Kitabı oku: «Network», sayfa 5
»Exakt.« Hensen hatte schon lange aufgehört, sich über die Praktiken der Netzverwaltung aufzuregen. »Wir erfahren zwar nicht unbedingt, wer geschädigt wurde, was wir aber auf jeden Fall gemeldet bekommen, ist der Bezirk, aus dem die Leute stammen.«
»Und die kamen alle aus Berlin und Umgebung?«
»Genau.«
Hensen richtete sich auf.
»Damit unsere Aufgaben klar sind: Zu versuchen, die realen Identitäten über das Strafregister zu ermitteln, ist eine Pflichtaufgabe, die Di Marco morgen bei der Netzverwaltung erledigt. Falls dies ohne Ergebnis bleibt, wirst du das Verhalten der Netzidentitäten analysieren müssen, damit wir ihre Gewohnheiten und Vorlieben kennen und Strategien entwickeln können, um mit ihnen im Netz Kontakt aufzunehmen.«
Hensen wusste, dass sich das nicht schwierig anhörte. Wer allerdings einmal mit dem Gewirr aus Bürokratie, Filz und Behinderungen zu tun gehabt hatte, das sich vor einem aufbaute, wenn man Virtual-Crime-Fälle untersuchte, dem war klar, dass ein verzwicktes Stück Arbeit auf ihn zukam.
Hensen stand auf und zog ihre Jacke an. Di Marco seufzte, nahm noch einen Schluck Wein, auf den er sich schon die ganze Woche gefreut hatte, und stand ebenfalls auf. Babic blieb nichts anderes übrig, als es den beiden gleichzutun.
»Die Rechnung bitte.« Richie Hensen mochte die Lokale der RYUE, der Rich-Young-Urban-Elite, eigentlich gar nicht. Dennoch gefiel ihr, dass man noch so tat, als würde man tatsächlich mit echtem Cash bezahlen. Kein Abfertigen am Ausgang – Chipkarte rein ins Terminal, Drehtür auf – nein: richtiges Bezahlen, mit Kellner, Rechnung, Creditcard abgeben, Trinkgeld angeben und so weiter. Hensen fühlte sich jedes Mal retro wie in den guten alten Zeiten.
Die ersten Takte des Jailhouse Rock-Refrains erklangen.
Di Marco zog sein Visiophone aus der Tasche. »Was gibt’s, Burger?« Er wandte sich von der Kameralinse ab und zwinkerte Hensen grinsend zu.
»Spinner«, murmelte Hensen.
Je länger das Gespräch, zu dem er allenfalls einen Satz beisteuerte, dauerte, desto angespannter wirkte Di Marco. Schließlich gab er Hensen und Babic ein Zeichen, ihre Jacken anzuziehen.
»Wir sind gleich da, wir bringen Babic mit.«
»Was ist los?«, fragte Hensen beim Rauslaufen.
Di Marco wirkte elektrisiert. »Arthur Mallmann ist ermordet worden.«
»Ui.« Babic hatte, als sie zum ersten Mal wählen durfte, mit ihrem Vater diskutiert, ob man die EPD überhaupt wählen könne. Ihr Vater fand es super, dass endlich das Bürgergeld realisiert wurde. Sie selbst war ziemlich skeptisch gewesen. Mallmann wurde damals Arbeitsminister und nach einer Legislaturperiode von den Medien zum Vater der europäischen Virtual Work ernannt.
Kaum bei der Arbeit und schon ein solcher Hochkaräter.
Rantasten
Hensen, Babic und Di Marco rasten den Stadtring hinunter in Richtung Alexanderplatz, der seit neun Jahren über zwei Wahrzeichen verfügte: den Fernsehturm und das 250 Meter hohe Ludwig-Erhard-Building, in dem die EPD ihre deutsche Zentrale hatte.
Um diese Zeit, es war mittlerweile 19 Uhr, waren kaum mehr Fahrzeuge mit Sonderzulassung unterwegs. Hensen schaffte die Strecke in sieben Minuten.
Nachdem sie das Auto auf einem Sonderparkplatz circa 100 Meter vor dem Ludwig-Erhard-Building abgestellt hatten, ging Di Marco direkt zu einem der letzten Selbstbedienungsautomaten für gedruckte Zeitungen. Als er zurückkam, schwenkte er die neueste Ausgabe der WORD, der großen europäischen Boulevardzeitung.
»Deine Bettlektüre?«, stichelte Hensen.
