Kitabı oku: «Apokalyptische Variationen», sayfa 3

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»Trinken wir.«

Der Chirurg flüsterte mir schnell, sich verschluckend, ins Ohr:

»Ich habe vorgestern einen Menschen umgebracht. Es war eine um zwanzig Minuten verspätete Operation. Es war meine Schuld – ich hatte mich verspätet. Und ich hatte mich verspätet, weil meine Vermieterin das Mittagessen zu spät zubereitet hatte. Und die Vermieterin hatte sich mit dem Essen verspätet, weil die Verkäuferin das Geschäft später geöffnet hatte. Und auch die Verkäuferin war aus irgendeinem Grund zu spät gekommen. Was glaubst du, dieser Mensch, den ich umgebracht habe, war er einer von den Schwachen oder von den Starken?«

Endlich zeigte der Alkohol Wirkung. Alle redeten, und sie redeten über alles. Zerfetzte, paradoxe Sätze flogen umher. Die gerundete Gewölbedecke drehte sich im Dunst des Tabakqualms. Der Dunst sickerte in die Gehirne. Manchmal waren deutliche, scharfe Begriffe herauszuhören, aber ohne Anfang und Ende. Bruchstücke von Gedanken, von Meinungen, von Ereignissen verflochten sich, stießen aufeinander und prallten voneinander ab in diesem fahlen, einschläfernden Dunst. Jetzt war wirklich jeder von uns eine Tatsache für sich, jeder schrie irgendetwas Besonderes über sich heraus. Das Verdunkelungspapier in den Fenstern trennte uns von den vergangenen Jahrhunderten. Wir irrten umher in diesem abgesperrten Zimmer. Wir irrten umher in trunkener Hysterie, weil uns das alltägliche Chaos, die erschütternden Ereignisse und der Verfall unserer Persönlichkeiten quälten. Bis wir einschliefen. Ohnmächtig, schnarchend, mit offenen Mündern, zerknittert, abstoßend. Ja, dieses Wasser des Lebens war kein Wasser des Lebens. Es war ein schwer erhältlicher Betrug. Trotzdem werde ich diesen Abend nicht so bald vergessen.

Auch die Sätze des Professors, die mir noch so saftig im Ohr klingen, als hätte ich sie erst vor einigen Stunden gehört. Der Herr Professor hatte sich nichts Neues ausgedacht. Seine Weisheiten waren so alt wie die Steinzeit. Vielleicht, der Mode entsprechend, ein wenig pompöser hergerichtet. Und auch die Menschen waren wie in der Steinzeit. Nur – der Mode entsprechend pompöser hergerichtet.

DER KALENDER

Vilnius. Die Gediminasstraße. Ein großer, verwaister Platz (das rege Markttreiben von den Besatzungen hinweggefegt) und gegenüber – ein Palast. Nicht hässlich, sympathisch anzusehen. Hell gestrichen, harmonisch komponiert. Und still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer. Trotzdem wird er von dem Passanten gemieden. Oder, wenn er vorübergeht, dann mit kleinen, schnellen Schritten. Vor nicht allzu langer Zeit, da hatte er hier einen kurzen Schrei gehört – oder gemeint zu hören (oh, die Doppelfenster sind fest montiert in den steinernen Mauern!), der plötzlich abbrach, und der Passant wusste nicht, ob der Schrei aus dem Keller des Palasts entwichen war oder ob der Lastwagen, der auf der Gediminasstraße anhielt, gekreischt hatte. Deshalb – so schnell wie möglich vorbeigehen … Diese schweren Eichentüren und diese breite Fahne mit diesem kabbalistischen Hakenkreuz … Ah … Der Passant atmet erleichtert auf, als der hell gestrichene Palast hinter ihm liegt. Vielleicht hatte er sich wirklich nur verhört? Vielleicht hatte der Lastwagen gekreischt? Nein, still, sehr still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer, stand dieser Palast an der Gediminasstraße. Nur einmal …

Die erste Etage. Ein geräumiges Zimmer. Ein riesiges Fenster. Es ist hell. Ein glänzender Schreibtisch. Braun und poliert. Hinter dem Tisch sitzt ein Staatsanwalt von brauner Gestalt. Hinter ihm, an der Wand, hängt der braune und selbstzufriedene Führer. Vor dem Tisch steht ein junger Mann mit zerzaustem Haar. Sein Gesicht ist blass, die Muskeln angespannt. An den Mundwinkeln. An der Stirn. An den hohlen Wangen. Auf der Glasplatte des Tischs liegen litauische Untergrundzeitungen, ein Aschenbecher, eine Pistole. An der Wand gegenüber, mit der schwarzen Tür, hängt ein Kalender. 16. Februar 1944.

