Kitabı oku: «Das Mädchen im Schloss», sayfa 3

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Nun gab es im Gespräch erst einmal eine längere Pause. Amalunde, so schien es Amélie, bekam vorübergehend schlechte Laune. „Ihr Menschen mit euren Gefühlen“, brummelte sie. Dann aber überzog ein listiges Lächeln ihr Gesicht. „Übrigens, Prinzessin“, rief sie, „was ich beinahe vergessen hätte! Seit dem 17. Jahrhundert ist überhaupt erst bekannt, dass wir mit den Menschen verwandt sind. Und daher gibt es seit der Zeit auch einen Extra-Guss aus einem Eimer der Menschen: Dazu wird ein Dienstmädchen aus der Küche des nächstgelegenen Schlosses oder Guts zur Feier eingeladen.“ „Und was bringt es mit?“, fragte Amélie gespannt. „Putzwasser“, jauchzte Amalunde übermütig, „einen Eimer voll mit herrlichem Putzwasser, aber das muss richtig gebraucht und schmutzig sein, sonst wirkt es nicht!“

Amélie konnte das nicht glauben: „Ist denn aus unserem Schloss bei Euren Taufen auch ein Dienstmädchen dabei gewesen? Vor 27 Jahren?“ Da brach Amalunde in glucksendes, silberhelles Lachen aus: „Du glaubst wohl nicht im Ernst, dass wir an diesem popeligen Flüsschen Oker unsere große Weltwassertaufe abhalten? Das glaubst Du nicht wirklich! Nein, das war am Rhein, direkt neben dem berühmten Loreley-Felsen. Und es war ein Dienstmädchen von einem der Weingüter dort. Bereits dorthin zu schwimmen, hat mehrere Wochen gedauert. Ein unvergessliches Erlebnis: 723 Nöcken, 415 Nixen und 75 der ältesten auf Neptun zurückgehenden Wassergötter samt ihrem Harem• von Wassergöttinnen mit Algenhaaren und Muschelpanzern zu begegnen. Dazu die Musik aus den Muschelhörnern, unsere Unterwasserballetts, das Festessen am Rhein zur Mitternacht … kurz: Es war nixisch schön!“ Amélie musste zugeben, sie wäre auch gerne dabei gewesen, begriff aber gleichzeitig, dass Amalunde ihr in Gewissensfragen nun wirklich nicht helfen konnte.

Jetzt schlug es vom Schlossturm fünf Uhr, was bedeutete, dass sie wieder einmal zu spät zum Tee erscheinen würde. Dabei war noch kein einziges Wort über Musik gesprochen worden, weil das Gespräch eine so unerwartete Wendung genommen hatte. Nach einer feuchten Abschiedsumarmung sputete Amélie sich tüchtig, um rasch noch den Kittel bei Anna-Greta abzulegen.

Kapitel 4

In welchem Amélie die Krone des Tanzes erwirbt und fast gelernt hätte zu reiten wie ein Junge

Über Wochen kam es für Amélie weder zu der Taufe mit Okerwasser noch zum Gespräch über Musik mit der Nixe. Zu viele Aufgaben, ein voller Stundenplan und schließlich das jährliche Frühjahrshochwasser verhinderten weitere Besuche bei Amalunde. Der Tanzunterricht fand nun täglich statt. Heute jedoch hatte ihn der Tanzmeister um eine Stunde verschoben. Was sollte Amélie mit dieser kostbaren freien Stunde anfangen? Nach oben in den Musiksaal gehen, an das geliebte Instrument? Nein, sie wollte, musste jetzt unbedingt zu Amalunde. Also hieß es, ein besonders abweisendes Gesicht aufzusetzen, so zu tun, als memoriere sie italienische Vokabeln und in mäßigem Tempo und dabei leicht die Lippen bewegend, die Treppe nach unten zu gehen, um dann unauffällig, ohne sich umzusehen, den Weg zur Küche einzuschlagen. Ob Anna-Greta ihr wieder den Leinenkittel leihen würde? Es war keine Anna-Greta zu sehen. Das heimliche „Ausbüxen“, wie die Piperin sagen würde, war noch keine Gewohnheit geworden für die kleine Herzogin, und ihr Herz klopfte daher gewaltig. Aber andererseits wollte sie unbedingt ihre Freundin an der Oker wiedersehen. Da draußen die Sonne schien und der Untergrund wieder einigermaßen begehbar war, hoffte sie, dass man ihrer Kleidung nachher den Ausflug nicht ansehen würde.

