Kitabı oku: «Network», sayfa 6
Vor allem war sie genervt, weil sie noch nicht genau wusste, welchen Platz sie in ihrem neuen Team einnehmen sollte. Na ja, das würde sich vielleicht jetzt bald klären. Gleich würde sie ihren Chef treffen. Sie kannte ihn zwar von früher, hatte ihn aber lange nicht mehr gesehen.
Hensen schien zu spüren, was an ihrer Freundin nagte.
»Mia, es gibt genügend Platz für dich im Team.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Die Ermittlung wird schwierig. Idioten wie dieser Assistent legen dir permanent Steine in den Weg. Du ermittelst, erhältst aber keinen Einblick in Interna, die dir weiterhelfen könnten. Du musst schon froh sein, wenn du überhaupt an den Tatort gelassen wirst. Irgendwann präsentieren sie dir dann einen Schuldigen, meist einen Obdachlosen, den sie irgendwo aufgegriffen haben, und der Fall ist abgeschlossen.«
Hensen hatte oft genug mit solchen Fällen zu tun gehabt.
»Aber wo liegt da der Sinn?«, fragte Babic.
»Diese Leute sind vollkommen abgehoben, von der normalen Bevölkerung abgespalten. Die Art, wie sie Politik machen, hat im Grunde mit Demokratie nicht mehr viel zu tun. Die Wähler, die einen Wählerführerschein haben und dann tatsächlich auch zum Wählen gehen, bekommen von vielen Entscheidungen gar nichts mehr mit, weil diese Entscheidungen auch nicht groß in den Medien diskutiert werden. Deshalb ist Politikern auch nicht an Publicity gelegen. Das Wichtigste ist, dass sich die Leute ruhig verhalten, jeden Tag auch nach Feierabend noch im Netz rumhängen, sich abends die Birne vollballern und nicht darüber nachdenken, was in unserer Gesellschaft eigentlich passiert, und womöglich auf dumme Gedanken kommen«, schaltete Di Marco sich ein.
»Di Marco ist zwar ein verkappter Revoluzzer, aber im Grunde stimmt das schon«, nickte Hensen.
»Warum sollt ihr dann den Fall überhaupt bearbeiten? Ich meine, ihr seid doch eine bundesstaatliche Behörde. Wenn die hohen Vertreter dieser Organisation alles unter dem Deckel halten wollen, dann könnten sie doch gleich ein paar Marionetten hinstellen.« Babic schüttelte den Kopf.
Hensen machte eine beschwichtigende Geste.
»Die SBBK ist grundsätzlich autonom. Wir leben ja nicht in einer Diktatur. Das ist das Problem für die Bosse, wenn zu einem Fall ermittelt wird, in dem eigentlich nicht ermittelt werden sollte.«
»Außerdem lassen wir uns nicht einschränken, du hast es ja gesehen und wirst es noch öfters erleben«, fügte Di Marco hinzu.
In diesem Moment kamen sie am Zentralgebäude der SBBK an, einem gegenüber des ehemaligen Tempelhofer Flughafens an der Ecke zur Paradestraße gelegenen Komplex aus vier jeweils elfstöckigen Türmen, die untereinander mit gläsernen Durchgangsbrücken verbunden waren.
Hensen öffnete mit einer Fernbedienung eine Garagentür auf der rechten Seite des vordersten Hauses. Sie fuhr den BMW direkt in einen Fahrstuhl, der sie zu einer Parkbox im obersten Stockwerk transportierte. Der Ausgang führte in den Vorraum des Bürotrakts der Polizeileitung.
Der Bereich der Polizeileitung war anders als die meisten Polizeizentralen, die Mia Babic bislang zu Gesicht bekommen hatte. Mit ihrer modernen und gepflegten Einrichtung ähnelten die hellen und weitläufigen Räume eher der Vorstandsetage eines Wirtschaftsunternehmens.
Die Büros lagen beidseitig eines langgestreckten Flurs. Um zu den Verantwortlichen zu kommen, musste man sich an der Rezeption anmelden, an der eine auffallend hübsche Servantin saß. Mit ausdruckslosen Augen begrüßte sie Hensen und Di Marco und fragte Babic nach ihrem Zugangscode. Als sie Babics Chip gescannt hatte, geleitete sie die drei zu Burgers Büro.
Burger erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl, als sie sein Büro betraten. Babic war überrascht, wie wenig er sich verändert hatte.
