Der sollte um zwei Uhr mittags im großen Redoutensaal• beginnen. Gerade noch rechtzeitig war Caroline mit zwei weiteren jungen Mädchen, Töchtern von Hofdamen, zu ihr geschickt worden, um sie abzuholen – normalerweise kein Grund zur Freude. Doch nach der ersten Musikstunde ihres Lebens war Amélie von einem nicht gekannten Glücksgefühl erfüllt, sodass weder die Sticheleien ihrer Schwester noch das alberne Gekicher der drei Mädchen ihr etwas anhaben konnten. Denn es gab etwas viel Wichtigeres: Sie musste unbedingt, unbedingt! bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit mit Amalunde sprechen. Natürlich über Musik.
Kapitel 3
In welchem Amélie erfährt, dass Menschen und andere Lebewesen seit Urzeiten auch außerhalb von Kirchen getauft worden sind
Viel Zeit war inzwischen vergangen. Amélie war zwei Jahre älter geworden, ein kleines Stück gewachsen und hatte sehr viel dazugelernt. Oft war sie zwischendurch heimlich an die Oker geschlüpft, um Amalunde zu treffen, das brauchte sie bei den vielen Erlebnissen, den bösen und weniger bösen, den aufregenden und traurigen. Amalunde war ihre beste Freundin, mit der sie über alles sprechen konnte. Ihr vertraute sie auch an, was sie bedrückte, wie zum Beispiel der gemeinsame Unterricht mit Caroline. Immer wusste die Schwester alles und sie – so wenig. Und wenn sie doch einmal die richtige Antwort auf der Zunge hatte, fehlte ihr meistens der Mut, gleich loszureden. Dabei mochte sie die beiden Lehrer, die im Herbst, kurz nach ihrem neunten Geburtstag, den Unterricht übernommen hatten: Hofkaplan und Religionslehrer Matthias Theodor Christoph Mittelstaedt und auch den anderen Lehrer, den Informator• für Geschichte und Geographie, Carl Friedrich Kirchmann. Mittelstaedt mochte sie noch lieber. Er konnte sehr schön erzählen. Er sprach mit leiser melodischer Stimme und lächelte den Kindern häufiger aufmunternd zu, gelegentlich mit einem leichten Augenzwinkern. Auch zeigte er ihnen wunderschöne, manchmal sogar farbige Abbildungen zu den biblischen Geschichten. Vor allem ging es ihm darum, die heiligen Handlungen des Christentums anschaulich zu machen.
Heute stand die Taufe auf dem Lehrplan, und sie erfuhren etwas über Johannes, den Täufer, von dem sich auch Jesus hatte untertauchen lassen, und zwar im Fluss Jordan. Nicht lange danach hatten sich auch Jesu Jünger von Johannes taufen lassen, um ihre Sünden wieder loszuwerden, sich wieder wie neue Menschen zu fühlen. Das Wasser sollte bei dieser heiligen Handlung nicht den Körper reinigen, sondern die Seele und vor allem das Gewissen, erklärte der Kaplan. Doch wie war eine solche Taufe praktisch vor sich gegangen, wollte Amélie wissen. „Nun“, antwortete ihr Lehrer, „die Beteiligten schritten, feierlich weiß bekleidet, in die Mitte des Flusses, der so flach war, dass man darin stehen konnte. Beim Taufen wurde dann der Kopf kurz unter die Oberfläche gedrückt und mit Flusswasser übergossen.