Di Marco ignorierte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Überschrift in roten Lettern auf der unteren Hälfte der ersten Seite.
»Europäische Automobilindustrie entlässt weitere 12.000 Arbeitnehmer in Deutschland und Frankreich«, las Babic laut.
»Lies weiter!« Hensen beugte sich über Babics Schulter.
»Der Vorstandsvorsitzende der Europäischen-Automobil-Produktion-IG, Fred Gimpel, begründet diesen Schritt mit dem härter werdenden Wettbewerb auf dem Weltmarkt. ›Wenn wir die Lohnkosten nicht senken, sind wir am Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig‹, so Gimpel. ›Um Arbeitsplätze zu schaffen brauchen wir aber konkurrenzfähige Unternehmen.«
Babic warf die Zeitung in einen Mülleimer am Ausgang des Sonderparkplatzes.
»Hey!«
»Was soll denn dieses Geschwätz? Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Beruhig dich.« Hensen fasste Babic am Handgelenk. »Diesen Mist erzählen sie doch schon seit mindestens 50 Jahren. Das glaubt sowieso keiner mehr.«
»Aber die Unternehmen fallen doch irgendwann auf die Nase. Keiner kann mehr ihre Produkte kaufen und …«
»Quatsch«, unterbrach Di Marco sie. »Was meinst du, wohin die Produkte gehen? Der chinesische Markt ist groß genug. Und wenn der Absatz nicht mehr gesteigert werden kann, bleibt immer noch die Fusion. Auch das kann man als Wachstum verkaufen.«
Hensen winkte ab. »Komm, lass uns über was anderes reden. Das ist mir zu deprimierend.«
Es begann zu regnen. Hensen zog ihre Rapper-Mütze wieder auf, Di Marco reichte Mia seine Jacke, damit sie diese über ihren Kopf halten konnte.
»Hey, danke«, sagte Babic überrascht.
»Jetzt lasst das Turteln und beeilt euch«, rief Hensen, die bereits zwei Meter weiter direkt vor der Drehtür am Eingang des Gebäudes stand.
Nachdem sie sich an der Pforte ausgewiesen hatten, wurden sie von einem Servanten in Empfang genommen.
Die gut 1000 Quadratmeter große Eingangshalle war wirklich beeindruckend. Obwohl die Temperatur auf angenehmen 20 Grad gehalten wurde, stand in jeder Ecke ein tropischer Baum, gut 15 Meter hoch, je von einem eigenen viereckigen Strahler beleuchtet, der dafür sorgte, dass sowohl die partielle Raumtemperatur in der Umgebung der Bäume als auch das Licht äquatorialen Verhältnissen entsprachen.
Der Boden war aus Sandstein, die Rezeption ganz in Edelstahl gehalten, es gab mehrere Sitzecken mit Organo-Sesseln und -Sofas des japanischen Designers Huko Hukormi. An den weißen Wänden hing zeitgenössische Kunst, überwiegend großformatige Gemälde afrikanischer Künstler wie Motlibo oder Kuwana, und über den ganzen Raum verteilten sich europäische Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert.
Der Servant brachte die drei zu den Aufzügen, deren Türen und Rahmen ebenfalls aus Edelstahl waren.
»Kolossal, die Partei ist auf jeden Fall nicht ärmer geworden«, konstatierte Babic, die zum ersten Mal hier war und sich anerkennend umsah.
Wie Hensen begeisterte sie sich für Kunst und Architektur. Nach dem Abitur, als andere Jugendliche ihr Geld für High-Tech-Spielkonsolen ausgaben, hatten die beiden mit hart erspartem Taschengeld und dem Lohn, den Babics Vater ihnen fürs Bedienen in der Kneipe bezahlte, gemeinsam zwei Bilder des Istanbuler Pop-Art-Malers Kaya Ücari gekauft, die mittlerweile einen beachtlichen Sammlerwert hatten.
Die Fahrt in die 22. Etage dauerte höchstens eineinhalb Minuten. Vor dem Eingang der Penthouse-Wohnung von Mallmann patrouillierten mehrere Security-Servanten der Stadtpolizei. Am Rahmen der Eingangstür klebte ein Freigabesiegel der Spurensicherung.
Als sie die Wohnung betreten wollten, trat ein hochgewachsener Mann in einem Armani-Anzug aus dem Eingang, flankiert von zwei Bodyguards. Geschüttelt von einem heftigen Hustenanfall blieb er kurz stehen.