Der Staatsanwalt raucht. Stößt den Qualm aus. Dieser steigt dem Stehenden in die Nase, der ihn gierig einatmet und schweigt. Er ist entschlossen, nur ein einziges Wörtchen zu sagen: Nein. Der Staatsanwalt, der braune, möchte viele, viele wichtige Wörter hören. Durch wichtige Wörter würde der Braune aufsteigen, er würde dem selbstzufriedenen Führer näher kommen, vielleicht sogar einen Händedruck erhalten für den aufrichtigen Dienst. Dem Braunen passt die Stille nicht. Er zieht den Stuhl näher an den Tisch heran. Ächz … seufzt der Fußboden, und der junge Mann zuckt zusammen. Ja, seine Nerven sind nicht in Ordnung, eine Woche Verhör – das heißt schon was.

»Ich frage zum letzten Mal. Ich habe es satt. Was soll denn das Nein heißen. Zier dich nicht wie ein junges Mädchen, das von einem Mann bedrängt wird.«

Der Braune versucht zu scherzen. Wirklich, mit Fäusten auf den Tisch zu schlagen ist aufreibend. Ebenfalls zuzusehen, wie der mit gefesselten Händen am Türhaken hängende Mann mit den zerzausten Haaren von zwei schnaufenden Helfern mit Gummiknüppeln geschlagen wird. Manchmal, nach langen, verzweifelten Stunden, hilft ein warmherziges Wort, o ja, wie das hilft! Der Braune zieht sogar seine fleischigen Lippen auseinander, und es stellt sich so etwas wie ein sympathisches Lächeln ein. Das Einzige, das er noch hat und das er benutzt, um den Frauen zu gefallen. Na ja, dieses Mal muss er es diesem blassen Mann mit den zerzausten Haaren schenken. Wenn er dem ein Dutzend wichtige Wörter abringt … Oho, wer kann das wissen? Und der Braune wackelt mit dem Kopf.

»Setz dich. Reg dich nicht auf. Wir können auch freundlich reden. Rauch eine, konzentrier dich. Und dann denk ruhig nach.«

Das Wort wir klang so, als würde der große Braune, der an der Wand hängt, dem kleinen, hier sitzenden Braunen persönlich beipflichten. Der junge Mann ergreift gierig eine Zigarette. Oh, der Wunsch zu rauchen ist übermenschlich! Er nimmt einige Züge. Sein Herz pocht, die Beine werden weich, und der Kopf des vor ihm sitzenden Ermittlers verwandelt sich in eine riesige schwankende Kugel. Dies dauert ein paar Augenblicke. Er reißt sich schnell zusammen – dieser blasse Mann mit den angespannten Gesichtsmuskeln.

»Na also. Das ist ein gutes Beruhigungsmittel, oder nicht? Wir können Ihnen auch öfter welche geben. Das ist möglich, wenn Sie sich entsprechend verhalten …«

Der Braune steht auf, betrachtet eine Zeit lang aufmerksam den Rauchenden und geht, ohne den Blick abzuwenden, zum Fenster. Hier reckt es sich in die Höhe, das kleine, dickliche Männchen, und öffnet das Fenster. Ins Zimmer strömt kühle, erfrischende Luft. Der rauchende Mann weiß nicht einmal, was ihm besser schmeckt. Die Luft oder die Zigarette? Er nimmt den letzten Zug, drückt den Stummel im Aschenbecher aus und wendet sich mit dem ganzen Körper dem Fenster zu. Der Braune lächelt. Er schließt das Fenster. Lächelnd kehrt er zum Tisch zurück.