Er war noch immer eine beeindruckende Erscheinung: groß, grau meliertes volles Haar, auffallende graublaue Augen und weiße ebenmäßige Zähne. Sein Gesicht wirkte verbogen, das lange Kinn leicht nach rechts verschoben. Die Nase wies nach zwei Brüchen in die entgegengesetzte Richtung und war ein wenig zu lang, was aber gut zur Kinnlänge passte. Eigentlich hässlich, dachte Babic sich auch dieses Mal. Aber auf eine Art, dass fast jede Frau sich nach ihm umdrehte. Und wenn er lächelte – ein dermaßen sympathisches Lächeln – dann … Ist schon gut, nickte sie Hensen zu, die sie beobachtet hatte.
Burger erhob sich. Er war wie immer stilvoll gekleidet, trug einen grauen Anzug, wahrscheinlich italienisch, den er sich von seinem Gehalt alleine vermutlich nicht leisten konnte.
Er ging auf Babic zu, nahm sie beiseite und sagte leise. »Du, ist mit dir alles okay? Nach gestern müsstest du normalerweise ein Beratungsgespräch mit jemandem aus dem P-Department machen. Ich kann das organisieren.«
»Nee, ist schon in Ordnung. Mir geht’s gut, ich bin voll einsatzfähig.«
»Okay, ich beobachte das mal, und du sagst mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
Er wandte sich an die anderen und sagte feierlich: »Freut euch mit mir über unser neues Mitglied Mia. Ihr werdet sehen, sie ist eine super Ergänzung für unser Team. Herzlich willkommen!«
Er lächelte Mia an.
Babic nickte und lächelte zurück.
»Leute, ihr hattet gestern einen ganz schön harten Tag«, sagte Burger, an Hensen und Di Marco gewandt. »Bei allem Respekt, ein astreiner Einstieg«, fügte er ironisch, an Babic gewandt, hinzu. Babics Neugier hatte sie schon damals, in ihrer Zeit bei der Mordkommission, mehrmals in brenzlige Situationen gebracht. »Zum Glück ist es gut gegangen.«
»Was passiert übrigens mit Haak?«, schaltete sich Hensen ein. »Dieser Verrückte hat den Typen ohne Not einfach umgeballert.«
»Haaks Aussage bei der Dienstaufsicht lautete aber anders.« Burger hob beschwichtigend die Hände. »Er behauptet, der Typ hätte nur so getan, als ob er Di Marco den Laserstift geben wollte. Seiner Meinung nach hat er Di Marco das Leben gerettet.«
»Dieser Lügner«, ereiferte sich Di Marco, »ich hatte den G-Booster schon in der Hand, und Mia war bereits außer Reichweite.« Babic und Hensen nickten bestätigend.
»Nach Haaks Aussage konnten weder Babic noch Hensen die Aktion des Geiselnehmers präzise beurteilen. Babic nicht, weil sie zu nahe an ihm dran war, Hensen nicht, weil die Hand mit dem G-Booster aus ihrer Position gar nicht zu sehen war.«
»Da hat er recht, ich konnte die Hand wirklich nicht sehen«, gab Hensen zu, »aber seine Körpersprache zeigte ganz klar Aufgabe an.«
»Ich habe die Situation sehr wohl überblickt«, sagte Mia. »Ich stand circa einen Meter von dem Typen entfernt. Der ließ zu diesem Zeitpunkt deprimiert den Kopf hängen und reichte Di Marco den Booster, ohne aufzuschauen. Der Lauf des G-Boosters war seitwärts in Richtung Kasse zwei gerichtet. Dort stand niemand. Die nächststehende Person war eine ältere Dame, die kurz zuvor eine Tüte Möhren fallen gelassen hatte. Ich bin mir sicher, dass der Typ die Frau nicht einmal bemerkte.«
Di Marco nickte heftig mit dem Kopf.
»Bei allem Respekt, Mia, ich weiß, dass du ein extrem gutes Gedächtnis hast. Aber du warst in einer Stresssituation«, sagte Burger. »Und du hast selbst einen Artikel darüber geschrieben, wie trügerisch die subjektive Wahrnehmung in solchen Fällen sein kann. Außerdem hat die Dienstaufsicht die Positionen nachgeprüft und hält Haaks Aussage für plausibel. Und dessen Aussage wird durch Strickle gestützt, der den besten Blick auf die Szene hatte.«
»Das heißt, Haak hat keinerlei Sanktionen zu erwarten?«, regte sich Di Marco auf. Sein Hals hatte rote Flecken vor Ärger.