“ Das ist eigentlich ziemlich praktisch, überlegte sich Amélie. Vielleicht wäre das ja auch mit dem Wasser der Oker möglich … Denn immer wieder überfielen sie diese Ängste, etwas falsch zu machen, Unpassendes zu sagen und dafür ausgelacht zu werden. Vielleicht könnte so eine neuerliche Taufe alle schlechten Gefühle einfach löschen, ja sogar diesen Schandfleck an ihr, den Buckel, gerade machen, verschwinden lassen – und alles wäre endlich, endlich gut? Unwillkürlich verkrampften sich ihre Hände ineinander, als sie daran dachte, wie elend sie sich oft fühlte. Und dann auch dieses grässliche „schlechte Gewissen“: Nicht, weil sie jemand anderem etwas Böses antat – so direkt geschah das nie –, sondern, weil sie oft mit ihrem scharfen Blick die Schwächen und Fehler der anderen Menschen um sich her wahrnahm, ja, aufdeckte. Denn alle Menschen versuchten doch, ihre dunklen Seiten möglichst zu verstecken. Dann hatte sie ein schlechtes Gewissen, vor allem, weil sie sich in ihrer Phantasie ausmalte, wie es wäre, wenn plötzlich auch alle anderen diese Fehler sähen: Die Naschsucht des sonst so tadellosen Abts Jerusalem, die Besserwisserei Carolines, die Klatschhaftigkeit von Madame Benzin und so weiter … Natürlich habe ich auch schlechte Eigenschaften … So bin ich sehr, sehr ungeduldig …, dachte sie gerade, als die Stimme von Kaplan Mittelstaedt wieder an ihr Ohr drang: „Nun, Herzogin, haben Sie noch Fragen zu diesem Thema?“
Amélie errötete leicht. Ihr war klar, dass sie die Gedanken von eben lieber für sich behielt. Aber gewohnt, ihre Phantasien in sich zu verschließen und nach außen schnell auf ein unverfänglicheres Thema auszuweichen, bemerkte sie nach kurzem Überlegen etwas altklug, dass Jesu und die Jünger doch schon erwachsen gewesen seien. Jetzt aber würden doch eigentlich immer die Kinder getauft. Ob beides gleich gut wäre? Der Kaplan sah sie überrascht und leicht amüsiert an und antwortete dann: „Im christlichen Glauben ist es heute so, dass man erst einmal die Kinder tauft. Sie, Herzogin, sind ja auch direkt nach Ihrer Geburt getauft worden. Die Taufe ist das Zeichen dafür, dass die Kinder ein für alle Male in die christliche Gemeinde wie in eine große Familie aufgenommen werden und ihnen deshalb später auch immer wieder ihre Sünden vergeben werden können. Aber auch Erwachsene können sich noch taufen lassen, wenn sie später zum Glauben finden und fortan ein Leben im Namen Christi führen wollen. Das kann zum Beispiel ein Mensch sein, der vorher einer anderen Religion angehört hat, eine Frau, die in Afrika aufgewachsen ist, oder ein Mann aus Indien.“ Und dann erzählte er noch ein paar Geschichten über christliche Lehrer, die lange Jahre in fernen Ländern zubrachten, um den Menschen dort das Christentum nahezubringen – Missionare wurden sie genannt. „Herzogin Caroline, erinnern Sie sich an den Lateinunterricht? Was bedeutet ‚missio‘?“ „Botschaft! Weil es um die christliche Botschaft geht!“, rief Amélie vorlaut. „Gut, Herzogin Amélie“, lobte der Pastor, „nur, dass ich nicht Sie, sondern Ihre Schwester gefragt hatte.“ „Das hätte ich auch gewusst“, sagte Caroline verärgert. Und Amélie befand, das war glatt gelogen. Sie unterdrückte ein kurz aufflammendes Gefühl von Triumph und nahm sich ernsthaft vor, die reinigende Kraft des Okerwassers für eine zweite Taufe auszuprobieren.
Unter den vielen kurzweiligen Geschichten des Kaplans ging die Lektion rasch ihrem Ende entgegen. Zuletzt gab er ihnen Zeit, damit sie aufschreiben konnten, was sie behalten hatten. Dann sammelte er ihre Hefte ein, um sie beim nächsten Mal korrigiert wieder mitzubringen – eine neue, ziemlich wirksame Methode, um die Aufmerksamkeit während des Unterrichts zu erhalten. Beim nächsten Mal sollte es dann um die Taufformel und um Petrus und Paulus gehen.