»Heute ist der Frühling zu spüren. Die Luft ist so erfrischend.«

Er schließt die Augen. Nicht ganz. Sie blitzen auf in schmalen Ritzen.

»Heute habe ich auf der Straße ein wunderbares Mädchen getroffen. Sie hat mich angelächelt.« Der Braune zieht die Wörter in die Länge, als wären sie so köstlich, dass er sie nicht aus dem Mund lassen möchte.

»Wir sind gut informiert. Wenn ich mich nicht irre, in Antakalnis … Ach, immer vergesse ich die Straßennamen … Aber hier ist das nicht so wichtig. Die kleine Straße beginnt diesseits der Peterskirche. Dort steht ein blaues eingeschossiges Häuschen. In diesem Häuschen wohnt … Ich glaube, das Mädchen, das in dem blauen Häuschen wohnt, ist noch schöner als das, das mir heute Morgen auf der Straße zugelächelt hat.«

Der Verhörte klammert sich mit beiden Händen an die Tischkante. Der Braune öffnet die Augen und beugt sich nach vorn. Die Gesichter der beiden sind sich nahe. Die folgenden Worte spricht der Braune leise, aber sehr deutlich aus:

»Das wunderbare Mädchen, das in Antakalnis wohnt, kommt immer spät nach Hause. Ja, wir wissen, dass sie abends arbeitet und gewissenhaft zur Nacht in das blaue Häuschen zurückkehrt. Allein. Sie können stolz sein – sie ist Ihnen treu. Aber … die Stadt ist verdunkelt, und auch in ihrer Straße herrscht völlige Dunkelheit. Wenn sie eines Abends Ihretwegen nicht heimkehren würde …«

Der Braune lehnt sich zurück. Er betrachtet zufrieden die Finger des jungen Mannes. Seine Fingernägel sind weißer als sein Gesicht. So stark drückt er gegen die Tischkante. Jetzt spricht der Braune, als sei er dieses Themas unglaublich überdrüssig. Sein Zuhörer muss warten, ehe die vollständige Bedeutung der Wörter ihn erreicht.

»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Die Schläge haben keine allzu große Wirkung auf Sie. Trotzdem sollten Sie sich merken, dass dieser Sport« – er zeigt auf den Haken an der Tür – »nur der erste Buchstabe des Alphabets ist, das A. Wenn wir die nächsten anwenden … Gestern habe ich das Mädchen aus Antakalnis gesehen. Sie ist blond, wenn ich nicht irre. Sie schminkt sich nicht. Sie ist nicht älter als zwanzig. Sie kann noch nicht lieben, was manchmal sehr anziehend ist. Sagen wir, um der Abwechslung willen kann auch ich ein Mädchen, das nicht lieben kann, reizvoll finden …«

Die Finger des Mannes werden schwach. Er streckt die Arme aus, sein großer Körper sackt auf sie herab, und sein Kopf senkt sich, sodass eine wirre Locke seine Augen verdeckt. Der Braune steht auf. Geht vorsichtig um den Tisch herum. Nähert sich von hinten. Vor dem Mann auf dem Tisch taucht ein Blatt Papier auf. In der Hand spürt er einen Stift.

»Hier werden Sie die Adresse der Druckerei aufschreiben. Überprüfung und Formalitäten werden etwa zwei Stunden dauern. Zwei Stunden später können Sie nach Antakalnis gehen.«

Der Braune geht zum Fenster. Er wendet sich ab. Er sieht auf die Straße. Der junge Mann hebt den Kopf. Ordnet seine Haare. Blickt auf den fetten Rücken des Ermittlers. Auf den selbstzufriedenen Führer. Wendet den Stift. Möchte schon mit ihm das Papier berühren. Petras Ko… Es fällt ihm unglaublich schwer, den Buchstaben P zu schreiben. Der Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Unbewusst wendet er den Kopf zur Tür. Dort, an der Wand, hängt der Kalender.