Klack-klack-klack-klack – O Gott, da kam ihr jemand auf dem kleinen Holzsteg entgegen, der über den Wassergraben aus dem Schloss herausführte und nur vom Dienstpersonal benutzt werden durfte. Und nun? Zu ihrer Beruhigung erkannte Amélie aber schon Anna-Gretas Mutter Tine an deren etwas schleppendem Gang in den einfachen Holzschuhen. Tine, die Schlossköchin, blickte sie, während beide aufeinander zugingen, ein wenig verwundert, aber freundlich an. Sie hatte ein glattes, rundes Gesicht, nur um ihre braunen Augen herum befanden sich Lachfalten. Im Vorübergehen – das Tempo des Klack-Klack der Pantinen änderte sich nicht – zog sie kurz fragend ihre Augenbrauen empor, und die Lachfalten gingen dabei zu Amélies Entzücken wie immer mit in die Höhe. Sie sagte aber nichts, da es dem Dienstpersonal der unteren Ränge verboten war, Mitglieder der herzoglichen Familie von sich aus anzusprechen. Eigentlich durften sie ihnen auch gar nicht ins Gesicht sehen, sondern sollten bei einem Knicks• den Blick untertänig auf den Boden heften. Doch bei Amélie hatten sich weder sie noch ihre Tochter erstaunlicherweise je daran gehalten. Vielleicht aus geheimer Sympathie? Amélie sah Tine nur kurz bittend an, legte den rechten Zeigefinger auf ihre Lippen und schüttelte dabei leicht den Kopf. Und Tine nickte lächelnd. Beide hatten sich schon oft auf diese Weise, stumm, doch deutlich, verständigt, und Tine hatte sie noch nie verraten, denn sie gehörte wie die Piperin, zu Amélies „guten Geistern“. Da es im Schloss von diesen leider viel zu wenige gab, musste Amélie jetzt auch unbedingt zu Amalunde, denn die war ja die einzige, mit der sie frei sprechen konnte.