Die beiden Schwestern, die immer gemeinsam unterrichtet wurden, hatten jetzt ungewöhnlicherweise drei freie Stunden, da der Französisch- und der Geographieunterricht ausfielen. Beide Lehrkräfte waren zu einem Begräbnis gebeten worden. Caroline ging schnell davon, weil sie für den bevorstehenden großen Ball noch Tanzschritte üben wollte. Amélie aber hatte einen ganz anderen Plan … Dafür musste sie allerdings erst einmal die gleichaltrige Tochter der Köchin finden, mit der sie ein bisschen befreundet war – nur ein bisschen, denn offiziell war ihr der Umgang mit einem Mädchen von niederer Herkunft nicht gestattet. Sie entdeckte Anna-Greta im riesigen Vorraum zur Küche, wo sie dabei war, mit einem Reisigbesen den Boden zu fegen. Amélie nahm sie beiseite: „Kann Sie mir noch einmal einen von Ihren Kitteln ausleihen?“, fragte sie leise auf Deutsch, was ihr ein wenig schwer fiel. „Ich habe wieder einen Weg zu machen, allein, aber Sie weiß, das ist ein Geheimnis, davon darf niemand etwas erfahren.“ Anna-Greta kannte das schon und fragte nicht weiter, aber sie war stolz darauf, dass „die kleine Herzogin“, wie Amélie in der Küche genannt wurde, ihr vertraute. Sie bewunderte Amélie sehr und war stolz darauf, ihr einen Dienst erweisen zu können. Auf klappernden Schuhen lief sie davon und kam schon nach ein paar Minuten mit einem groben Leinengewand unter dem Arm zurück, das sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Dazu hatte sie noch ein unauffälliges braunes Tuch mitgebracht, mit dem Amélie ihren Kopf und vor allem die kunstvoll geflochtenen und aufgesteckten Haare verhüllen konnte. Nur Schuhe konnte Anna-Greta der adligen Freundin nicht anbieten; ihr einziges Paar, hölzerne Pantoffeln, trug sie selbst an den Füßen. Amélie glitt hinter den Vorhang, der die großen Fässer und Gläser verdeckte und kam wenig später als zweite Anna-Greta wieder heraus. Nur ihre feinen Seidenschuhe wollten nicht passen und das Gewand war auch etwas zu weit, vor allem an den Ärmeln; Anna-Greta war größer und kräftiger, nicht zuletzt von der täglichen körperlichen Arbeit. „Kurz vor der Teezeit bin ich zurück; ich lege die Sachen wieder hinter den Vorhang“, flüsterte Amélie aufgeregt. Dann schlüpfte sie eilig durch den Dienstboteneingang auf der Rückseite der Küche nach draußen, lief geduckt an den Gebüschen entlang, die den Schlossgraben umsäumten, setzte ihre Schritte vorsichtig über den rutschigen Holzsteg, der abseits der Steinbrücke zum Schlossportal über den Graben führte und hatte es nun nur noch wenige Meter bis zum Ufer der Oker. Dort musste sie, vorbei an den stachligen Büschen, die immer wieder Anna-Gretas Gewand festhalten wollten, noch einige Meter bergab klettern, um den geheimen Treffpunkt zu erreichen: Grau und zerklüftet lag der Felsblock da und verdeckte die kleine Quelle, die neben dem Fluss aus dem sumpfigen Ufergrund sprudelte.