16. Februar 1944

Eine Zeit lang versteht er nicht, was das bedeutet. Ein sehr vertrauter Tag, der 16. Februar … Gleich, gleich … Plötzlich begreift er. Der Feiertag. Sein Nationalfeiertag. Von einem kleinen Volk, das die großen mit Füßen treten. Für das er sich aufgeopfert hat. An diesem Haken da gehangen hat, gehangen und geschwiegen hat, bis zum Wahnsinn, während die flammenden Schläge seinen Körper verbrannten.

Der noch junge, kräftig gebaute Mann möchte weinen. Lange, lange. Und er möchte, dass eine sanfte weibliche Hand seine Haare streichelt. Und ihm ein paar tröstliche Worte sagt …

Sein angespanntes Gesicht löst sich, sein Unterkiefer sinkt kraftlos herab, gedankenlos blickt er einige Male auf den Kalender und dann wieder auf den Stift in seiner Hand. Nein, nein, nein – schlägt sein Herz. An diesem Tag! … Vor dem Hintergrund des hellen Fensters wartet der fette Rücken des Ermittlers.

… An einem dunklen Abend, wenn sie an der Peterskirche vorübergeht …

… Dann die ganze Nacht …

… In der Nacht werden die Sekunden zu Jahren, die Minuten zu Jahrhunderten, wenn er sich im Karzer wälzt …

… Und in der blinden Dunkelheit werden die Haare seines Mädchens leuchten, das kleine Muttermal neben ihrer Nase, ihr schön gebogenes Ohr …

… Und neben seinem Mädchen dieser da, dieser fette Rücken da …

Der Stift hält dem nicht stand. Er knirscht und bricht. Der Braune hört es. Er wendet sich langsam vom Fenster ab. Er schafft es nicht. Es geschieht, was beide nicht geglaubt hatten.

Diesmal staunt der Passant. Der stille Palast spricht. Glasscherben fallen auf den Gehsteig. Aus der ersten Etage stürzt ein Mann auf den Gehsteig, rollt sich ab, steht auf, rennt davon. Er rennt über den leeren Platz, biegt zur Seite ab, um nicht erschossen zu werden, um dort, an der Neris, im Netz der vergessenen Fabriken und kleinen Häuser seine Rettung zu erringen. Die Schüsse hört er nicht. Ja, einige Male sieht er springende Kieselsteine, einer schlägt ihm sogar an den Arm. Macht nichts! Hier ist schon die Neris. Hier wird man ihn nicht so leicht finden. Hier, hier … naht die Rettung …

Als es dunkel ist und er den Kopf aus dem Rohr der Kanalisation steckt, taucht aus den Wolken der abnehmende Mond auf. Der junge Mann streckt sich, schüttelt die Erde ab, wendet den Kopf nach oben und blickt zu seinem himmlischen Freund. Seine Lippen beten lautlos.

»Es lebe der 16. Februar! Es lebe der 16. Februar!«

Jetzt ist er ruhig. Übertrieben ruhig. Er muss nur handeln. Vorsichtig Freunde ausfindig machen. Irgendwie sein Mädchen warnen, dass sie heute Abend nicht in das blaue Häuschen in Antakalnis zurückkehren darf. Dass sie heute Abend beide fliehen werden. Dorthin, wo schon viele sind. In die Wälder.

Der Palast an der Gediminasstraße steht noch. Er ist nicht hässlich, sympathisch anzuschauen. Und still, so still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer.

DIE BIRKE UND DER MENSCH

Felder und ein trüber, verhangener Himmel. Eine schmutzige gewundene Straße. Sie endet hinter dem Horizont. Der Schmutz – ein glänzender Brei, soeben gekocht, dampfend. Dort, im Norden, wo die Wolkenblasen sich mit dem nebligen Horizont verbinden, rumst es ab und zu. Dumpf. Die Front ist träge heute. Natürlich muss geschossen werden. Es ist ja Krieg. Rums … lange Pause, und dann ist deutlich zu hören, wie eine vorüberziehende Windböe die zerknickten Zweige einer umgestürzten Birke erfasst. Ein ohnmächtiger Ton, heiser und kurz, entweicht ihr und erstirbt sofort. Der Wind ist schwach, und an ihren Zweigen sind nur noch wenige schwarze Blätter. Sie sind vom Dauerregen durchnässt. Rums … und Stille. Wenn sie anschwillt, diese unwirkliche Stille … rumst es wieder dumpf.