»So sieht’s aus, tut mir leid.«
Di Marco hämmerte mit der Faust auf Burgers Schreibtisch. »Ich bin nicht blind, ich hab seine Augen gesehen, und ich habe mittlerweile eine Menge Erfahrung.«
Hensen beobachtete ihn von der Tür aus, an der sie, als sie hereingekommen waren, stehen geblieben war. Sie wusste, dass Di Marco ein Hitzkopf war, Haak und Strickle allerdings traute sie auch nicht. Für sie sah es nach Vertuschung aus.
Auch Babic hielt es für unwahrscheinlich, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Andererseits: Sie war gestern zum ersten Mal seit damals wieder in einer solchen Situation gewesen. Und sie war mehr als froh gewesen, von dem Typen wegzukommen.
Burger stellte sich direkt vor Di Marco.
»Tut mir leid, aber da ist noch was. Du musst morgen bei der Dienstaufsicht aussagen, weil dir Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Bei allem Respekt.«
Er sprach sehr leise und sah Di Marco eindringlich an.
Di Marco explodierte. »Die haben sie wohl nicht alle!«, schrie er. »Da riskiert man sein Leben, und dann kommt so ein Gestörter und labert diese Sicherheitsleute voll, und plötzlich bist du der Schuldige. Ich fasse es nicht!«
»Sorry, Di Marco. Mia muss auch mit. Aber bleib ruhig. Schlaf drüber. Ihr könnt den Vorwurf morgen ja locker entkräften.«
»Konntest du die Sache nicht abblocken?«, ärgerte sich nun Hensen, der Burgers pseudoneutraler Ton auf die Nerven ging. »Der Vorwurf ist doch totaler Schwachsinn.«
»Was hätte ich tun sollen?«, fragte Burger ruhig. »Eine solche Befragung ist eine Routineangelegenheit.« Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen und legte Di Marco eine Hand auf die Schulter. »Lassen wir dieses Thema. Ich sag’s euch, das erledigt sich von selbst.«
Di Marco schob die Hand weg und ließ sich in einen der Besuchersessel fallen. Er war stocksauer. »Ich denke, wir machen für heute Schluss«, sagte Burger. »Wir haben morgen genug zu tun, deshalb solltet ihr euch jetzt mal ausruhen.«
Die Besprechung war zu Ende, zumindest für Babic und Di Marco.
»Wenn du noch kurz dableiben könntest, Richie?« Burger war neben Babic – und zuweilen Di Marco – der Einzige, der Hensen bei ihrem Vornamen nannte.
»Ich kann Mia ja zum Hotel bringen«, bot Di Marco an. Er hatte sich wieder gefangen.
»Ist das für dich okay?«, fragte Hensen.
Babic nickte. Sie wollte nur noch ins Bett.
*
Di Marco hatte sich den BMW ausgeliehen, um Babic ins Hotel zu fahren. Die ersten vier Minuten herrschte Schweigen.
»Wie …« – »Wie …«, begannen sie gleichzeitig zu sprechen.
»Du zuerst.«
»Nein du.«
»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen?« Di Marco erschien diese Frage unverfänglich genug, um einen Small Talk zu beginnen.
»Eigentlich eine ziemlich komplizierte Geschichte.« Die Idee hatte Babic damals schon lange mit sich herumgetragen.
»Den endgültigen Entschluss habe ich gefasst, nachdem ich versehentlich als Terroristin verhaftet worden war.«
»Hä?«
»Ich war gerade 20, mitten im Psychologiestudium. Ich hatte mir beim Bouldern den Knöchel gebrochen und musste ins Krankenhaus. Irgend so ein anonymer Möchtegernpolizist war anscheinend der Meinung, ich sei ein Mitglied der radikalen AntiGloCap-Zelle, und der Fahndungscomputer hat, aus welchen Gründen auch immer, diese Möglichkeit eingeräumt.«
»Und Computer können nicht irren!«, sagten beide gleichzeitig. Di Marco hatte mehrere Freunde, die zu der Zeit ebenfalls aufgrund von Computerfehlern in die Mangel der Polizei geraten waren.