Schwupps, schon saß sie wieder mitten in der Quelle, sie, Amalunde, die kleine Flussnixe, und wieder hatte Amélie ihr Kommen nicht bemerkt. „Hoheit haben heute wieder Ihr Festtagsgewand an?“, spottete sie quietschvergnügt. „Ach, Amalunde, Du weißt doch, wie schwierig es ist, hier unauffällig herzukommen, aber … ich musste unbedingt kommen, denn ich habe eine wichtige Frage an Dich, und vielleicht … “ Sie sah mit zweifelndem Blick aufs Wasser und zog unwillkürlich fröstelnd die Schultern hoch. „Vielleicht“, murmelte sie, „vielleicht gehe ich auch einmal ins Wasser.“ Und dann wieder lauter: „Aber sag mir: Weißt Du, was eine Taufe ist, und: bist Du getauft?“ Die kleine Nixe glitt behände auf einen bequemen Vorsprung des Felsens, wrang ein paar nasse Strähnen ihres langen goldengrünen Haares aus, warf es mit gekonntem Schwung in den Nacken und antwortete dann: „Natürlich weiß ich, was eine Taufe ist! Ich, meine Familie und alle unsere Vorfahren, wir sind schließlich alle getauft worden.“ „Aber ihr lebt doch sowieso immer im Wasser, da ist Wasser doch gar nichts Besonderes“, wandte Amélie ein. „Pah“, sagte Amalunde, und das klang einigermaßen hochmütig, „Das Wasser ist etwas Besonderes, weil wir schon immer darin leben, seit tausenden von Jahren.“ „Aber“, so schnell gab Amélie nicht klein bei, „wie könnt ihr denn ‚schon immer‘ dort leben und ‚schon immer‘ getauft sein, wo doch Christi Geburt noch nicht einmal zweitausend Jahre her ist?“ „Was hat denn unsere Taufe mit eurem Christus zu tun?“ Fragte Amalunde ernsthaft erstaunt. „Die Taufe ist so alt wie das Wasser selbst!“
Das musste Amélie erst einmal verstehen und verkraften. Was würde Kaplan Mittelstaedt wohl dazu sagen? „Also ihr seid nicht ‚in Christi Namen‘ getauft?“ „Nein, im Namen aller Wassergötter und -göttinnen der Welt. Und deshalb dauert unsere Taufe auch sehr, sehr lange und ist ein großes, großes Fest. Ein Meeresnöck• bringt ein Fischerboot voller Meereswasser aus der griechischen See mit, ein Wassertroll aus den nordischen Fjorden große Zapfen von süßem Eiswasser, eine schwarzhaarige Nereide• regenbogenschillerndes Wasser in farbigen Muscheln aus dem pazifischen Ozean, die schöne Lau• bringt einen Bottich sprudelnden Quellwassers herbei und einer von den verrückten amerikanischen Siebzehnzehenreitern• einen Rucksack mit Wasser von den Niagarafällen. Und am Schluss kommen dann noch die Gobeline• aus der Wüste mit einem Lederschlauch voller Regenwasser. Dass diese Reise besonders lange dauert, kannst Du Dir wohl denken. Na ja, und all diese verschiedenen Wassersorten werden dann feierlich über einem ausgeschüttet. Aber vorher werden auch die Lippen damit bespritzt und man muss mindestens drei Tropfen davon kosten.“ Amélie war starr vor Staunen: „Und Du bist auch mit all dem Wasser getauft worden und hast davon gekostet?“ „Ja, natürlich! Alle Wasserkinder, gleich, ob Nixen oder Nöcke, werden im Alter von 150 Jahren getauft. Bei mir ist das erst vor kurzem gewesen, vor 27 Jahren. Unsere Taufe ist das Zeichen dafür, dass wir in die große Weltwasserfamilie aufgenommen worden sind und fortan mit dazu gehören, dass wir, so sagt man ja wohl, mit allen Wassern gewaschen sind.“
Amélie überging die Tatsache, dass Amalunde also schon offenbar 177 Jahre alt war. Sie war sich nicht sicher, ob sie die nächste Frage lieber nicht stellen sollte, tat es dann aber doch: „Und können damit auch Deine Sünden abgewaschen und die Seele und das Gewissen gereinigt und erneuert werden?“ „Seele? Gewissen? Was ist denn das?“, erkundigte sich Amalunde mit dem leicht spöttischen Unterton, der ihr zu eigen war, „ist das eine Art Haut oder Farbe?“ „Nein, das sitzt eher im Innern“, versuchte Amélie zu erklären, „Alle Menschen haben eine Seele und ein Gewissen.“ „Naja“, meinte die kleine Nixe, „wir sind ja auch keine Menschen, sondern nur mit ihnen verwandt. Aber sag mir doch: Wozu sind Seele und Gewissen denn nütze?“ Wenn ich das so genau wüsste, dachte Amélie, eigentlich sind sie nur eine Plage, behielt den Gedanken aber für sich. „Ich kann damit“, sagte sie dann laut, aber etwas beklommen, „herausfinden, ob das, was ich tue, gut oder schlecht ist, und wie sich das anfühlt.“