Die Birke am Straßenrand hat ein durchfahrender Panzer umgestoßen. Der Fahrer hatte gerade nach hinten geschaut. Er hatte mit seinem Freund gesprochen, der in seinen Taschen angestrengt nach einer Zigarette suchte. Er hatte erzählt, wie schön in seiner Heimat die Straßen im Frühling sind. Die Straßen sind von Obstbäumen gesäumt, und wenn sie blühen … Vor Begeisterung hatte der Fahrer sogar den Mund aufgerissen, seine Hände hatten das Lenkrad nur schwach gehalten, der Panzer plumpste in den Straßengraben und fuhr auf die Birke. Die Birke schrie beim Zerbrechen ein paar Mal auf. Knacks, knacks, knacks … Aber ihre Schreie gingen im Dröhnen des starken Motors unter. Der Fahrer fluchte unflätig, soldatisch und richtete das Lenkrad wieder aus, und der Panzer fuhr weiter. Einen Auftrag erfüllen. Irgendwen erschrecken, vielleicht auch umbringen. Die Birke blieb am Straßenrand zum Sterben liegen.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits leblos, was nutzte es, dass der schwache Wind versuchte ihr Haar, die schwarzen Blätter zu bewegen. Der Wind war schon immer der treue Freund der Straßenbirke gewesen. O wie sie im Vorfrühling immer zusammen herumgetollt sind! Arm in Arm haben sie rasend Polka getanzt, sodass die Birke sich kaum noch halten konnte in der Umarmung ihres Freundes, des Winds. Sie bog sich in alle Richtungen, wie ein zum ersten Mal aus seiner Schüchternheit gewecktes Mädchen beim Dorftanz. Und die Sommerabende … Der verliebte Wind überredete die vagabundierenden Vögelchen, sich wenigstens für ein Weilchen auf ihre silbernen Zweige zu hocken und etwas von der Liebe zu zwitschern. Von der Liebe des scheinbar ohne Sinn umherfliegenden Windes.

Nun ja, all das ist nun Vergangenheit, dachte der vom Leid geschwächte Wind und versuchte nur noch selten, an das Haar, die schwarzen Blätter, der Birke zu rühren. Doch vielleicht … Solange er nicht ganz sicher war, dass sie endgültig gestorben war …

Außerdem wollte der Wind den Menschen nicht belästigen, der zusammengekrümmt auf dem Baumstumpf saß. Das Gesicht des Menschen war traurig. Das konnte man an seinen tief eingeschnittenen Falten, der herabhängenden Unterlippe und seinen geröteten, tränenden Augen ablesen. Würde der Wind kräftiger pusten, dann würden die Augen des Mannes stärker tränen. Doch der Wind war heute schwermütig und sentimental gestimmt. Deshalb flog er fort, um seine gestorbene Freundin und den betrübten Menschen nicht mehr sehen zu müssen.

Der Mann blieb sitzen. Er war durchnässt, seine Beine beschmutzt bis zu den Knien und die Arme bis zu den Ellenbogen. Zu seinen Füßen lag ein ausgerissener Pfahl. Daneben stand ein ziemlich neuer Koffer aus gelbem Leder, auf Zweigen, gegen die Nässe geschützt. Er passte nicht zu der abgetragenen, durchweichten Kleidung des Mannes und seinem zerknitterten, gewiss zehn Jahre alten Hut. Seine geröteten Augen waren nach Süden gerichtet, wo hinter dem dunklen Horizont eine unsichtbare Mauer aufragte. Dort endete das letzte Fleckchen seiner Heimat und breitete sich das grausame, unbekannte Deutschland aus. Aber, durchaus möglich, dass er sich hier, an dieser Birke, eine Grube ausheben, sie mit Zweigen bedecken, sich aus dem Heu der auf den Feldern vergessenen Ballen ein Lager bereiten und zusammengerollt auf Rettung warten würde. Ganz in der Nähe, gar nicht weit weg, sah er einen Acker mit ungeernteten Kartoffeln, in seinem Koffer hatte er Salz und einen kleinen Topf, und in der Tasche Streichhölzer. Doch es konnte keine Rettung kommen. Schritt für Schritt kam die unausweichliche Front näher. Heute rumste sie zwar schwächer, aber gestern …