Als er weiterging, blickte Babic ihm hinterher.
»Mallmanns Sohn«, erklärte Hensen.
»Der sieht anders aus als auf den Fotos. Irgendwie aggressiver und älter.«
»Scheint ja auch nicht so übermäßig fit zu sein heute.«
Ein Security-Servant geleitete sie in Arthur Mallmanns Apartment. Die Wohnung passte bestens ins Gesamtkonzept des Ludwig-Erhard-Buildings. Im Wesentlichen bestand sie aus einem ungefähr 250 Quadratmeter großen, loftähnlich geschnittenen Raum, dessen Deckenhöhe in der Raummitte locker vier Meter 50 erreichte. Die Wohnung war spärlich, aber erlesen möbliert. An der etwa sechs Meter breiten Glasfront, von der aus man einen wunderbaren Blick über den Ostteil der Stadt hatte, stand ein Original-Eames-Lounge-Chair von Herman Miller.
Den hinteren Teil der Wohnung säumte eine Bibliotheksgalerie, die sich über die ganze Breite des Raums erstreckte. Hensen war beeindruckt von der schieren Menge und thematischen Vielfalt der vorhandenen Werke: soziologische, psychologische und medizinische Klassiker, wertvolle Architektur- und Kunstbände, jede Menge wirtschaftswissenschaftliche Fachliteratur und Belletristik unterschiedlichster Gattungen.
Über einer Sitzecke aus topmodernen schwarzen Ledersofas des chinesischen Design-Stars Cheng Fui hing ein gut zwei Meter hohes Gemälde von Gerhard Richter, gegenüber stand ein ultramoderner Visual-Surround-Fernseher von Sony, in einer Ecke am Ende des Raums befand sich die Installation Frozen Visions aus weißem Spritzguss von Drago Dragullo in Form einer riesigen von Spermien umgebenen Eizelle. Um den zwei Meter langen Esstisch aus Tropenholz reihten sich acht Stühle von Huko Hukormi. Rechts des Esstisches fand sich in einer Nische eine mit anthrazitfarbenem Kunststoff ausgekleidete grifflose Küche von Siemens, die mit der neuesten Technik ausgestattet war.
»Da lässt sich’s wohnen«, war das Einzige, was Di Marco, der genauso beeindruckt wie seine beiden Kolleginnen war, einfiel.
»Meinst du, die Möbel sind alles Originale?«, wandte sich Hensen an Babic, die neugierig in die Ecken linste.
»So wie’s aussieht, schon. Im wahrsten Sinne Neo-Moderne«, antwortete Babic. »Mallmann war nicht gerade arm, oder?«
»Spross einer alten Familie, der im letzten Jahrhundert eine ganze Reihe mittelständischer Industrieunternehmen gehörten.«
Hensen ging zurück in Richtung Eingang und sah, dass im begehbaren Ankleidezimmer rechts der Eingangstür, das auch als Garderobe diente, zwei Streifenpolizisten der Stadtpolizei standen.
Als die beiden Hensen sahen, kamen sie sofort auf sie zu.
»Wir sollten Sie in Empfang nehmen«, erläuterte einer der beiden nach der Begrüßung.
»Herr Pescz, der Assistent von Doktor Mallmann, war schon da, als wir kamen.« Er zeigte auf einen etwa zwei Meter großen leptosomen Mann in einem schwarzen Zweireiher, der nervös wirkte. »Er wollte wichtige Parteidokumente abholen. Wir haben vom Präsidium die Freigabe für die Dokumente, falls Sie dem zustimmen. Ich hoffe, das ist okay.«
»Wir schauen uns nachher alles mal genau an«, antwortete Hensen. »Hat er schon ausgesagt?«
»Er gibt an, einen Termin mit Doktor Mallmann gehabt zu haben, der habe ihn nach fünf Minuten aber wieder rausgeworfen.«
Hensen winkte den Assistenten zu sich.
»Hensen, SBBK. Meine Kollegen Di Marco und Babic«, stellte sich Hensen vor.
»Mein Name ist Pescz, ich bin der Assistent von Doktor Mallmann.«
Der Assistent hatte eine geradezu durchscheinend blasse Haut, eine Hakennase und basedow’sche Augen. Es fiel ihm offenkundig schwer, mit seinen Gesprächspartnern in Blickkontakt zu treten. Sein schwarzer Anzug schlotterte am dürren Körper. Hensen kam es vor als sei sie in einen Dracula-Film geraten.
