Kitabı oku: «Auslöschung», sayfa 2
2
Dem angehenden Polizisten hatte man eröffnet, dass er als Rekrut erst mal viel Zeit in Gesellschaft Betrunkener verbringen würde. Als er am Samstagabend einen Notruf entgegennahm, dämmerte ihm, dass das grotesk untertrieben gewesen war. Der junge Officer hatte gerade mit einem Kollegen eine Runde durch die Pubs von Armagh City beendet. Er war unruhig, weil er den Trubel nach Schankende nicht gewohnt war, wenn wankende Betrunkene ihn durch die Scheiben des Streifenwagens anglotzten und ihr Grölen und Lachen durch das kugelsichere Glas drang. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass der Pulk auf den Straßen herumtollender junger Leute einem vergifteten Organismus ähnelte, der freudig dem eigenen Tod entgegentanzte.
Abgestoßen hatte ihn der Anblick der Körperflüssigkeiten, die in Gassen und gegen Mauern plätscherten – der schäumende Schwall, der sich bei nächtlichen Exzessen auf die Straßen der ehrwürdigen Kirchenstadt ergoss. Auf dem Beifahrersitz kam er sich vor wie ein Taucher in einem Unterwasserkäfig, dem es vor den vorbeischwimmenden grinsenden Haien graute.
»Jetzt hindert sie nichts mehr, die Sau rauszulassen«, hatte der ältere Officer neben ihm bemerkt.
Die nordirischen Landstädte waren keine stummen, gehemmten und konfessionell getrennten Inseln der Nüchternheit mehr. Für seinen Kollegen waren diese Darbietungen eines ungezügelten Nachtlebens jedoch eher ein Plädoyer für die heilsame Kraft von ein klein bisschen Terror. Über die Paramilitärs und die schießwütigen Soldaten konnte man sagen, was man wollte, aber sie hatten gewusst, wie man Gesindel in die Schranken wies.
In der Ruhe der Leitstelle hörte der Rekrut jetzt einer sorgenvollen Anruferin zu und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen betrunkenen Angehörigen handelte, der nicht nach Hause gekommen war. Er vermutete, dass auch die Anruferin nicht mehr nüchtern war. Fast hätte er den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten müssen, um sie besser zu verstehen. Er zog einen Notizblock zu sich. Hinter dem schrillen Zetern bemerkte er einen letzten Rest von Selbstbeherrschung in der Frauenstimme, doch ihre übliche Contenance war von einer Welle der Empörung fortgespült worden. Er nahm ihre Angaben auf und prüfte, wo sich der nächste Streifenwagen befand.
Danach zog er eine kugelsichere Weste an und trat hinaus in den schützenden Schatten des Wachturms, um sich eine Zigarette anzuzünden. Leider war die Kollegin, die sonst Telefondienst machte und mit der er immer plauderte und flirtete, um diese Uhrzeit nicht mehr da. Die Langeweile zu ertragen, während man stundenlang auf den neuen Morgen wartete, war eine berufliche Fähigkeit, die der junge Officer erst erlernen musste.
Er drückte die Zigarette aus und traf eine Entscheidung. Immer wieder hatte Inspector Celcius Daly die Diensthabenden der Nachtschicht angewiesen, ihn bei ungewöhnlichen Vorkommnissen anzurufen, vor allem an Wochenenden. Die Schwemme alkoholbedingter Vergehen war jedoch nicht weiter ungewöhnlich. Diese Anweisung, die stets mit einem Blick seiner müden, wie zum Gebet nach oben wandernden Augen verbunden war, bewirkte, dass die anwesenden Polizisten alle etwaigen Schwierigkeiten allein zu bewältigen versuchten. In diesem Fall entschied der Rekrut aber anders, selbst wenn er damit Dalys Zorn auf sich ziehen sollte.