Die Nixe saß still im Sonnenlicht auf ihrem großen Stein. Sie blickte kurz auf, lächelte, warf wie gewohnt ihr goldengrünes Haar zurück, hob die linke Hand und winkte Amélie grüßend zu. Doch dann schaute sie wieder nach unten auf etwas, was sie in der Höhlung ihrer rechten Hand verborgen hielt, und das manchmal, wenn sie die Finger bewegte, ein wenig in der Sonne aufblitzte. Neugierig trat Amélie näher. „Guten Tag, liebe Amalunde“, sagte sie höflich, um sich dann gleich neugierig zu erkundigen: „Was hast Du denn da, doch nicht einen Zauberring?“ Amalunde lachte zur Begrüßung ihr Nixenlachen, das so gut zu ihrem Haar passte. „Und was würde sich meine Freundin Amélie wünschen, wenn es ein Zauberring wäre?“, fragte sie und umschloss den geheimnisvollen Gegenstand schnell wieder fest mit den Fingern, so dass Amélie nichts, aber auch gar nichts davon sehen konnte. Dass alle Menschen freundlich zu mir sind, wollte sie antworten, dachte aber gleich: Dann weiß ich ja gar nicht mehr, wer meine wirklichen Freundinnen und Freunde sind. Also ließ sie diesen Wunsch wieder fallen und sagte: „Dass mein krummer Rücken wieder gerade wird und niemand mehr über mich lacht.“ Und dabei fühlte sie sich gleich wieder ganz elend. „Ach, mach doch wieder ein fröhliches Gesicht“, bat Amalunde. „Du hast, als Du ankamst, so froh ausgesehen. Komm, setz Dich zu mir auf den Stein. Und wenn Du mir erzählst, was Du Schönes erlebt hast, dann zeig ich Dir auch, was ich in meiner Hand trage. Es ist zwar kein Zauberring, aber auch etwas sehr Feines.“ Und sie ließ das „Ding“ erst einmal zwischen zwei großen Schuppen in ihrem Fischgewand verschwinden. Nun konnte Amélie endlich von ihrer liebsten Beschäftigung erzählen, der Musik, den wundersamen Klängen des Instruments, das Clavichord hieß, und von ihrer Freude daran, auf den Tasten mit ihren eigenen Händen eine Melodie zum Klingen zu bringen. „Singst Du mir das Lied vor?“, fragte die kleine Nixe. Und Amélie, gar nicht so verlegen wie sonst – sie vergaß sogar, sich erst vorsichtig umzublicken – sang ihr „Christ ist erstanden“ vor. „So eine merkwürdige traurig-frohe Melodie und solche Worte habe ich noch nie gehört“, staunte Amalunde. „Was, bei allen guten Nöcken, heißt: ‚Kü-ri-e-lais‘? Ist das ein Name?“ „Nein, das sind eigentliche zwei Wörter in griechischer Sprache: Kyrie und eleison, und die heißen: Herr, erbarme Dich, und ‚Herr‘, meint den lieben Gott“, erklärte Amélie. Das wusste sie aus dem Religionsunterricht. „Aber wer ist das eigentlich, Euer Herr, Euer lieber Gott?“ Amélie überlegte einen Augenblick. Das waren schwierige Fragen, ganz andere als im Unterricht! Dann antwortete sie: „Der liebe Gott ist der Vater aller Geschöpfe auf Erden, der Tiere und der Menschen – ja und natürlich auch der Nöcken und Nixen“, setzte sie schnell hinzu; sie wollte keinesfalls, dass Amalunde sich ausgeschlossen fühlte, weil sie nur zu gut wusste, wie sich das anfühlte. „Und der liebe Gott wohnt im Himmel, wo auch die Menschen nach ihrem Tod hinkommen, wenn sie gegen Gott gehorsam waren, und böse Menschen kommen in die Hölle, einen ganz schrecklichen, finsteren Ort, wo sie leiden müssen wegen ihrer Sünden im Leben“, ergänzte sie noch und zog, von einem plötzlichen Schauer erfasst, ihre dünnen Schultern zusammen. „Hmm“, meinte die Nixe und warf ihr Haar mit gekonntem Schwung auf die andere Schulter, so dass Amélie wie immer ein paar feuchte Spritzer abbekam. „So eine Art Gott kennen wir auch, aber das ist kein Wesen wie ein Mensch, ein Mann oder eine Frau, und auch nicht wie eine Nixe oder ein Nöck, sondern eine Art Wind, oder, noch besser, eine große, gute Fee. Die kann man eigentlich überall treffen: Unter Wasser, in den Bäumen, in der Wüste und auch auf den Bergen. Und sie ist für alle Lebewesen da – sogar für Wasserratten und Haifische!“, sagte sie mit plötzlicher Empörung in der Stimme und rümpfte kurz ihre zarte Nixennase. „Ja, und das Zuhause der großen, guten Fee ist die ganze Natur. Und wenn darin jemand die Ordnung durcheinander bringt, etwas absichtlich zerstört oder Mitbewohnern Leid zufügt, kann sie sehr böse werden, dann treten die Flüsse über ihre Ufer und das Meer kocht über.“ Die Nixe sang plötzlich wieder ihr Lied, das sie bei der ersten Begegnung gesungen hatte. „Tritt in den Kreis der großen Natur! Lache und wieg` dich im Wind! Lache und wieg` dich im Wind!“ Beide schwiegen daraufhin und dachten nach, über den lieben Gott und die große, gute Fee und wie es war, wenn beide böse wurden.

Die hellen Schläge der Uhr des Schlossturms durchdrangen die Stille und beendeten wieder einmal zu früh das Zusammensein. Amélie wusste sofort, dass sie gehen musste, und Amalunde wusste es auch. Beide wandten einander den Kopf zu, sahen sich an, öffneten im selben Moment den Mund, und sprachen beide gleichzeitig, um einander ein und dieselbe Frage zu stellen: „Bringst Du mir nächstes Mal Dein Lied bei?“ Erst als Amélie schon wieder auf dem Rückweg war und über den kleinen Steg huschte, fiel ihr das glänzende „Ding“ in Amalundes Hand wieder ein. Sie hatten es beide vor lauter Gesprächen über Gott und die Welt glatt vergessen! Eilig rannte Amélie zurück zum Schloss.