»Mein Kollege sagte, Sie hatten einen Termin mit Herrn Doktor Mallmann?«, fragte sie.
»Ich kam etwas zu früh, der Pförtner-Servant ließ mich gleich durch – er kennt mich ja. Als ich oben war, stand die Tür zum Appartement offen. Ich habe mich umgeschaut, habe aber zunächst niemanden gesehen.«
Pescz räusperte sich. Die Situation war ihm sichtlich unangenehm.
»Dann habe ich mich mit Doktor Mallmann unterhalten, aber er wurde böse mit mir. Ich bin dann gegangen, zwei Stunden später jedoch wieder zurückgekommen. Die Tür stand erneut offen. Ich habe gerufen, es hat sich aber niemand gemeldet, nicht einmal der Service-Servant. Ich war natürlich irritiert. Dann habe ich mich in der Wohnung des Herrn Doktor umgeschaut. Die Tür zur Garderobe des Doktors stand offen, und da habe ich Doktor Mallmann gefunden.« Der Assistent schüttelte sich.
»Mir wird ganz schwindlig von den vielen Doktortiteln. Dürfte ich Doktor Hensens Frage ergänzen?«, schaltete sich Di Marco ein, der sich nicht verkneifen konnte, den Assistenten zu foppen.
Babic schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf.
»Selbstverständlich«, antwortete der Assistent mit verwirrtem Blick auf Hensen.
»Di Marco, lass den Quatsch«, mischte sich Hensen ein.
»Okay, okay. Was wollten Sie mit Mallmann besprechen?«
»Wir hatten heute mehrere Themen zu diskutieren. Das wichtigste war die Formulierung eines Antrags für die Freistellung von virtuellen Ersatztätigkeiten, wie Straßenkehren, Einkaufstüten in den virtuellen Supermärkten bepacken und so weiter.«
»Warum Ersatztätigkeiten?«, fragte Babic dazwischen, obwohl sie keinen Schimmer hatte, ob dies relevant für den Fall war.
»Wir hatten in letzter Zeit Schwierigkeiten mit den von Microsoft programmierten Waldbränden«, stotterte der Assistent.
Um gewährleisten zu können, dass die Networker im Netz auch Arbeit hatten, war ein Teil der Arbeit bereits im Virtual-Work-Programm vorgegeben, etwa die Pflege von Gärten oder das Konstruieren, Bauen und Abreißen von Häusern. Microsoft hatte auch regelmäßig ausbrechende Feuerinfernos in leeren VR-Distrikten einprogrammiert, die zur Beschäftigung der zahlreichen Feuerwehrbrigaden dienten. Dies reichte allerdings nicht aus, alle Networker ausreichend zu beschäftigen.
Eine der letzten Verordnungen, die Arthur Mallmann als Arbeitsminister angeregt hatte, um die Beschäftigung im Netz zu erhöhen, war nach einem Jahr Probelauf der Virtual Work die Bestimmung gewesen, dass jeder Networker zumindest eine Stunde täglich die Dienste eines anderen Berufs in Anspruch nehmen musste. Diese Stunde wurde als Arbeitszeit berechnet. Selbstverständlich konnte man in seiner Freizeit auch mehr Stunden nützen, ebenso war dies den von der Netzarbeit Befreiten möglich.
»Was für Schwierigkeiten?«, hakte Babic nach.
»Es hat über einen Monat nicht mehr gebrannt, und die Feuerwehrbrigaden hatten keine Arbeit mehr. Wenn wir wirklich durch Beschäftigung Unruhen vermeiden wollen, dann müssen auch solche Eventualitäten abgesichert sein. Es darf nicht sein, dass jemand im Netz ohne Arbeit ist.«
»Was gab’s noch zu besprechen?«, übernahm Hensen wieder.
Pescz schien mit der Simultanbefragung durch die drei etwas überfordert und blickte hektisch von einem zum anderen.
»Hauptsächlich Termine für den nächsten Tag durchgehen. Doktor Mallmann ist ein gefragter Mann«, erklärte er hochnäsig.
»War«, korrigierte Di Marco. »Und weiter?«
Der Assistent zögerte, setzte zum Sprechen an, überlegte es sich aber anders und schwieg.