»Ich hab mich total aufgeregt, aber diese Spinner von der politischen Sicherheit haben mich einfach aus dem Krankenhausbett gezerrt.«
Dass unbescholtene Bürger als Terroristen verhaftet wurden, hatte Babic damals nicht überrascht. Es war eine Konsequenz aus den verheerenden IS-Anschlägen Ende der 20er-Jahre und den Beschneidungen demokratischer Rechte, die daraufhin gefolgt waren. Nach der H1N1/29-Pandemie konnten auch die größten Optimisten die Grenzen internationaler Solidarität nicht mehr bestreiten. Die katastrophalen Folgen des Klimawandels, wie die Energiekrisen der frühen 30er-Jahre und die großen afrikanischen Wasserkriege mit ihren Massenwanderungen, hatten die internationale Gemeinschaft schließlich endgültig zersplittert.
Nach der amerikanischen Ölsperre hatten sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt, die Rolle der Europäischen Union und insbesondere des Europäischen Parlaments in der Legislative und der Exekutive entscheidend zu stärken sowie die Vereinigten Staaten von Europa (EUS), mit eigener Verfassung und einer europäischen Zentralregierung, zu gründen. Großbritannien, dessen konservative Politiker auch Jahrzehnte nach dem Brexit noch an die Rückkehr des British Empires glaubten, entschloss sich nach einigem Hin und Her, der Gemeinschaft als assoziierter Sonderstaat beizutreten, ebenso alle skandinavischen Staaten. Der nächste Schritt war der Aufbau einer zentralen europäischen Armee (CEF) unter der Zuständigkeit des europäischen Verteidigungsministeriums gewesen. Der übernächste die Einrichtung einer zentralen europäischen Bundespolizeiorganisation, die vor allem für Kapitalverbrechen, organisierte Kriminalität und Terrorismus zuständig war.
Da sich die europäischen Staaten ohne die USA auch nicht sicherer fühlten, war es jetzt erst richtig losgegangen: verschärfte Sicherheitsgesetze, die Einführung von Rasterfahndungsprogrammen und der Einsatz routinemäßiger Genanalysen. In Europa entstand eine Atmosphäre kollektiver Paranoia. An fast jeder Straßenecke hingen Kameras, und der Polizei saß der elektronische Knüppel bei Systemgegnern jeglicher Art recht locker.
»Ich weiß noch, wie ich immer gelacht habe, wenn meine politisch engagierten Studienkollegen meinten, ›Passt auf, dass euer Steckbrief nicht irgendwie einem gerade frisch ausgegebenen Fahndungsraster entspricht.‹ Und dann habe ich es selbst erlebt.« Babic ballte die Fäuste bei der Erinnerung daran. »Ich sag dir, die sind mit mir umgegangen, als wäre ich der letzte Dreck. Und weißt du, was der größte Witz war? Das AntiGloCap-Mitglied, für den der Denunziant und der Computer mich gehalten hatten, war ein Mann gewesen.«
»Echt?« Di Marco musste lachen.
»Mir ist das Lachen damals im Hals stecken geblieben. Und weißt du, mit was die Polizisten meine Vernehmung begründet haben? Dass Geschlechtsumwandlungen mittlerweile weitgehend problemlos möglich seien.«
»Mannomann.« Mehr fiel Di Marco dazu nicht mehr ein. »Wie bist du da wieder rausgekommen?«
»Schlau, wie die waren, kamen sie drauf, dass ich eine andere Augenfarbe als der Terrorist hatte. Und Augenfarben konnten damals ja allenfalls mithilfe von Kontaktlinsen simuliert werden. Nach acht Stunden durfte ich dann endlich wieder gehen und mich in mein Bett legen.«
»Dass du da überhaupt noch Lust hattest, zur Polizei zu gehen …«
»Das konnten meine Freunde auch nicht verstehen. Die haben mich sogar für verrückt erklärt, genauso wie mein Vater, meine Mutter und Richie.« Babic dachte an die langen Diskussionen mit Hensen, die mit allen Mitteln versucht hatte, ihr diese Schnapsidee auszureden. »Aber ich wollte es jetzt erst recht. Ich dachte mir, dass man den Job nur besser machen kann als diese Deppen.«
»Meine Güte.« Di Marco schüttelte den Kopf. »Leider gibt’s auch heute noch genug von der Sorte. Schau dir nur mal Haak und Strickle an, und die sind bei Weitem nicht die einzigen Bekloppten.«
Sie bogen in die Straße ein, in der Babics Hotel lag. Di Marco fuhr an den Seitenstreifen und stellte den Motor ab.
