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Jacques Ziller

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich

I.Genese und Entwicklung1 – 29

1.Die Monarchie und die ersten Jahre der Französischen Revolution von 17891 – 4

a)Die Verwaltungsrechtspflege unter der Monarchie1, 2

b)Die Französische Revolution3, 4

2.Die napoleonischen Reformen5 – 12

a)Die Reformen des Konsulats und des Kaiserreichs5 – 9

b)Konsolidierung zwischen Restauration und II. Kaiserreich10 – 12

3.Die Entfaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter der III., IV. und V. Republik13 – 24

a)Die Entwicklung der Strukturen13 – 19

b)Die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Krisen des 20. Jahrhunderts20 – 24

4.Die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Entwicklung Frankreichs25 – 29

II.Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit30 – 65

1.Objektiver und subjektiver Rechtsschutz30 – 33

2.Einordnung in das Schema der Gewaltenteilungslehre34 – 42

a)Die Gewaltenteilung nach französischer Auffassung34, 35

b)Verhältnis zu den politischen Staatsorganen und zur Verwaltung36 – 40

c)Verfassungsrechtliche Dimension der Verwaltungsgerichtsbarkeit41, 42

3.Stellung in der Gerichtsbarkeit43 – 56

a)Gerichtszweige43 – 48

b)Zuständigkeitsaufteilung49 – 53

c)Lösung von Zuständigkeitskonflikten54 – 56

4.Weitere Arten des Rechtsschutzes57 – 59

5.Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft60 – 65

a)Einfluss der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Staats- und Verwaltungsrechtslehre60 – 62

b)Weiterentwicklung der Rechtsprechung durch die Wissenschaft63, 64

c)Rolle des CE bei der Bestimmung der allgemeinen Rechtsgrundsätze65

III.Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext66 – 125

1.Verfassungsrechtliche Grundlagen66, 67

2.Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit68 – 76

3.Verfahren77 – 111

a)Der Code de la justice administrative als Grundlage des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens77 – 79

b)Zugang zur Verwaltungsgerichtsbarkeit80 – 86

c)Verfahrensarten87 – 93

d)Verfahrensgrundsätze94 – 104

aa)Der „Dekalog“94 – 97

bb)Entscheidung innerhalb angemessener Frist98

cc)Untersuchungsgrundsatz99 – 101

dd)Weitere Verfahrensgrundsätze: Schriftliches Verfahren, Kostenfairness und Begründungspflicht102 – 104

e)Einstweiliger Rechtsschutz105 – 111

aa)Référé-suspension, référé-liberté und référé-mesures utiles106 – 109

bb)Einstweiliger Rechtsschutz durch den Einzelrichter110

cc)Die question prioritaire de constitutionnalité111

4.Kontrolldichte und Entscheidung112 – 125

a)Kontrolldichte112 – 117

b)Entscheidungen118 – 122

c)Rechtsmittel123 – 125

IV.Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum126 – 142

1.Chronologische Darstellung127 – 130

a)Ausgangsphase: Europarat und Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)127, 128

b)Zweite Phase: Römische Verträge; Van Gend en Loos- und Costa/ENEL-Rechtsprechung129

c)Dritte Phase: Ende der 1980er-Jahre bis zum Verfassungsvertrag130

2.Der heutige Stand131 – 142

a)Die Umsetzung von Richtlinien134, 135

b)Die Anerkennung der unmittelbaren Anwendung und des Vorrangs des Unionsrechts und die unionsrechtsmäßige Auslegung136

c)Die Haltung zu Vorabentscheidungsverfahren137, 138

d)Die Kooperation zwischen der französischen Gerichtsbarkeit und dem EGMR139 – 141

e)Die heutige grundsätzliche Europafreundlichkeit der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit142

V.Schlussbemerkungen143

Bibliographie

Allgemeine Hinweise

Abkürzungen:


CAA Cour administrative d’appel (Verwaltungsberufungsgerichtshof)
CC Conseil constitutionnel (Verfassungsrat)
CCass Cour de cassation (Kassationsgerichtshof)
CdG Commissaire du gouvernement (wörtlich: Regierungsbeauftragter)
CE Conseil d’État (Staatsrat)
CF Constitution française (Französische Verfassung)
CFLN Comité français de libération nationale
CJA Code de la justice administrative (Gesetzbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit)
CNDA Cour nationale du droit d’asile (Nationaler Asylgerichtshof)
EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKSV Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
ENA Ecole nationale d’administration (Nationale Verwaltungsschule)
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
RA La Revue administrative
REP Recours pour excès de pouvoir (Aufhebungsverfahren)
RFDA Revue française de droit administratif
RIDE Revue internationale de droit économique
RPC Recours de plein contentieux (Verfahren mit unbeschränkter Urteilsmöglichkeit)
TA Tribunal administratif (Verwaltungsgericht)
TC Tribunal des conflits (Kompetenzkonfliktsgericht)

Siehe im Übrigen die allgemeinen Hinweise zu Jean-Louis Mestre, IPE III, § 43 und Pascale Gonod, IPE V, § 75.

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › I. Genese und Entwicklung

I. Genese und Entwicklung

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › I. Genese und Entwicklung › 1. Die Monarchie und die ersten Jahre der Französischen Revolution von 1789

1. Die Monarchie und die ersten Jahre der Französischen Revolution von 1789

a) Die Verwaltungsrechtspflege unter der Monarchie

1

Darstellungen des modernen französischen öffentlichen Rechts beginnen seit mehr als einem Jahrhundert üblicherweise mit der Französischen Revolution von 1789; mit dem öffentlichen Recht vor der Revolution befassen sich Rechtshistoriker[1] und nicht Staatsrechtslehrer. Dennoch reichen die Wurzeln der zeitgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit – wie auch des gesamten französischen Regierungs- und Verwaltungssystems[2] – weit bis in die Zeit der Monarchie zurück. Um die Bedeutung des Verwaltungsapparats Frankreichs zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts etwa 28,5 Millionen Einwohner sowie mehr als 500.000 km2 Fläche besaß und damit 17 % der Bevölkerung Europas ausmachte, wobei Russland an erster Stelle stand. England wies demgegenüber ca. 8 Millionen Einwohner und weniger als 250.000 km2 auf, Spanien ungefähr 9 Millionen und über 400.000 km2 und Preußen unter Friedrich II. rund 5,5 Millionen Einwohner und ca. 195.000 km2. Die hohe Bevölkerungszahl Frankreichs führte schon Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer besonderen Bedeutung der Ingenieure für den französischen Staat, was zur Errichtung der École des Ponts et Chaussées (Brücken- und Straßenschule) 1747 und der École des Mines (Minenschule) 1783 führte. Der hohe Stellenwert der Ingenieure spiegelt sich nach wie vor in der französischen Staatsverwaltung wider, was unter anderem auch erklärt, warum der Conseil d’État (Staatsrat – CE) und nicht die einzelnen Ministerien oder andere staatliche Stellen der Ort des Fachwissens des öffentlichen Rechts in der französischen Verwaltung gewesen und geblieben ist.

2

Fast bis zum Ende der Herrschaft Ludwigs XIII. († 1643) besaßen die souveränen Gerichtshöfe (sog. Parlements, in denen nur Adelige saßen) die Zuständigkeit für die gerichtliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit. Mit dem Édit de Saint Germain von 1641 wollte der König den Parlements verbieten, über Streitigkeiten zu richten, die die Entscheidungen der Intendants (Vertreter des Königs in den Provinzen) und des Conseil du Roi (Rat des Königs) betrafen. Der größte Teil der Steuerstreitigkeiten sowie der das Bauingenieurwesen betreffenden Streitigkeiten wurde damals von den Intendants geregelt; anschließend bestand die Möglichkeit der Berufung vor dem Conseil du Roi, der meist auch die Verwaltungsstreitigkeiten erstinstanzlich regelte, da der König ein droit d’évocation (Recht, eine Sache in erster Instanz an sich zu ziehen) besaß. In den meisten Fällen entschieden die Intendants nicht alleine, sondern innerhalb eines mit Offizieren und Juristen besetzten Gerichts. Das Edikt hatte den adeligen Aufstand der Fronde (1648–1653) zur Folge und mündete schließlich in der absoluten Monarchie Ludwigs XIV. (1638–1715) und im System des administrateur-juge (Richter innerhalb der Verwaltung). An der Seite des Conseil du Roi entwickelten sich unter Ludwig XVI. (1754–1793) sog. Commissions extraordinaires de jugement (außerordentliche gerichtliche Ausschüsse). 1777 wurden die Intendants abgeschafft und ein Comité du contentieux (Ausschuss für Streitigkeiten) errichtet, das deren frühere Zuständigkeiten zur Regelung von Streitigkeiten übernahm. Die monarchische Verwaltungsgerichtsbarkeit entschied nicht systematisch zu Gunsten der Verwaltung, wurde aber heftig von der Noblesse de Robe (gerichtlicher Adel) kritisiert, die den Aufstand der Fronde provoziert hatte. Insbesondere die Cour des Aides de Paris (Pariser Finanzgerichtshof) hat zwischen 1756 und 1775 die Praxis der königlichen Verwaltung in sog. remontrances (Gegenvorstellungen) angegriffen.[3] Die Bourgeoisie hatte zu diesen Zeiten zwar keinen Zugang zu richterlichen Ämtern der Parlements und Cours des Aides, übte aber häufig andere Rechtsberufe aus und kannte daher das Justizwesen besonders gut. Nicht von ungefähr waren wichtige Anführer der Revolution, wie etwa Danton, Robespierre oder Saint-Just, Anwälte.