Hensen hatte keine Lust mehr auf Frage-Antwort-Spielchen. Sie baute sich einen halben Meter vor dem Assistenten auf, sah ihm von unten direkt in die Augen und lächelte ihn an. Sie war zwar nur ein Meter 60 groß, aber mit einer Zwei-Meter-Persönlichkeit. Der Assistent hielt ihrem Blick vielleicht zwei Sekunden stand. Hensens Lächeln hatte in etwa die Harmlosigkeit einer Sandviper, als sie auf einen elektronischen Timer und mehrere archaisch anmutende Aktenmappen deutete, die direkt neben der Videosprechanlage auf einem kleinen Abstelltischchen lagen und von denen sie annahm, dass darin die Besprechungsinhalte festgehalten waren.
Die Wiedereinführung von Akten auf Papierbasis in allen europäischen Bundesbehörden zur Archivierung geheimer Daten war eine der umstrittensten Aktionen der EPD gewesen. Allerdings sprach viel dafür, dass Papier-Akten, die von Security-Servanten bewacht wurden, sicherer waren als die meisten elektronisch archivierten Dokumente.
»Könnten wir bitte diesen Timer und die Aktenmappe einsehen?«, fragte sie betont süßlich.
Der Assistent war sichtlich eingeschüchtert und trat einen Schritt zurück. Die gewonnene körperliche Distanz verschaffte ihm wieder etwas Mut, und er wand sich. »Das ist alles Top Secret. Ich kann Sie keine Einsicht nehmen lassen.«
»Wir sind Bundespolizisten. Solange es sich nicht um A-Class-Dokumente handelt, benötigen wir nicht einmal eine richterliche Anordnung.«
Das war schlichtweg gelogen. Hensen spekulierte darauf, dass der Assistent in Sachen Akteneinsicht nicht bewandert war und sich durch die Erwähnung von A-Class-Dokumenten, die der höchsten Geheimhaltungsstufe der Sicherheitsdienste des Europäischen Bundes unterlagen, bluffen lassen würde.
»In Ordnung, ich zeige Ihnen die Akten. Aber bitte behandeln Sie die Inhalte vertraulich.«
Pescz stelzte zu dem Tisch, hob die Akten auf und reichte sie mit gespreizten Fingern an Hensen weiter.
An einem Besprechungstisch, der im hinteren Teil des Raums platziert war, machten sich Hensen, Babic und Di Marco an die Arbeit.
*
Die Daten, die Hensen und Babic dem Timer entnehmen konnten, stimmten mit den Angaben des Assistenten überein. Der elektronische Kalender zeigte für den Tag nach dem Mord eine Fülle von Terminen an, und zwar mit der Spitzenriege: dem Europäischen Sportminister, dem Arbeitsminister der deutschen Staatsregierung, dem stellvertretenden Vorsitzenden der European Assurance Deutschland.
Dazu kamen drei private Termine: einer mit dem ältesten Sohn Mallmanns, der als Juniormanager bei der European Assurance London arbeitete, ein zweiter mit der Ex-Frau Mallmanns und ein dritter mit einer gewissen Naomi, die den Angaben zufolge bei einer Berliner Callgirl-Agentur arbeitete. Die Termine am Mordtag waren weitgehend unergiebig, da sie alle, mit Ausnahme jenes mit seinem Assistenten, mindestens eine Stunde vor dem geschätzten Todeszeitpunkt Mallmanns geendet hatten.
Als wesentlich interessanter erwies sich die Lektüre der Aktenmappen. Zunächst musste sich Di Marco allerdings durch eine ellenlange, ermüdende Beschreibung der Geschichte der Virtual Work quälen. Er fragte sich gerade, wie er in diesem Gebäude an einen Kaffee kommen könnte, als er auf die Konzeption für die Entwicklung und Umsetzung von virtuellen Ersatztätigkeiten für häufig nachgefragte Netzprofessionen stieß. Kreativ war die EPD, kein Zweifel. Was die sich für virtuelle Tätigkeiten ausdachten: Umfragen bei den Networkern durchführen, welche Farbe die Ruhebänke an den Landstraßen haben sollten, die ohnehin nie jemand benutzte, dann die Ruhebänke in diesen Farben streichen; die Alterung der Fassade von Stadthäusern mithilfe virtueller Rauchkanonen simulieren, um den Fassaden dann wieder einen neuen Anstrich zu geben und so weiter. Sinnlose Tätigkeiten, die nur dazu da waren, den Leuten etwas zu tun zu geben.
Seine Kaffee-Erwägungen verflogen vollends, als Di Marco auf den Antrag stieß, Servanten Bürgerrechte einzuräumen, um sie zu vollwertigen Konsumenten und Steuerzahlern zu machen.