Seit sie denken konnte, gab es in ihrem Leben die Tanzstunde, mal um zwei Uhr, mal etwas später, sie war jedenfalls immer am Nachmittag, nach dem eigentlichen Unterricht. Caroline hatte erst vor kurzem gesagt, in der gehässigen Weise, die sie auszeichnete: „Liebe Schwester, Sie haben tanzen gelernt, bevor Sie denken gelernt haben!“ Eigentlich sollte das bedeuten: Du, kleine Schwester, hast noch überhaupt nicht denken gelernt! Ein Grund, nicht Frau Benzin, sondern Caroline heute ganz verstohlen ein paar Ameisen von hinten in den Kleiderausschnitt zu stecken.

Und tanzen … anfangs ging es los wie ein Spiel: Sie war vielleicht drei oder vier Jahre alt gewesen, da zog man ihr das erste wirklich hübsche Kleid an. Es hatte ein Rosenmuster, das wusste sie noch genau. Und dann war „Tanzen“ zunächst einfach nett sein, gerade stehen, die Füße nach außen setzen und die Complimente• lernen, insgesamt vier, nach jeder Seite eins, dann das nach vorn und das zurück. Der Tanzmeister sprach viel von edlem Herz, von Großzügigkeit und Religion – all das brauchte man zum Tanzen. Am Anfang verstand Amélie gar nichts und machte nur nach, was die anderen, größeren Kinder in ihren schönen Kleidern ihr vormachten. Die Brust heraus, betonte der Tanzmeister jedes Mal, besonders Amélie gegenüber, die, als sie größer war und alles verstand, jedes Mal errötete. Eben wieder. Eine Brust hatte sie ja gar nicht, jedenfalls keine so wie die Mama und die anderen großen Damen. Der Spiegel war ihr Feind, wir wissen ja inzwischen schon, warum. Ihr missratener Rücken grämte sie, der da, wo er bei Caroline schön sanft in einer wunderbaren Biegung wieder zur Taille herabging, bei ihr einen Berg, ja einen Berg aufwies … warum nur?

Die Tränen waren ihr vor ein paar Wochen nach solch einem Blick in den Spiegel wieder einmal in die Augen geschossen. Sie konnte nicht mehr tanzen, hatte sich nicht mehr leicht gefühlt und schön schon gar nicht, sie hatte am Abend weiter geweint und die Piper, die liebe Piper, die sie schon in den Schlaf gewiegt hatte, als sie ganz klein gewesen war, und die immer noch „Herzogin“ und „Du“ zu ihr sagte, die liebe Piperin also hatte ihr manches erklärt. Das mit dem Spiegel: „Der lügt, der sieht dich nicht, wie du wirklich bist, wie Gott dich will. Der will nämlich, dass Du tanzt und froh bist und andere auch froh machst.“

Und dann noch das, was es mit dem kleinen Berg auf sich hatte: „Es ist man bloß ein Hügel, Herzogin, der ist angeboren, und für Dich findet sich allemal ein passabler• Gemahl!“ Warum und wieso? Auf diese Frage ging die Piper gar nicht ein. „Sei man bloß froh, dass Du lebst und sie lebt, denn Deine Mutter ist doch eine Gute, Kluge! Du kannst so viel von ihr lernen, lütte• Herzogin!“ Ja, das wusste Amélie und seufzte, aber nur ein kleines bisschen. Denn seufzen sollte man ja auch nicht. Da sagte Madame Benzin immer: „Contenance, Duchesse•!“

Also ging Amélie wieder zum Tanzen, tapfer und eigentlich getröstet. Den Spiegel schaute sie seitdem nicht wieder an. Sie bemühte sich vielmehr, alle Complimente richtig zu machen, alle Schrittfolgen zu beachten und nur leicht die Fingerspitzen der linken Hand zu reichen. „In Schulterhöhe der Dame!“, rief der Maître• immer, wenn der Herr oder vielmehr der als Herr verkleidete kleine Junge, Bruder, Cousin ihr seine Rechte gab. Denn sie war klein und blieb auch klein. Die Jungen und auch – leider – die anderen Mädchen wuchsen hingegen. Sie alle wuchsen beständig, man sah sie förmlich wachsen, bis Amélie nach oben schauen musste wie bei den Erwachsenen, und viele Tänzer sich dann fast verbogen, um es dem Maître recht zu machen. Heimlich kicherte sie dann in sich hinein. Graziös nahm sie die dritte Position ein, denn bald konnte sie alle Schrittfolgen des Menuetts und auch sonst aller Tänze auswendig, der Quadrille, der Polonaise, der Française, des Contretanzes und sogar des ganz modernen spanischen Fandango. Wenn man ihn tanzte, betonte der Maître immer, dass es ein spanischer Tanz sei, der die Grenze der Sittsamkeit fast – und hier zitterte seine ohnehin zu hohe Stimme – übersteige!!!