Celcius Daly hatte bis spät in die Nacht im Cottage seines Vaters am Torffeuer gesessen und Whiskey getrunken. Der Torf stammte von einem schimmligen Haufen, den sein Vater im Sommer des Vorjahrs gestochen hatte. Der alte Mann hatte sämtliche Torfstücke mindestens fünf Mal gewendet, ehe er sie ins Haus trug, und dennoch waren sie noch nass. Der feuchte Rauch hatte sich im Raum verteilt und bei Daly einen Hustenanfall ausgelöst. Daraufhin hatte er einen Dufflecoat angezogen und war vors Haus gegangen, wo die Luft klar und rein, aber auch kalt war.
Er sah, wie der Mond aufging, und zusammen mit dem Frost legte sein Licht einen silbrigen Raureifschimmer auf die Grate der Ackerfurchen, wo sein zweiundachtzigjähriger Vater bis eine Woche vor seinem Tod Kartoffeln gezogen hatte. Erneut füllte Daly sein Glas und kehrte zurück, um die im Mondlicht glänzenden Erhebungen zu betrachten, als wären es die Rippen eines hungrigen Tiers. Angetrunken, wie er war, fand er die Mondscheinszenerie wohl unterhaltsam. Es wurde fast drei Uhr nachts, bis er ins Bett wankte.
Das Telefon riss ihn aus dem Schlaf. Sein Magen war sauer, und seinem Mund entwich ein Fluch. Gerade hatte er einen bemerkenswerten Traum gehabt – eine Reihe Lottokugeln rollte in sein Blickfeld, und als wäre es eine Prophezeiung, leuchtete eine nach der anderen auf. Gebannt sah er zu, wie sie nacheinander fielen: 49, 11, 21, 7 …
Das Erste, was er nach dem Aufwachen tat, war, die Zahlen auf die Rückseite eines alten Fotos zu schreiben, das er in der Schublade des Nachtkästchens gefunden hatte. Leider hatte der Anruf die weiteren Glückszahlen abgeschnitten. Er versuchte, sich die fehlenden zwei Zahlen zu erschließen, aber die Gewissheit hatte ihn verlassen. Als er sich die Augen rieb, verschwanden die Zufallszahlen in der elementaren Zwecklosigkeit, die sich in der tiefen Nacht über alles legt. Er begriff, dass es mitten in der Nacht war und er allein im Bett lag.
Obwohl er und seine Frau sich bereits vor sechs Monaten getrennt hatten, überraschte es ihn, wenn er in Nächten wie dieser aufwachte, wie tief das Gefühl von Einsamkeit war. Das schwache Glimmen des Weckers war das einzige Licht im Raum – 3:50 zeigte er an. Die Bars sind längst geschlossen, und die meisten Feiernden müssten zu Hause sein, dachte er. Vielleicht war ein Ehekrach ausgeartet oder eine Schlägerei unter Betrunkenen auf der Straße hatte ein böses Ende genommen? Aber egal, was es war, er konnte sich auf einen Morgen mit flauem Magen einrichten. Immerhin hatte er noch nicht lang genug geschlafen, um den Katerkopfschmerz zu spüren.
Er stieg aus dem Bett und hob ab.
»Hallo, was gibt’s?«
»Ich hoffe, ich störe nicht, Sir«, sagte die Stimme.
»Nein, gar nicht«, antwortete er mit einem Seufzen und starrte auf die hingekritzelten Zahlen. Für einen Augenblick fühlte er sich betrogen. Was hatte es ihn, über die Jahre gesehen, gekostet, solche Anrufe anzunehmen? Reumütig dachte er an seine Frau und die bevorstehende Scheidung, und kurz überlegte er, dass eine glückliche Ehe mehr wert war als jedes Vermögen.