»Leute, ich habe hier was Interessantes«, rief er Hensen und Babic zu sich. »Mit diesem Antrag hätte er sich mit Sicherheit Feinde gemacht, vor allem bei den Freien Einheitlichen.«
Die Frei-Einheitliche Partei, die stärkste oppositionelle Kraft im deutschen Staatsparlament, kämpfte nicht nur für eine Befreiung Deutschlands von den Ausländern, also mit denselben Plattitüden, mit denen nationalistische Bewegungen schon immer geworben hatten; ihr Kampf gegen alles Fremde richtete sich auch gegen Servanten, in denen sie ein Verbrechen an der natürlichen Einzigartigkeit des menschlichen Wesens sahen.
»Meinst du, dass die dahinterstecken könnten?«, fragte Babic.
»Wenn’s einer von denen war, wäre es zumindest nicht verwunderlich, dass er auch gleich den Servanten plattgemacht hat.«
Hensen dämpfte Di Marcos Enthusiasmus ein wenig. »Das ist eine Hypothese, mehr aber auch nicht. Hier ist jemand ganz offensichtlich, von Mallmann unbemerkt, in die Wohnung eingedrungen, um ihn zu töten. Dafür musste zunächst der Service-Servant ausgeschaltet werden. Das gilt für jeden, der Mallmann umbringen wollte. Also spricht zunächst noch gar nichts für die Einheitlichen. Aber wir behalten sie im Auge.«
»Hat sich eigentlich schon jemand beim Pförtner-Servanten erkundigt, wer heute alles zu Mallmann wollte?«
»Das ist Routine bei der Stadtpolizei, Mia. Da vorne kommt gerade einer der beiden, wahrscheinlich weiß er die Namen schon.«
»Laut Auskunft des Pförtner-Servanten hatte es außer dem Assistenten seit 19 Uhr, also eine Stunde vor Mallmanns vermutlichem Todeszeitpunkt, keine Besuche mehr gegeben«, meldete der Streifenpolizist etwas außer Atem.
Hensen bedankte sich freundlich lächelnd.
»Also müssen wir den Assistenten noch ein bisschen kitzeln«, grinste Di Marco.
»Das machen wir am besten morgen«, bremste sie ihn. »Heute sollten wir auf jeden Fall noch den Rest der Akten durchgehen, und nachher müssen wir noch in die Zentrale zu Burger.«
Di Marco machte sich wieder an die Lektüre. Das letzte Aktenbündel behandelte das Thema Netzidentitäten. Mit jeder gelesenen Seite wurde Di Marco aufgeregter.
Babic bemerkte Di Marcos wachsende Unruhe. »Hast du was Neues?«
»Kommt drauf an. Es hat zwar vermutlich nichts mit unserem Fall zu tun, aber das hat’s in sich. Mann, der will die Kontingentierung begehrter Berufe aufheben.«
Arthur Mallmann mochte zwar ein unangenehmer Zeitgenosse sein, wenn es stimmte, was das Fernsehen über sein Privatleben berichtete, aber die Ideen, mit denen er sich beschäftigte, waren für einen Politiker außerordentlich innovativ, musste Di Marco zugeben. Denn, dass es – wie die EPD behauptete – für jeden möglich sei, den Beruf auszuüben, den er wollte, war nicht die volle Wahrheit.
Auch im Netz herrschten Angebot und Nachfrage, und es war klar, dass es nicht nur beispielsweise 60 Millionen Ärzte geben konnte. Microsoft hatte daher für Europa ein komplexes System mit 40 Hauptberufen programmiert, die wiederum in Unterkategorien unterteilt waren. Für die Netzpflege und die Verteilung der Berufe auf die Networker, wie man die zum Virtual Work Verpflichteten nannte, war die Europäische Bundesnetzverwaltung zuständig.
Die Zugänge zu Berufen waren seit zweieinhalb Jahren kontingentiert. Die Anzahl der pro Berufskategorie jeweils besetzbaren Stellen sollte alle zwei Jahre neu ermittelt werden und sich am Durchschnitt der pro Stelle in Anspruch genommenen Leistungen beziehungsweise des anfallenden Arbeitsaufwandes orientieren. Wollte man einen begehrten Beruf ausüben, musste man einen vorgegebenen Test bestehen oder einen bestimmten Geldbetrag vom eigenen Vermögen an die Netzverwaltung entrichten.
Di Marco las weiter.