Da er das in jeder Tanzstunde sagte, mit demselben Ausdruck in der Stimme, grinsten die fürstlichen Tanzschüler und -schülerinnen einander heimlich zu. Nach und nach grinsten auch die gräflichen und ritterlichen Freunde der Geschwister Amélies, die immer teilnahmen, aber sich nicht recht trauten, den Ton anzugeben bei solchen Gefühlsregungen. Die waren doch eigentlich verboten. Und Amélie kicherte immer leise, manchmal verbarg sie es in einem Hüsteln ins Taschentuch … die Sittsamkeit war ja ein ewiges Thema, das von morgens bis abends behandelt wurde. Manchmal kam ihr in den Sinn, sogar Atmen wäre vielleicht nicht sittsam, da man es ja ebenso sehen oder hören könnte wie Niesen oder schlimmer noch wie Husten, Schnupfen, Spucken. Aber da war die Piper deutlich: „Nee, Herzogin, atmen musste schon – ansonsten … “ Sie machte eine schauerliche Geste, zog die Hand wie ein Rasiermesser an ihrem Hals entlang. Gut, dachte Amélie, das Atmen verbieten sie mir dann eben nicht.

Amélie liebte den Tanz ebenso wie die Musik, es war für sie fast wie Ausruhen. Wenn sie aber gefragt wurde, welches Stück sie denn am liebsten jetzt tanzen würde … da wurde sie zunächst rot. Aber eine Antwort oder gleich zwei, drei Vorschläge hatte sie auch immer.

Lange hatte sie darauf gewartet, endlich auch das schwierige Menuett lernen zu dürfen, denn für diesen Tanz hatte der Maître zwei Gruppen gebildet: Die älteren Geschwister und größere adlige Kinder, meistens solche von hohen Beamten des Hofs, in der einen Gruppe, und die jüngeren – darunter auch sie – in der anderen. Nun war der Tag gekommen, an dem sie mit ihren Tänzerfreunden und der älteren Gruppe erstmalig zusammen tanzen sollten. Es galt, ein großes Fest im Lustschloss Salzdahlum vorzubereiten. Viele auswärtige Gäste wurden erwartet, vielleicht auch Onkel Friedrich aus Berlin, so sagte die Mutter, und ihre Stimme hatte so etwas Erwartungsvolles gehabt. „Deinen Onkel nennt man Friedrich den Großen“, hatte die Piper ihr einmal zugeflüstert. „Er ist der König von Preußen und in Deutschland der allerwichtigste Herrscher.“ Mehr Angst als vor dem Urteil des Maître hatte Amélie vor dem Urteil Carolines, die unerbittlich jeden Fehler ihrer kleinen Schwester auf eine Liste setzen würde, zumindest in ihrem Kopf.

Amélie konzentrierte sich sehr. Und als der Geiger das Menuett von Rameau anstimmte, das ihr gut bekannt war, seufzte sie vor Erleichterung. Sie setzte das erste Compliment so präzise wie keine der kleinen Damen in dem Saal. Und zugegeben, es ist nicht gerade einfach, wird es doch mit vier Tritten gemacht, und man muss die ganze Zeit zählen! Und wie sie zählte: Zuerst mit dem rechten Fuß in die 2. Position und still die 1 zählen, dann den linken Fuß hinter den rechten ziehen, in die 5. Position und dabei 2 zählen. Wieder mit dem rechten Fuß in die 2. Position ziehen und die 3 zählen, dann den linken Fuß erneut hinter den rechten in die 3. Position bringen und sich verbeugen, dabei 4 zählen, sich erheben, 5 und 6 zählen. Dann das Compliment nach links.