Babic blieb im Auto sitzen und fragte: »Was ging da heute früh eigentlich ab, mit dir und diesen beiden?«
»Wir sind mal richtig aneinandergeraten. Die Typen sind nicht nur Spinner, musst du wissen, die sind richtig gefährlich.«
Di Marco sah aus dem Fenster.
»Die beiden waren früher bei der Sitte. Ich hatte damals eine Freundin, die gerade bei der Kripo anfing und den beiden zugeteilt wurde. Eines Abends erzählte sie mir, sie sei von einer Prostituierten angerufen worden, die sich von Polizisten bedroht fühlte. Am selben Abend noch haben die beiden sich getroffen. Wie sich herausstellte, hatte meine Freundin in ein Wespennest gestochen.«
Er sah Babic nun direkt an. Seine Miene war ernst.
»Die Informantin erzählte meiner Freundin von einer Art Polizeigeheimklub, der mehrere Zuhälter unter Kontrolle hatte, die wiederum Prostituierte zwangen, für alle möglichen Perversitäten zur Verfügung zu stehen.«
Er machte eine kurze Pause.
»Von normalen Perversitäten bis hin zum Aufschlitzen vor der Kamera oder Tiere in Körperöffnungen stecken. Die Polizisten vermittelten Freier, meist reiche Typen, die bei Razzien in die Finger der Sitte geraten waren. Statt sie vor Gericht zu bringen, brachten diese Schweine die Freier dazu, künftig nur noch zu den Frauen zu gehen, bei denen sie von den Zuhältern Provision kassierten. Deshalb gab es, wenn Frauen aussteigen wollten, auch jede Menge Druck.« Di Marcos Kiefermuskeln spannten sich sichtbar an. »Psychisch und physisch. Verbale Demütigungen, stundenlanger Schlafentzug, Schläge, Vergewaltigungen und so weiter.« Sein Blick löste sich wieder von Babic.
»Meine Freundin kam am selben Abend noch zu mir. Ihrer Meinung nach hingen auch Haak und Strickle in der Sache drin. Sie hatte allerdings keine Beweise, weil nur diese eine Informantin aussagen wollte. Und ausgerechnet diese Frau hatte nicht direkt mit Haak und Strickle zu tun, sondern nur von ihnen gehört.«
Di Marco spürte die Wut in sich aufsteigen wie jedes Mal, wenn er über die Sache sprach. »Sie war so dumm, die beiden am nächsten Tag ganz offen darauf anzusprechen – warum stöhnst du?«
»Sorry, aber ich kann von solchen Dummheiten ein Lied singen.«
»Sie leider nicht mehr.« Er hielt inne und schluckte. »Haak und Strickle stritten natürlich alles ab. Aber von dem Zeitpunkt an bekam meine Freundin die beschissensten Aufgaben zugeteilt und wurde von fast allen Kollegen gemobbt. Damals ging auch unsere Beziehung auseinander. Sie wurde immer niedergeschlagener und rief mich eines Abends an, sie sei echt fertig. Ich war da gerade mit einer anderen Frau am Anbändeln und sagte ihr, ich hätte frühestens am nächsten Tag Zeit für sie.«
Mia Babic hätte beinahe seine Hand genommen.
»Am nächsten Morgen war sie tot. Vor einen Zug gesprungen … Ich weiß, ich trage selbst die Schuld daran. Aber das macht meine Wut auf diese beiden Schweine nicht kleiner.« Er atmete tief durch. »Nachweisen konnte man ihnen nichts. Entweder sind sie sehr geschickt, oder jemand von oben hält eine schützende Hand über sie.«
Einen Moment lang sagten beide nichts, blieben nur ruhig sitzen und hingen ihren Gedanken nach.
Babic brach das Schweigen. »Ich freue mich, mit euch zusammenzuarbeiten.«
Sie sah Di Marco direkt ins Gesicht. Schöne Augen, dachte sie.
Di Marco erwiderte ihren Blick. Sein Gesicht entspannte sich. Ein Gefühl von Wärme machte sich in der unteren Bauchgegend breit.