Jetzt krümmte sich der Mann noch mehr zusammen. Er versuchte seinen rechten Arm ein bisschen im feuchten Gras abzuwischen, dann rieb er ihn mit dem Mantelfutter ab. Daraufhin berührte er mit den Fingerspitzen den Griff des luxuriösen Koffers. Der Mann streichelte den Griff langsam, immer in derselben Richtung. Wie ein schlafendes Kind, als wäre der Mann ein Vater, den am Kinderbett im Vorübergehen ein Anfall väterlicher Liebe überkommt. Seine geröteten Augen blickten hinter den dunklen Horizont, wo ihn hinter einem undurchdringlichen Vorhang das Schicksal erwartete. Seine Hand streichelte den Griff des Koffers, immer in derselben Richtung, nach rechts.

Noch einmal rumste es, schon deutlich lauter. Selbst eine vorüberfliegende Krähe war beunruhigt, sie krächzte, vermutlich über die Gefahr, in ihrer schneidenden Krähensprache. Der Mann schien zu erwachen. Er richtete sich auf. Hob vorsichtig den Koffer an, stellte ihn auf seine Knie und schmiegte sich an ihn. Jetzt wiegte er sich vor und zurück, auf dem gelben Leder die ausgestreckten Finger seiner violetten Hand – wie die des Gekreuzigten, und unter seinen Füßen gluckste im Takt der schmutzige Brei. Der Mann wiegte sich lange so, die Krähe war längst davongeflogen, über die vergessenen Heuballen, und er wiegte sich … Bis er zu singen anfing. Gut, dass die Krähe es geschafft hatte fortzufliegen. Sonst hätte sie sich wahrscheinlich erschrocken und würde noch lange krächzen, wenn sie ihren Freundinnen von diesem seltsamen Ereignis berichtete.

Jawohl, in diesen von allen vergessenen Feldern, auf einer toten Birke, saß am Straßenrand ein von der Flucht zerzauster Mann mit einem ziemlich neuen gelben Lederkoffer und sang einen Marsch. In diesem Augenblick tauchte der Wind auf, den noch immer die Sehnsucht nach der Verstorbenen quälte, er traf auf den singenden Menschen und dachte, dieser würde ein Totenlied für die Birke singen – seine Freundin. Deshalb rauschte der Wind kräftiger, er beschloss einzustimmen. Das Duett aus Mensch und Wind strömte davon, bis es von den grünlichen Heuballen aufgesogen wurde.

Dennoch, der Wind hatte mehr Temperament, er überschrie oft den Menschen, deshalb konnte man nicht alle Wörter verstehen. Klar, der Mann konnte sich nur noch an die ersten beiden Verszeilen erinnern.

Am Meeresstrand, durch Küstensand

Reiten Truppen kühner Krieger …

Und wieder von vorn.

Plötzlich stieß der Mann den Koffer zu Boden, sprang von dem Baumstumpf auf und schrie so laut, dass er dieses Mal das Accompagnato des Windes niederschrie:

»Nein. Nein. Ich stim-me nicht zu!«

Er winkte einige Male mit den Armen. Als würde er ein Spiel spielen. Tra ta ta ta. Blut ist da, und da, und da. Tra ta ta ta. Ich stimme nicht zu …

Uuuu – sogen es die grünlichen Heuballen auf.

Uuuu – heulte der Wind.

Dann drehte sich der Mann um sich selbst, ließ sich auf den Birkenstumpf fallen, drückte dabei den alten Hut mit seinen violetten Handflächen zusammen und flüsterte schnell, sehr schnell:

»So geht es nicht. Ich verliere den Verstand. So geht es nicht. Ich brauche Ruhe, ich brauche Ruhe. Mein Gott, rette mich!«

Leider verstand der Wind die menschliche Sprache nicht und wurde vor Schmerz ganz wild, er heulte so stark er konnte, er blies in die Zweige seiner Freundin, der Birke, und versuchte sie ein letztes Mal von den Toten zu erwecken.