Alles ging wie von selbst, jede Angst, einen Fehler zu machen, war von ihr abgefallen, und dass Caroline am Ende gar nichts sagte, und dann der Maître selbst noch lächelnd äußerte: „Duchesse Amélie, Sie haben heute die Krone des Tanzes erworben“, das tat ihr gut. Vielleicht hatte sie es sogar am besten gemacht, wollte er wohl damit sagen. Unglaublich. Die Tanzkarte, die am Ende jedes Unterrichts von ihm ausgefüllt wurde, gab schließlich allen ihren Triumph preis, stand doch darin, dass sie nicht nur musterhaft in ihrem sittlichen Betragen, sondern exzeptionell• in ihrer Tanzbeherrschung und ihrer Musikalität gewesen sei. Diese Karten las ja auch die liebe Mutter, die chère mère, und sie würde das sicherlich auch goûtieren, wie sie sagte, wenn ihr etwas gefiel. Und dann hatte sie manchmal sogar die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen.


Etwas aber beunruhigte eine Woche später Amélie sehr, denn für den jetzt nahenden Ball in Salzdahlum sollte sie zum ersten Mal eine Frisur wie die großen Damen und ihre Schwester erhalten. Und nicht die Scheitelzopffrisur war es, die Amélie ängstigte, sondern der erste Besuch in der Puderkammer. Caroline war schon mehrfach dort gewesen und in Amélies Augen als ein Gespenst wieder hervorgekommen, ein Mädchen mit weißen Haaren!!! Eine uralte Frau!!! Nicht allein das! Vorher wurden die Haare mehrfach mit Pomade und Puder behandelt, damit sie den nötigen Halt bekamen. Das fand Amélie eklig. Schön waren allerdings die bauschigen Schwanfederquasten, die die Piper in einem rotschwarzen Lackkästchen verwahrte und mit denen sie den Puder – „Herzogin, du, das ist reines Mehl“, sagte sie dann – auf dem Haar verteilte. Aber es war fremd, man fühlte sich, als würde einem eine Rüstung angezogen, fand Amélie. Dazu kam noch, dass die Piper ein silbernes Messerchen nahm und ihr die Reste des Puders vom Gesicht strich. Da wurde es dann deutlich. Es ging in den Krieg. Da musste man sich rüsten. In der Puderkammer, so hörte sie, wurde man in einen Frisiermantel gekleidet und nahm vor der Poudreuse Platz – einem Spiegeltisch. Und andere von den Bediensteten, so die Piper, würden einen bestäuben mit dem fein pulverisierten Mehl. Dem sei hier Zibet• und Lavendel beigegeben, man würde also gut duften.

Der Schulz, ein Diener, habe einen Blasebalg, und man müsse eine Maske vor das Gesicht nehmen, die Maske habe aber auch Glasaugen … Schon die Vorstellung ängstigte Amélie. Glasaugen – wie bei den Blinden, die einen immer so anstierten. Sie hatte schon zweimal bei einem Gang in die Kirche mit der Piperin einen gesehen, der am Kircheneingang bettelte. Die Glasaugen waren etwas vollkommen Unnatürliches. Und andererseits: Alle ließen sich pudern, die etwas größer wurden, die Schwestern, die Cousinen. Und sie überlebten es nicht nur schadlos, sie fanden das Ergebnis schön. Und erhielten Lob, weil auch die Erwachsenen sie so schön fanden.

Überhaupt: Schön zu sein war offenbar wichtig. Gut. Aber am Sonntag und täglich vom Prediger zu hören, dass allein die Seele des Menschen wichtig wäre, wie passte das zu dem Zwang, immer schön sein zu müssen? Es gibt nur einen Gott. Und – Du sollst keine anderen Götter haben neben mir! Manchmal kam es Amélie so vor, als hätten all die Großen hauptsächliche andere Götter. Durfte sie das denken? Und wo sollte sie sich denn hinwenden? Wer konnte ihr raten, diese Widersprüche aufzulösen? Mit wem konnte sie eigentlich sprechen?

Es fiel ihr auf, dass in ihrer Welt niemand auch nur den Anschein eines Zweifels an all dem zu haben schien, und außerdem: Was war denn so schlimm? Am Morgen verkleidete man sich, um eine „Prinzessin“ oder „Herzogin“ zu sein und wurde genau dazu erzogen und musste das bis zum Abend spielen – und zwischendurch durfte man manchmal einfach ein Christ sein und beten oder ein Mädchen, das schreiben und rechnen und sticken lernt. Aber einfach einen Menschen, mit dem man redete, wie es einem geht, den hatte man anscheinend nicht. Außer der Piper, aber eine Freundin war die halt auch nicht. Und Anna-Greta, diese gute Seele, schwieg ja fast immer. Da gab es eigentlich nur … Amalunde, die sie schon ewig lange nicht mehr gesehen hatte. Mindestens eine Woche nicht. Dabei war sie dreimal heimlich an die Oker geschlüpft. Es war wie verhext. Wo war die Nixe nur geblieben? Ganz und gar vom Wasserboden verschwunden war sie. Ob es ihr schlecht ging? Sie krank in irgendeiner Wasserhöhle lag?