Babic zögerte. »War übrigens eine klasse Leistung von dir gestern im Supermarkt. Besser konnte man es nicht machen. Ich schulde dir was.«
Di Marco freute sich sichtlich und wartete, ob noch was käme.
»Ich geh jetzt ins Bett. Danke fürs nach Hause bringen. Bis morgen.« Ein Lächeln, leicht verschmitzt. Di Marco lächelte zurück.
ZZZ
Der Netzmörder nannte sich ZZZ, König der Hacker. Er war ein Adrenalinjunkie, der Kampf gegen den elektronischen Kapitalismus gab ihm die wahre Befriedigung in seinem Leben.
Es war genau 23.55 Uhr. Er spannte unbewusst die Muskeln seines Unterarms an, als er sich an sein Terminal setzte und sich ins Netz einklinkte. Er öffnete sein Microsoft Outlook 3000, gespannt auf die virtuellen Identitäten, die es heute zu eliminieren galt.
Jedes Mal, wenn er sich an den Bildschirm setzte, musste er daran denken, dass das Zeitalter der Hacker eigentlich schon fast vorbei war. Als das Netz noch manipulierbar wie ein Kleinkind war, konnten gute Hacker fast überall reinkommen. Das war ein richtiger Sport gewesen. Und es gab nicht wenige Netzterroristen, die immer wieder versuchten, ökologische, wirtschaftliche und soziale Katastrophen herbeizuführen. Zu diesen Spinnern hatte er nie gehört. Er war ein Künstler. Bereits vor vielen Jahren war er ein Meister in der Königsdisziplin ambitionierter Hacker gewesen, nämlich, in die Systeme der US-amerikanischen Regierungseinrichtungen einzudringen.
Die Europäer hatten früh Abwehrmaßnahmen gegen das gewaltsame Eindringen in wichtige Datenbanken ergriffen. Sie arbeiteten bereits mit Organisationen wie dem Chaos Computer Klub zusammen, als die US-amerikanischen Sicherheitsexperten noch auf traditionelle Aufrüstung setzten und den internationalen Terrorismus mit Hilfe von Drohnen, Mittel- und Langstreckenraketen zu besiegen versuchten.
Außerdem hatten die Europäer schon sehr früh eine Reihe international renommierter Experten für Datensicherheit mit Kontakten zur Hackerszene rekrutiert und konnten so dazu beitragen, das Netz, die militärischen Einrichtungen der NATO und die mittlerweile vollkommen von der elektronischen Datenverarbeitung abhängige Weltwirtschaft vor einem Totalabsturz zu schützen. Er lachte leise vor sich hin. Sie brauchten Leute wie ihn, um sich vor Leuten wie ihm zu schützen.
Er hatte selbst an der Entwicklung eines ultrastabilen Sicherungssystems für die NSA mitgearbeitet, was in seinem realen Job niemand wusste. Es lag auch an ihm, dass Hacker es heute nicht mehr so leicht hatten wie früher.
Paradoxerweise machte die verbesserte Sicherheit seinen aktuellen Job etwas leichter. Weltweit gab es nur noch rund ein Dutzend Hacker, die in der Lage waren, komplexe Sicherungssysteme zu knacken. Und er war der Star.
Seinen Hackernamen hatte er einer deutschen Punkband aus Bielefeld entlehnt, deren vermutlich einzige CD auf nicht nachvollziehbare Weise in der Musikbox einer kalifornischen Strandbar seiner Heimatstadt gelandet war, in der sein älterer Bruder als Barkeeper gearbeitet hatte. Für ihn, den achtjährigen Jungen, war die Musik dieser Gruppe die vertonte Rebellion gegen alle lästigen Pflichten wie Schule, Hausaufgaben oder saubere Klamotten gewesen.
Eine Zeit lang warf er fast sein gesamtes Taschengeld in die Musikbox, was nicht nur die Bargäste ärgerte, sondern auch seinen Bruder so sehr nervte, dass er ihm die CD schließlich schenkte, unter der Bedingung, sie nur zu Hause zu hören und seinen Eltern damit auf den Geist zu gehen.
Er las die einzige der E-Mails, die ihn interessierte. Heute waren es zwei Identitäten, die es zu eliminieren galt. Eine Art Arzt und einen Entertainer – sein erster. Bei dem Gedanken, dass es im Netz Entertainer gab, die sich auf virtuellen Bühnen zum Affen machten, musste er grinsen.