b) Die Französische Revolution

3

Auf der Grundlage der von der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) vom 26. August 1789 verkündeten Grundsätze der Gesetzesbindung der Verwaltung und des Vorranges der gesetzgebenden Gewalt wurde mit Gesetz vom 16. und 24. August 1790 von der verfassungsgebenden Assemblée nationale (Nationalversammlung) eine strenge Gewaltenteilung eingeführt. Verwaltungsbediensteten wurde verboten, sich in die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt einzumischen und die Anwendung von Gesetzen auszusetzen (Art. 10 des II. Titels). Zum anderen bestand für die Richter ein Verbot, in irgendeiner Weise die Arbeitsabläufe der Verwaltung zu stören und die Verwaltungsbediensteten aufgrund ihrer Amtsausübung vor Gericht zu bringen (Art. 10 des II. Titels); der Verstoß hiergegen konnte zur Absetzung führen.[4] Mit Gesetz vom 6. bis 11. September 1790 wies die Nationalversammlung im Wesentlichen die Rechtswegzuständigkeit für Verwaltungsstreitigkeiten den Directoires (Direktorien) der Départements bzw. Districts (Bezirke) zu.[5] Dies betraf Streitigkeiten, die direkte Steuern zum Gegenstand hatten, Auftragsvergaben für öffentliche Bauvorhaben und Schäden, die dabei entstanden, den Verkauf von staatlichen Besitztümern, die früher Besitz der Kirche oder von Emigranten (politischen Flüchtlingen) waren und Maßnahmen gegen Letztere. Der Conseil du Roi – auf Grundlage eines Gesetzes vom 27. April zum 25. Mai 1791 vom König zum Oberhaupt der allgemeinen Verwaltung ernannt – war bis zu seiner Abschaffung durch Gesetz vom 15. August 1792 die Berufungsinstanz gegen Entscheidungen der Directoires.

4

Nach dem Ende der Convention (Regime der zweiten verfassungsgebenden Nationalversammlung vom 21. September 1792 bis 26. Oktober 1795) wurde durch Art. 15 der neuen Verfassung des 5. Fructidor des Jahres III der Revolution (22. August 1795) die bis dahin bestehende Ministerialkollegialität abgeschafft und jeder einzelne Minister als Richter der Streitigkeiten in seinem Ressort eingesetzt. Dies war die Geburtsstunde der Theorie des sog. Minister-Richters (théorie du ministre-juge). Das Regime des sog. Directoire wurde durch den Staatsstreich Napoleon Bonapartes vom 18. Brumaire des Jahres VIII (9. November 1799) mit den Worten Bonapartes „Bürger, die Revolution ist auf die Grundsätze festgelegt, die sie begonnen haben; sie ist nun vorbei.“[6] beendet.