Amélie vergaß ihre Sorgen um die Nixe und ihr Gefühl der Einsamkeit und Unverstandenheit aber dann doch, denn gerade jetzt trat in Gestalt ihres etwas jüngeren Bruders Friedrich ein Mensch in ihr Leben, der ihr, immer, wenn er konnte, ein Gefährte sein würde. Und das geschah so.

Amélie hatte schon lange bewundert, dass der jüngere Bruder reiten lernte, und oft hatte sie gefragt, ob nicht auch sie diese Kunst erlernen dürfe. Es kam ihr verlockend vor, in bequemer Kleidung auf einem warmen Pferderücken zu sitzen und durch die Natur zu traben oder zu galoppieren. Da war man frei, in den Hosen konnte man sich sicherlich fabelhaft bewegen, da umströmte einen die Luft, da war man dem Himmel näher. Aber auch hier gab es strenge Regeln: Jungen von adligen Eltern lernen sehr früh reiten, Mädchen viel später, im Reitkleid, und auch nur auf sehr braven Pferden. Friedrich war ein eher schüchterner Bruder, fand Amélie. Er hatte sogar Angst vor seiner ersten Reitstunde gehabt, hatte er ihr gestanden. Er besah sich lieber Bilder in den Bänden der Bibliothek der Mutter, schrieb sich immer Notizen in sein kleines Wachstuchheft und sprach von Italien als seinem Wunschparadies.

Er fiel auch erst einmal häufig vom Pferd. Das machte die Sache leider nicht besser. Und nur, weil der Vater gesagt hatte, man müsse ihn herausfordern, er solle kein Schwächling werden, hatten sie ihm gleich sehr unbändige Pferde gegeben. Amélie tröstete Friedrich immer, wenn er am Bein blutete und ganz blau geschlagen war. Dass ein Junge weinte, hatte sie übrigens auch nur einmal bei Friedrich gesehen und sich ihm dadurch ganz nah gefühlt. Am letzten Sonntag nach einem festlichen Essen unterhielten sie sich einmal ganz in Ruhe und er erzählte, dass der Sohn des Fouriers• krank geworden wäre und lange nicht mehr bei den Reitstunden teilnehmen würde. Er sollte das dem Lehrer am Montag ausrichten. Amélie bekam große, weite Augen: „Am Montag, wann denn?“, flüsterte sie. „Na, schon früh, vor dem Frühstück, um 7 Uhr haben wir Reitstunde, und immer auch am Mittwoch und Freitag … immer dann.“ „Vor dem Frühstück?“, flüsterte Amélie und hatte sofort einen Plan im Kopf: Wenn sie die Französischlektion einmal ausfallen lassen würde … und wenn sie nun auch das Frisieren und Anziehen abkürzen würde … die Piper, die all das mit ihr ja machen musste, die die Kleider heraussuchte, aufbügelte, sie anzog, dies und das noch neu annähte und die Haare mit der Brennschere kräuselte … wenn sie die Piperin bereden könnte, dass sie die ganze Prozedur öfter einmal verkürzte und anstatt des kleinen Freunds von Friedrich sie reiten lernen durfte? Sie versuchte einen Augenaufschlag: „Lieber Friedrich, leihen Sie mir Ihre Sachen oder solche für einen Jungen?“ So flehte sie … Friedrich brauchte lange, bis er verstand. „Ach so“, sagte er. Dann kam eine Pause. Friedrich zeigte Bedenken durch sein Schweigen. Amélie war umso beredter: „Ich weiß, dass ich es genauso gut kann wie … “ – jetzt zögerte sie – „wie Sie“ zu sagen, wäre wahrscheinlich sehr dumm. Daher sagte sie schlau: „Wie Ihr Reitlehrer.“ Friedrich, der den Mann hasste, bemerkte: „Schwester, Sie haben Mut.“ Aber dann zwinkerte er ihr zu und fügte an: „Gut. Das Zeug finden Sie.“

Damit war er verschwunden, denn schon dreimal war er von seinem Hofmeister gerufen worden. Amélie blieb zurück, etwas verwirrt und erstaunt über ihre plötzliche Idee.