Mallmann wollte noch weiter gehen. Offenbar wollte er sogar die Kontingentierung von begehrten Role Models im Netz aufheben, also der Rollen, in die man als Networker schlüpfte.
Zurzeit war Elvis Presley wieder in Mode. Damit nun nicht alle im Netz als Elvis herumliefen, war die Zahl der Personen, die maximal in dieser Rolle auftreten durften, beschränkt. Dies galt für alle prominenten Rollen und wurde mithilfe einer komplexen Formel aus einem aktuellen Popularitätsindex, der jährlichen Besiedlungsdichte eines virtuellen Distrikts und der Variierbarkeit der Rolle berechnet.
Prominente Rollen waren natürlich begehrt. Di Marco wusste, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gab, an eine solche Rolle zu kommen. Man konnte sich bei der Netzverwaltung um eine freiwerdende Rolle bewerben und diese Bewerbung durch die Zahlung eines bestimmten Geldbetrags aufwerten. Da die mit einer Netzidentität verbundene Rolle prinzipiell auch übertragbar war, konnte man begehrte Rollen auch auf dem Schwarzmarkt erwerben, wovon vor allem die Reichen profitierten, die ihre Identitäten wechseln oder gegebenenfalls auf mehrere zurückgreifen wollten.
Babic stand hinter Di Marco und las über seine Schulter mit.
»Ich wusste gar nicht, dass es Luxusidentitäten gibt«, murmelte sie.
»Geldmacherei. Einige wenige Rollen werden nur an ausgewählte Leute vergeben, die sich die Identitäten eine Stange Geld kosten lassen.« Di Marcos Verachtung war nicht zu überhören.
Hensen setzte sich neben Di Marco. »Mutig von Mallmann. Das wäre echt ein Schritt Richtung Gleichheit.«
»Meinst du, dass dieser Vorschlag im Parlament durchkommen könnte?«, fragte Babic.
»Wenn die ganze EPD mitzieht, dann auf jeden Fall«, meinte Hensen. »Das könnte ein Ansatz sein. Ich denke, wir machen eine Kopie von den Akten und werten den Rest morgen aus.«
Hensen holte einen Handscanner aus ihrer Brusttasche und begann, die Seiten einzulesen. Der Assistent, der Hensen beobachtet hatte, eilte herbei, um sie davon abzuhalten.
»Das können Sie nicht tun. Wenn die Opposition Wind von den Anträgen bekommt …«, ereiferte er sich und versuchte, Hensen den Scanner zu entreißen. »Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!«
»Immer mit der Ruhe.« Hensen hob beide Hände, die Handflächen nach außen gewandt. »Sie können sich direkt mit ihm in Verbindung setzen.« Sie nahm ihr Videosprechgerät und gab die Nummer der Zentrale ein. Burger gab dem Assistenten recht, wies Hensen an, die Kopien zu löschen und anschließend direkt in die Zentrale zu kommen.
Der Assistent, der Burgers Anweisungen mitgehört hatte, bekam nun Oberwasser.
»Sie haben Ihren Chef gehört«, wandte er sich mit arroganter Miene an Hensen. »Ich bitte Sie, Ihre Aufnahmen zu löschen und die Wohnung zu verlassen.« Hensen händigte ihm ruhig den Scanner aus. »Das können Sie sogar selbst tun und uns das Gerät dann zusenden«, lächelte sie ihn an und begab sich Richtung Ausgang, gefolgt von Di Marco und Babic.
»Wir müssen uns noch mal unterhalten«, rief Di Marco dem Assistenten im Hinausgehen zu.
»Hensen, hast du die Aufnahmen?«, fragte Di Marco, als sie wieder im Wagen saßen. Hensen grinste triumphierend, zog den Handscanner aus der Tasche und schwenkte ihn wie eine Trophäe hin und her. »Wenn er scannen will, dann wird ihm das Frisierset wenig nutzen.«
»Hey, ich hab doch gesehen, dass du ihm den Scanner gegeben hast«, fragte Babic erstaunt.
»Der Assistent hat wohl das gleiche gesehen.«
»Du kannst den Leuten noch immer den Stuhl unterm Hintern wegklauen? Nein, du bist noch besser als früher.« Babic schüttelte den Kopf. Schon mit zehn Jahren hatte Richie die Gäste in der Kneipe ihres Vaters als Tischzauberin unterhalten.