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › I. Genese und Entwicklung › 2. Die napoleonischen Reformen

2. Die napoleonischen Reformen

a) Die Reformen des Konsulats und des Kaiserreichs

5

Mit der neuen Verfassung des 22. Frimaire des Jahres VIII (13. Dezember 1799), die durch ein Plebiszit vom 7. Februar 1800 durch das Volk genehmigt wurde, wurde der CE errichtet und somit u.a. das Monopol der Minister als Richter der Verwaltungsstreitigkeiten beendet. Art. 52 der Verfassung bestimmte, dass der CE „die Schwierigkeiten regeln sollte, die in Verwaltungssachen entstehen“ („résoudre les difficultés qui s’élèvent en matière administrative“). Mit Verordnung des 5. Nivôse des Jahres VIII (26. Dezember 1799) wurde ausdrücklich verfügt, dass der CE „in Verwaltungsstreitigkeiten entscheidet, in denen zuvor die Minister entschieden“ haben („se prononce sur les affaires contentieuses dont la décision était précédemment remises aux ministres“).[7] Nichtsdestotrotz lebte die Theorie des ministre-juge bis zum Urteil Cadot vom 13. Dezember 1889[8] fort, sodass die Minister förmlich ordentliche Richter erster Instanz blieben. Ab den 1860er-Jahren kam diese Theorie in Praxis und Lehre aber immer mehr in die Kritik.

6

Durch Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII (17. Februar 1800), das die napoleonische Gebiets- und Verwaltungsreform auf den Weg brachte (loi concernant la division du territoire de la République et l’administration), wurden Conseils de préfecture (Präfekturräte) errichtet. Die Minister blieben damit zwar dem Grunde nach ordentliche Richter erster Instanz (juges de droit commun de premier ressort). Dies betraf jedoch nur noch wenige Fälle, denn der Großteil der Verwaltungsstreitigkeiten war fortan den kollegial und von der sog. aktiven Verwaltung (also den Stellen mit Entscheidungsbefugnissen) getrennt beratenden Gremien der Conseils de préfecture zugewiesen.

7

Das Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII (17. Februar 1800) teilte den von Ingenieuren und allgemeinen Verwaltungsbeamten besetzten Conseils de préfecture die Zuständigkeiten für Streitigkeiten des öffentlichen Hoch- und Tiefbaus (travaux publics), der direkten Steuern und des Verkaufs von Staatseigentum zu. Durch Gesetz vom 29. Floréal des Jahres X (19. Mai 1802) wurden ihnen auch die sog. contraventions de voirie (Verwaltungssanktionen bei Schäden am Staatseigentum) übertragen. Der CE war Berufungsinstanz gegen Entscheidungen sowohl der Minister als auch der Conseils de préfecture. Diese Zuständigkeitsverteilung führte bereits früh dazu, dass sowohl die Conseils de préfecture als auch der CE einen juristischen und technischen Sachverstand für Haftungssachen entwickelten, da sie sowohl für die Wiedergutmachung von Schäden, die Privatpersonen am Staatseigentum verursacht hatten, als auch und vor allem für Schäden zuständig waren, die Privatpersonen wegen Hoch- und Tiefbauarbeiten oder aufgrund des Zustands der staatlichen Straßen, Brücken und Gebäude erlitten hatten. Dies erklärt, warum das Tribunal des conflits (Kompetenzkonfliktsgericht – TC) im Fall Blanco 1873[9] der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Zuständigkeit für Staatshaftungssachen anvertraute.

8

Der CE war jedoch nicht nur Berufungsinstanz. Vielmehr entschied er – gestützt auf seine eigene Auslegung des Gesetzes vom 7. bis 14. Oktober 1790, durch welches dem König die Entscheidung über Fälle von incompétences (d.h. ultra-vires-Handlungen, also solche, die außerhalb des übertragenen Handlungsbereichs der Verwaltung liegen) der Verwaltung übertragen wurde – auch erstinstanzlich über Klagen wegen excès de pouvoir (Kompetenzüberschreitungen, d.h. Handlungen, für die die Verwaltung an sich zuständig ist, im Rahmen derer sie aber ihre Befugnisse missbraucht hat [wörtlich: Übermaß an Machtausübung]).[10] Mit Verordnung vom 11. Juni 1806 wurde innerhalb des CE eine Commission du contentieux (Kammer für Verwaltungsstreitigkeiten) errichtet, deren Verfahren in 30 Artikeln durch Verordnung vom 22. Juli 1806 festgelegt wurde. Diese Verfahrensverordnung, die u.a. das Widerspruchsverfahren regelte, war von einer früheren Regelung des Conseil du Roi von 1738 inspiriert und blieb bis 1945 in Kraft. Zwar wurden die formellen Entscheidungen weiter von der Generalversammlung des CE getroffen; diese folgte aber stets den Empfehlungen der Commission du contentieux. Vor diesem Hintergrund kann man das Jahr 1806 als Geburtsjahr der modernen französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit betrachten.[11]