Wirklich, Friedrich hielt Wort. Die Piper brachte Amélie abends einen Ballen, in Geschirrtücher eingewickelt, da waren die Jungenkleider drin. Sie drohte mit dem Finger: „Na, Herzogin, ob das man gut ausgeht? Was hast Du denn mit dem Herzog Friedrich vor?“ „Na, Piperin, weil Du es bist, sage ich es Dir.“ Und Amélie beichtete das Geheimnis, sprach von dem so großen Wunsch, reiten lernen zu dürfen wie die Jungen und … die Piperin verstand es!!! Amélie jubelte und gab ein Gelübde ab: Von dem Geld, das sie und ihre Geschwister zu Weihnachten erhielten, um allen Dienstboten eine Freude zu machen, sollte die Piperin das meiste bekommen, und sie wollte ihr überhaupt nur noch Freude machen: nicht mehr maulen, wenn das Korsett geschnürt wurde und sie piekte und die Strümpfe kratzten und die Haare beim Frisieren ziepten. Von dem Geld wollte die Piperin gar nichts wissen. Amélie probierte die Kleider rasch an und tanzte darin durchs Zimmer. Sie war ein Junge, der am nächsten Morgen richtig reiten lernen würde!

Sie jubelte und sang – und stellte sich schon vor, wie herrlich das alles wäre …

Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Und herein trat, vollkommen unerwartet, ihre Schwester Caroline, schon im Nachtgewand. Sie hielt ein von Amélie geliehenes Buch in der Hand.

Caroline erstarrte wohl ebenso rasch wie Amélie. „Was machen Sie denn da?“, stotterte sie, die sonst nie stotterte. Amélie wusste, sie hatte nur eine Chance – zu lügen. Was das Zeug hielt. „Ich habe mir für Papas Geburtstag ein Stück ausgedacht und übe gerade mit der Piperin eine Szene. Ich wollte Ihnen das morgen in der Tanzstunde erzählen. Es gibt Rollen für uns alle.“ „Ach so, ach so – aber in Jungenkleidern … das ist wenig sittsam, Amélie“, hauchte Caroline, immer noch verwirrt. Doch Amélie war jetzt sicherer: „Das ist nicht meine Rolle, das ist die für Friedrich, ich wollte sie nur mal ausprobieren, ob sie so wirkt … der Effekt, Caroline, wir dürfen uns nicht blamieren. Und überhaupt … Wollen Sie mir nicht helfen bei dem Stück?“

Und so kam es, dass an diesem Abend ein kleines, sehr charmantes Theaterstück für den Vater erdacht wurde, dass auch Caroline die Jungenkleider einmal anprobierte und eine andere Rolle verkörperte, dass sie viel Spaß zusammen hatten, dass beide todmüde schließlich zusammen in Amélies Bett einschliefen, die Piperin beide zudeckte und das Bündel mit den Kleidern wieder an Friedrich zurückgab.

Der kranke Reitgenosse wurde übrigens rascher gesund als vermutet. Aber Amélie wusste nun, dass sie erstens in der Piper eine wahre Verbündete hatte, dass Friedrich ein Mensch zum Pferdestehlen war und zugegebenermaßen Caroline wenigstens manchmal doch ganz brauchbar.

Das Theaterstück mit dem Titel „Ruhm und Ehre des Herkules – eine Komödie“ wurde ein großer Erfolg, es wurde als Carolines und Amélies gemeinsame Leistung angesehen und von den Eltern gewürdigt. Am Geburtstag des Herzogs gab es, was es nur ganz selten gab, eine Torte mit Marzipanfiguren – einem Harlekin, einer Smeraldina, einem Dottore, einem Pantalone und zwei Verliebten, die Figuren in der italienischen Komödie•. In der Mitte der Torte stand eine Minerva.

Die Figur der verliebten Dame hatte sich Caroline gemaust. Amélie nahm sich die Minerva und fragte sich, was diese ernsthafte Göttin der Wissenschaften und Künste in der lustigen italienischen Komödie zu suchen hatte.

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22 aralık 2023
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