»Werden solche Taschenspielertricks von Burger akzeptiert?« Babic konnte sich kaum vorstellen, dass dies mit der offiziellen Linie der SBBK konform ging.
»Burger war früher nicht besser. Seit er Chef ist, weiß er davon natürlich nichts mehr. Jedenfalls, was er offiziell nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und wenn die Detailanalyse der Akten was Auffälliges ergibt, dann können wir immer noch einen gerichtlichen Kopierbeschluss erwirken. Das praktiziert die NSA wahrscheinlich schon seit ihrer Gründung so«, antwortete Hensen. »Aber sag mal, hast du psychologische Anhaltspunkte, ob der Assistent was damit zu tun hat?«
»Eher dafür, dass dies nicht der Fall ist«, antwortete Babic nachdenklich. »Ist dir aufgefallen, dass er immer, wenn er von seinem Chef sprach, wie irre seinen Daumen am Oberschenkel auf und ab gerieben hat? Psychoanalytiker würden wahrscheinlich eine Kastrationsangst diagnostizieren.«
»Was?«
»Ihr kennt ja das Kinderbuch Struwwelpeter, oder? In der Geschichte vom Daumenlutscher werden dem Konrad die Daumen abgeschnitten, weil er ständig am Daumen lutscht. Die Mama droht ihm vorher immer, dass der Schneider kommt mit seiner Schere, wenn er mit dem Daumenlutschen nicht aufhört. Und so ist es dann auch.« Sie imitierte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere. »Ich habe letztes Jahr ein Paper eines Neo-Freudianers gelesen. Er behauptet, wenn Jungs in der ödipalen Phase noch Daumen lutschen und dann von ihren autoritären Müttern zu stark reglementiert werden, entwickeln sie Kastrationsängste.«
»Also Daumen gleich Pimmel?« Di Marco realisierte, dass er unbewusst seine Daumen in seinen Fäusten versteckt hatte.
»Genau. Wenn so jemand dann im Erwachsenenalter von Autoritätspersonen zu sehr drangsaliert wird, dann kann sich das anscheinend in zwanghaften Verhaltensweisen äußern. Das Daumenreiben ist da eine der harmloseren Varianten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja. Ich bin keine Psychoanalytikerin. Aber ich bin mir sicher, Mallmanns Assistent hat seinen Chef mit aller Kraft gehasst, aber alles in sich hineingefressen.«
»Könnte das nicht auch die Aufregung über den Mord an seinem Chef gewesen sein?«, fragte Di Marco.
»Nein, die Hose war an der Stelle schon richtig abgeschabt. Der Hass ist alt.«
»Aber das macht ihn doch verdächtig.«
»Ja, aber ich glaube trotzdem nicht, dass er es war.« Babic holte ihre I-Vision aus der Tasche und zeigte Hensen ein Tatort-Foto. »Siehst du das gerahmte Bild von Mallmann?«
Hensen nickte.
»Das steht hier noch ganz normal da. Als wir vorher in der Wohnung waren, lag das Bild aber auf der Kommode, der Glasrahmen war zersplittert. Sieht aus, als hätte jemand voller Wut draufgehauen. Und ich weiß nicht, ob es euch aufgefallen ist: Der Assistent hatte einen Schnitt am Knöchel seines Ringfingers.« Sie kratzte sich an der Augenbraue. »So, wie ich das sehe, verspürt der Assistent überhaupt keine Erleichterung, dass Mallmann tot ist. Eher noch mehr Hass. So, als ob er frustriert sei, dass er ihm die Erniedrigungen nicht zurückzahlen kann. Und sich gleichzeitig schmählich im Stich gelassen fühlt.« Babic lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen.
*
Auf der Fahrt von Mallmanns Büro zur SBBK-Zentrale schwieg Babic. Es war etwa 22.30 Uhr. Ihr tat der Nacken weh, wahrscheinlich eine Folge des Schwitzkastens von gestern. Sie fühlte sich ziemlich ausgelaugt und hätte sich am liebsten gleich ins Bett gelegt. Wieder hier, noch immer Jetlag, neuer Job, neue Kollegen, als Geisel genommen worden und gleich ein solcher Monster-Fall. Sie hatte in den USA kein einziges Mal mit einem Fall zu tun gehabt, bei dem eine politisch ähnlich hochstehende Persönlichkeit ermordet worden war. Und sie konnte sich die Schwierigkeiten, die auftauchten, wenn man im Einflussbereich derart mächtiger Personen ermitteln musste, schon lebhaft vorstellen.