Er lockerte seine Finger und schloss den mit einem Zufallsmodus arbeitenden Code-Identifikations-Scanner an seinen Computer an. Die Überwindung der ersten Sicherungssperre der Netzverwaltung war Routine. Das Sicherungssystem basierte auf einem Algorithmus, den er selbst vor Jahren für den EU-Verteidigungsrat konzipiert hatte. Der Weg durch das verminte Gelände erforderte nur wenige geschickte Ausweichbewegungen.
Die zweite Sperre war schon etwas angemessener für jemanden aus der oberen Hackerriege: ein auf den ersten Blick vollkommen amorphes, chaotisches System von Abschirmmechanismen, das zu durchdringen kaum möglich erschien. Doch auch hierfür brauchte er nur knapp zwei Minuten. Man muss nur das Prinzip kennen, dachte er. Einem seiner Techniker hatte er es einmal, um Nachvollziehbarkeit bemüht, so erklärt, dass sich die Komplexität eines chaotischen Systems durch die Einleitung eines sogenannten Resonanzeffekts reduzieren lasse, indem mehrere unterschiedliche elektromagnetische Schwingungsmuster erzeugt würden, die jeweils eine Anziehungswirkung auf alle ähnlich schwingenden Abschirmmechanismen ausübten, diese zu molekülähnlichen Komplexen ballten und damit eine durchlässige Ordnung schufen.
Der Techniker, ein kleiner, etwas ausgemergelter rotblonder Ire mit verkniffenem Gesicht, hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört, ihn dann skeptisch angesehen, den Kopf geschüttelt und wortlos den Raum verlassen.
Nachdem ZZZ die Sperren überwunden hatte, startete er den Access-Modus, klebte sich die beiden Elektroden, die auf einem kleinen aluminiumfarbenen Nachttisch rechts neben seiner Arbeitsplatte lagen, an die Schläfen, drückte auf den roten Knopf unterhalb der rechten Armlehne seines Schreibtischstuhls, sodass dieser sich in eine Ruheliege verwandelte, machte es sich bequem und schloss die Augen.
Aufgrund der für den Eingang in die virtuelle Realität typischen primären Sinnesüberreizung, die durch den Aufbau elektrischer Potenziale in der Großhirnrinde erzeugt wurde, leuchtete vor seinem inneren Auge zunächst ein feuerroter Ball auf, der sich langsam, sternförmig in alle Richtungen nach außen wabernd, zu einer hell-orangen Sonne vergrößerte. Dieser Vorgang, Aura genannt, dauerte exakt fünf Sekunden. Dann war er drin.
Er befand sich in der Abflughalle, wie die Mental-Port-Station, in der das Ziel der virtuellen Reise angegeben wurde, im Volksmund genannt wurde. Die Optik der Halle war den Abflughallen großer internationaler Flughäfen des 20. Jahrhunderts nachempfunden, mit dem Unterschied, dass die für diese Orte typischen Menschenmassen fehlten und er sich – beziehungsweise die durchsichtige, unförmige und an eine fassförmige Rauchwolke erinnernde Gestalt, die jeder Ankommende direkt nach dem Access darstellte – alleine in der Halle befand.
Obwohl es in der Abflughalle viele Schalter zu geben schien, war für jeden, der sich in die virtuelle Realität begab, nur ein Display von Relevanz – ein quadratischer Monitor mit einem virtuellen Eingabemikrofon an der rechten Seite. In dieses Mikrofon musste man einen Code eingeben, um entweder die virtuelle Wunschidentität oder – bei Networkern vor Beginn ihres Arbeitstags – die Pflicht-Arbeitsidentität zu registrieren.
ZZZ fand diese unnötige Prozedur albern, die Leute konnten sich einfach nicht von ihren alten Vorstellungen lösen, wie die Wirklichkeit auszusehen hatte.
Für die Eliminierung des Pseudo-Mediziners, der auf eine Art Beratung für gesundes Netzverhalten spezialisiert war, wählte er die Identität einer typischen Netz-Super-Blondine mit rotem Minikleid, comicartigen Riesenbrüsten und Wespentaille, exakt der Typus, auf den seine Zielperson vermutlich abfuhr. Dann gab er die Zielkoordinaten ins Mikrofon ein und flog ab.