Der Mensch blickte mit aufgerissenen Augen in die Ferne, seine Hände pressten zornig den alten Hut zusammen. Der Mann sah. Er sah den gestrigen Tag. Als er nicht allein war. Als dieser gelbe Lederkoffer noch eine Besitzerin hatte. Und er sah die Besitzerin – ihr Haar von der Farbe des Koffers, ihre weißen Zähne und ihre schmächtige Mädchentaille. Und in ihren Augen konnte man viele schöne Dinge sehen, wenn sie an einem stillen Abend träumten. Jetzt lag sie dort, an der Horizontlinie, dort, wo es dumpf und laut rumste. Der Mann, der seinen Hut zusammenpresste, hatte ihren Körper nicht allzu tief vergraben, er hatte eilig fliehen müssen, und es war durchaus möglich, dass ein Geschoss sie ausgraben und ein zweites Mal verwunden würde. Vielleicht lugten irgendwo unter den Erdklumpen ihre blonden Locken hervor, die goldenen Locken, die Locken seiner Tochter.

Der Mann riss sich den Hut vom Kopf, presste ihn zusammen und schleuderte ihn fort. Der Wind erfasste das braune Bündel, beschmutzte es und versenkte es sofort im Straßengraben. Er verlor gänzlich den Verstand, der unglückliche Liebende. Doch der Mann achtete nicht auf das Wüten seines Leidensgenossen. Er lebte noch immer im gestrigen Tag, als sie zu zweit waren, zu zweit auf der Flucht. Er und seine Tochter. Seine Tochter, das schicke Mädchen, das schöne Sachen wie diesen glänzenden Koffer hier mochte. Und so mutig.

»Macht nichts, macht nichts, Paps! Wir schlagen uns durch«, als um sie herum die Geschosse explodierten und sie in einem verlassenen Bunker hockten.

»Wir liegen ein bisschen an die Erde gedrückt, und dann rennen wir weiter«, als ein Granatwerfer den gepflügten Boden rings um sie her lockerte.

Der gestrige Tag war besonders ruhig gewesen. Sie waren eilig von dem Schlachtfeld gerannt und dann auf einer Landstraße durch die Felder der Suvalkija weitergegangen. Es hatte stark und eintönig geregnet. Aber sie hatten sich glücklich gefühlt. Sie waren nicht mehr von umgestürzten Fuhrwerken und röchelnden Pferden umgeben und mussten keine fliehenden Soldaten mit grauen, erschrockenen Gesichtern mehr sehen. Da war es eine Nichtigkeit, dass ihre Füße nass waren und das Wasser in ihren Schuhen schmatzte. Eine Nichtigkeit, dass das Haar seines Mädchens an ihren geröteten Wangen schlaff herabhing.

»Jetzt siehst du aus wie Undine«, sagt er, blickt in ihre fröhlichen Augen und fängt, er weiß selbst nicht warum, zu lachen an. Er lacht, bis er sich verschluckt, bis er sich schämt, und dann singt er einen strengen Marsch. Das Mädchen stimmt ein.

Am Meeresstrand, durch Küstensand

Reiten Truppen kühner Krieger …

Sie gehen zu beiden Seiten der Landstraße, wo es etwas trockener ist, und hin und wieder sehen sie einander an, das Gehen ist viel vergnüglicher, wenn man aufmunternde Augen sieht.

Und da …

Die Wolkenblasen wälzten sich übereinander, wie heute. Außerdem, durchaus möglich, dass sie aus Vergnügen zu laut sangen und deshalb das Brummen des Flugzeugs nicht sofort hörten. Der graue Vogel tauchte plötzlich aus den Wolken auf, tra ta ta ta, unerwartet. Der Mann kann sich nicht mehr recht daran erinnern.