9

Formell entschied der CE allerdings nicht selbst, sondern legte dem Staatsoberhaupt lediglich einen rechtlich begründeten Entscheidungsvorschlag vor – man sprach insoweit von justice retenue (Gerichtsbarkeit unter Vorbehalt). Aber das Staatsoberhaupt folgte fast ausnahmslos der vorgeschlagenen Lösung.[12] Napoleon hat dies, wie Chapus[13] hervorhebt, wie folgt auf den Punkt gebracht: „Mir werden Entscheidungen über Verwaltungsstreitigkeiten, die im Staatsrat vereinbart worden sind, vorgelegt, die ich blind unterzeichne; hierbei bin ich nichts anderes als eine Feder.“[14]

b) Konsolidierung zwischen Restauration und II. Kaiserreich

10

Durch die Wiederherstellung der Monarchie der Bourbonen 1814–1815 wurde die napoleonische Staatsstruktur, inklusive des Systems der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht in Frage gestellt; im Gegenteil: diese wurde allein durch ihr Fortbestehen als unumgängliche Struktur des französischen Staates anerkannt. Dies führte zu dem 100 Jahre später von Otto Mayer übernommenen Diktum: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht.“[15] So gab es in Frankreich zwischen 1799 und 1958 insgesamt zehn unterschiedliche Verfassungen, wobei keine die Struktur und Funktionen des CE nennenswert verändert hat. Lediglich unter der Juli-Monarchie (1830–1848) wurde die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit des CE durch drei Reformen mit Verordnungen vom 2. Februar und 12. März 1832 ergänzt: Nicht ständige Mitglieder des CE (Conseillers d’État en service extraordinaire) konnten ab 1832 nicht mehr an den Entscheidungen der Generalversammlung in Verwaltungsstreitigkeiten teilnehmen, die Sitzungen der Generalversammlung wurden öffentlich und Anwälte durften Ausführungen machen. Schließlich wurden Commissaires du gouvernement (Regierungskommissare – CdG; damals noch Commissaires du Roi) geschaffen, die zwar zunächst den Standpunkt der Regierung vertreten sollten, aber schon unmittelbar nach ihrer Einrichtung anfingen, ihre Schlussfolgerungen in voller Unabhängigkeit vorzulegen.[16] Anfang des 21. Jahrhunderts wurde ihre Bezeichnung der Funktion angepasst und die CdG in Rapporteurs public (öffentliche Berichterstatter) umbenannt. Die in den 1950er-Jahren am EuGH eingerichtete Figur des Generalanwalts hatte als Vorbild den CdG des CE.[17]

11

Während der 1830er- und der 1848er-Revolution in Frankreich wurde der CE – wie in anderen europäischen Staaten – zwar von liberalen Politikern in Frage gestellt,[18] schließlich jedoch beibehalten. Mit Art. 89 Constitution française (CF) 1848 wurde seine Stellung sogar eher noch verstärkt, denn er wurde im Rahmen des neugegründeten TC, das Zuständigkeitskonflikte zwischen justizieller und Verwaltungsgerichtsbarkeit regeln sollte, dem höchsten justiziellen (ordentlichen) Gericht, der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof – CCass) gleichgestellt. Im II. Kaiserreich wurde zwar der TC aufgelöst, nicht aber der CE.

12

Mit Gesetz vom 24. Mai 1872 – das auch das TC wieder errichtete – wurde der CE schließlich förmlich zum Gericht erhoben, das „im Namen des französischen Volkes“ entscheidet. Heute ist dies in Art. L2 Code de la justice administrative (Gesetzbuch der Verwaltungsgerichtsbakeit – CJA) niedergelegt. Das System der justice retenue[19] wurde damit beendet und zur sog. justice déléguée (delegierte Justiz) übergegangen. Das Gesetz vom 24. Mai 1872 bahnte auch den Weg zur völligen Abkehr von der théorie du ministre-juge 17 Jahre später und zur Ausdehnung der Zuständigkeiten des CE mit der Theorie des service public.[20]

§ 130 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich › I. Genese und Entwicklung › 3. Die Entfaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter der III., IV. und V. Republik