Das Beamen von der Abflughalle zum Zielort dauerte im Normalfall 30 Sekunden, warum auch immer, vermutlich um den Leuten ein Reisegefühl zu vermitteln. 30 lange Sekunden. Der ganze Vorgang war ätzend. Man raste durch einen simulierten Tunnel aus silbergrauem Nebel, an dessen Ende sich ein heller Fleck befand. Wenn man ihn überhaupt sah.
Der Tunnel war voller Werbung. Simulierte Standbilder, in allen Farben glitzernd, mit riesigen leuchtenden Buchstaben und Piktogrammen, die sich im Dreisekundentakt aufbauten und einem langsam entgegenflogen, gerade so lange sichtbar, dass man ihre Botschaft nicht ignorieren konnte. Beworben wurden vor allem EA-Produkte – Renten- und Lebensversicherungen, ultraweiche Liegesessel, Ratgeber-Broschüren und dergleichen – Dinge, die man nicht brauchte, und mit denen versucht wurde, den Networkern das Bürgergeld aus der Tasche zu ziehen.
Seit Neuestem wurde sogar für Werbeabwehrsoftware geworben, natürlich ebenfalls von EA, angeboten durch Tochterfirmen. Die Software funktionierte allerdings immer nur maximal einen Monat lang, bevor man das nächste Update kaufen musste. ZZZ hatte eine Weile, als ihn die Werbung so nervte, dass er es nicht mehr auszuhalten glaubte, versucht, eine Werbeabwehrsoftware zu schreiben, die ihn vor diesen elenden Abzockeversuchen schützte.
Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatte er resigniert aufgegeben. Dieser Werbescheiß war wie Unkraut, nicht einmal er kam dem Mist dauerhaft bei, außer er investierte sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Zeitressourcen.
An seinem Ziel angekommen, musste er für zehn Minuten in einem sterilen Wartesaal mit Pseudo-Ledersesseln und viertklassigen Landschaftsaquarellen an der Wand ausharren – das typische Wartezimmer eines Arztes, wie es sich in den letzten 50 Jahren kaum verändert hatte. Der einzige Unterschied war die im Vergleich zur Realität etwas grobkörnigere Auflösung dessen, was man sah. Alles wirkte, als sei man ganz leicht weitsichtig und habe keine Brille auf.
So typisch wie die Praxis war der Arzt. Mitte 50, grau melierte Haare, gebräunte Haut, strahlendweiße Zähne, den obligatorischen weißen Kittel offen, eine viereckige silberfarbene Lesebrille auf der Nasenspitze, über deren oberen Rand er wohlwollend und distinguiert zugleich Blickkontakt aufnahm – arztmäßig, wie man es sich nicht besser wünschen konnte – der Doktor, dem die Männer und Frauen vertrauten.
Wohin es seine Blicke zog, war klar. Wie erwartet: ein distinguierter virtueller Titten-Grabscher. Dazu prollige Anzüglichkeiten und Anmach-Gelaber. Herrje. Und jetzt sollte er sich auch noch freimachen. Er musste gleich kotzen. Schluss mit den Präliminarien. ZZZ hatte genug. Messer raus – ein Zug, ein Stich – Auftrag erledigt.
Das Sterben im Netz faszinierte ihn immer wieder. Es gab keine große Show. Die Netzperson, die starb, fror ein – und löste sich einfach langsam auf: Die Konturen verschwammen, die Figur wurde durchsichtig, nahm noch einmal kurz die Rauchgestalt aus der Abflughalle an – und war weg, einfach weg. Die Banalität dieses Vorgangs machte die Sache in gewisser Hinsicht nur noch unheimlicher, suggerierte Bedeutungs- und Sinnlosigkeit.
Was das Ganze sollte, warum Netzidentitäten überhaupt sterben konnten, war im Grunde keinem klar. »Offenhalten von Möglichkeiten« lautete die offizielle Begründung, das heißt, die Eliminierung nicht-zertifizierter Nutzer zu ermöglichen, auf die man nicht direkt zugreifen konnte – Hacker also, solche wie ihn.
Diese Erklärung war eigentlich genauso dumm wie unangemessen. Das Hackerproblem wurde dadurch nicht gelöst – vorausgesetzt, die unerlaubte Nutzung einer Identität wurde überhaupt erkannt, was eher selten der Fall war – denn man konnte sich ja jederzeit erneut mit einer anderen Identität Zutritt verschaffen, sogar, wie in seinem Fall, mit einer nur für diesen Zweck programmierten.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.