Das Erste, was er spürte, war der Geschmack von Wasser. Nun ja, natürlich, er hatte es geschafft, in den Graben zu springen, und war wahrscheinlich gesund und munter. Er hob den Kopf und sah den Schwanz des grauen Vogels, der in den ziehenden Wolken zerschmolz. Die Gefahr war vorüber. Verrückt, wie genau er sich an alles ab diesem Moment erinnerte! Er stand vorsichtig auf, es könnte ja sein, wer weiß, vielleicht hatte er sich irgendwie gestoßen. Nein, Arme und Beine konnte er noch beugen, der Kopf ließ sich noch drehen und seine Augen sahen noch. Jawohl, sein ganzer Körper zitterte und zuckte. Ha! Lächerlich! Schließlich hatte er sich erschrocken und noch dazu im Graben nass gemacht. Aber warum … war irgendetwas nicht in Ordnung? Er ging zwei Schritte über die Landstraße …

Hinter der Landstraße, im Gras, lag ein gelber Lederkoffer. Ihr Koffer.

Ah … Diese grenzenlosen Felder … sind so winzig. Sie enden gleich hier, hinter dem Koffer. Dunst, dunkler Dunst ringsumher. Vielleicht sind die Wolken plötzlich auf die Erde gestürzt? Verrückt, trotzdem kann er sich an alles ganz genau erinnern! Er machte einen zu großen Schritt, fiel hin, konnte aber nicht mehr aufstehen, den Blick nicht abwenden von dem glänzenden Koffer!

Da begann der Mann auf allen vieren zu kriechen, langsam, ganz langsam, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Der Koffer wurde größer. Ja, er konnte deutlich die blitzenden Teile aus Nickel sehen und den Schmutzfleck an der linken Seite. Aber warum waren neben dem Koffer Haare? Goldene Haare, ohne Gesicht. Es gab kein Gesicht. Ein dunkelrotes Oval. Und kleine Rinnsale von Blut fließen herab, sie winden sich in kleinen Strömchen durch die Wölbungen des Ohrs und fallen in großen Tropfen auf die Erde.

Der Mann stürzte zum Graben. Vom Graben zum Gesicht. Und wieder und wieder und wieder. Mit seinen Handflächen schöpfte er Wasser und wusch das geliebte Gesicht. Wusch es ab. Erstarrte. Nun musste er nicht mehr rennen. Präzise, mit erstaunlich mathematischer Präzision, waren die Kugeln durch den Propeller des Flugzeugs geflogen. In leuchtenden Bögen waren sie geflogen. Durch das rechte Auge hinein, durch den Hinterkopf hinaus. Und ein Auge war heil geblieben. Und blau. Und erstaunt. Und mädchenhaft. Viele schöne Dinge konnte man dort sehen, wenn das Mädchen an einem stillen Abend träumte.

Eine Zeitlang hockte der Mann erstarrt da. Dann heulte er. Wie ein eingesperrter Hund. Und dann weinte er, bis er keine Tränen mehr hatte, und heulte wieder, bis er keine Luft mehr bekam. Dann begannen in der Nähe Artilleriegeschosse einzuschlagen. Der Mann zog einen Zaunpfahl aus dem Boden und wühlte die nasse Erde auf. Er wühlte eine nicht besonders tiefe Grube. Das Werkzeug war ungeeignet und seine Kräfte gering. Er zwängte den Leichnam des Mädchens in die Grube. Und zum letzten Mal küsste er das blaue Auge. Dann scharrte er die Grube zu und ging auf der Landstraße davon. An den Pfahl, mit dem er seine Tochter begraben hatte, hängte er den ziemlich neuen gelben Lederkoffer. In dem Koffer waren ein bisschen Essen, ein kleiner Topf und ihre Wäsche. Verschiedenfarbig, aus Seide. So wie es sich für ein junges und hübsches Mädchen gehört.

Endlich ermüdete der Wind. Er quiekste wehmütig, streichelte das Haar, die schwarzen Blätter der umgestürzten Birke und verschwand. Wieder begann es zu regnen. Fein, unausweichlich, hartnäckig. Der Mensch stand auf, hängte den Koffer an den Pfahl und ging auf der Landstraße davon. Dort, hinter dem dunklen Horizont, ragte eine unsichtbare Mauer auf. Dort endete das letzte Fleckchen Heimat und breitete sich das grausame, unbekannte Deutschland aus. Die gebrochene Birke blieb zum Verrotten in ihrer eigenen Erde.