»Es hat sich was Ungewöhnliches ereignet.«
»Ein Toter?«
»Nein, eigentlich nicht. Eine alte Frau aus Washing Bay hat angerufen. Jemand hat ihre Hintertür aufgebrochen und ist in ihr Haus.«
»Ein Raub?«
»Nein. Ein paar Kleidungsstücke und Medikamente fehlen, aber deswegen hat sie nicht angerufen.«
»Sollen wir vielleicht das Versicherungsformular mit ihr ausfüllen?«, fragte Daly verdrießlich. Hatte ihn der Rekrut etwa bloß wegen eines verbockten Einbruchs aufgescheucht?
»Sie war kurz vorm Durchdrehen. Ich hab versucht, sie zu beruhigen. Sie hat behauptet, die Einbrecher hätten ihren älteren Bruder entführt. Einen gewissen David Hughes.«
Daly überlegte. »Ach? Haben die eine Lösegeldforderung dagelassen?«
»Davon hat sie nichts gesagt. Aber sie klang panisch. Ihr Bruder ist krank. Er hat Alzheimer. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
»Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass er mal musste und sich verlaufen hat?«, fragte Daly genervt. Leider brachte man den Grünschnäbeln auf der Akademie keinen gesunden Menschenverstand bei.
»Sie behauptet, allein könnte er das Haus nicht mehr verlassen.«
»Okay. Sagen Sie den Leuten draußen, sie sollen vor dem Haus auf mich warten. Wir bilden einen Suchtrupp. Wer weiß? Vielleicht ist der alte Knabe irgendwo eingenickt. Hoffen wir, dass er nicht allzu weit gekommen ist.«
Daly schlüpfte in Hemd und Hose. Sein Mund war trocken, und er spürte, dass Kopfschmerz im Anmarsch war. Dass er es mit dem Whiskey übertrieben hatte, merkte er endgültig, als er sich nach seinen zusammengeknäulten Socken bückte. Ein Blick auf sein trübes Spiegelbild im Fenster verriet mehr über seinen momentanen Zustand, als er wissen wollte.
Das Cottage seines Vaters befand sich am Südufer des Lough Neagh. Im Winter ähnelte die Landschaft einer Miniaturtundra, so viele arktische Gänse bezogen hier ihr Winterquartier. Der Mond hatte sich in der kurzen Spanne, in der Daly geschlafen hatte, verzogen, durch das kleine Fenster war nichts mehr von ihm zu entdecken.
Anfang Februar und an Morgen wie diesem war der Lough am dunkelsten und vollsten. Auch die Felder und Moorflächen, die sich bis ans Ufer erstreckten, lagen jetzt im Dunkeln und ließen sich ohne die Orientierung an Hecken und Feldwegen kaum unterscheiden. Überall gab es Schlammlöcher, die so tief waren, dass ein Mensch bis zur Hüfte darin einsinken konnte. Die Landschaft war ein Flickenteppich aus Leben und Tod, den man nur mit Bedacht betreten durfte, selbst wenn man jung und kräftig war. Zumindest war es in den vergangenen Tagen trocken geblieben, dachte Daly. Er hoffte, dass die Flüsse in diesem Winter keine schlimmen Hochwasser führen würden. Erst vor sechs Monaten hatte ein Sturm mit heftigem Regen die Landschaft um den Lough geflutet und Daly zu einer unfreiwilligen Verlängerung der Totenwache für seinen Vater gezwungen. Der Blackwater River war über die Ufer getreten und hatte die Straße zum Cottage überschwemmt. Die Gemeindekirche, nur eine halbe Meile entfernt, war von der Außenwelt abgeschnitten gewesen und hatte nur noch auf einer kleinen grünen Insel aus dem Wasser geragt.
Selbst für irische Verhältnisse hatte die Totenwache lang gedauert. Durch die winzigen Fenster eines Schlafzimmers im ersten Stock sahen die Trauernden, wie ein tiefer Himmel sich ihrer Betrübnis annahm. Als der Regen aufhörte, breitete sich über alles eine merkwürdige Stille. Erst am nächsten Morgen, als die Sonne durch die Wolken brach, zog sich das Wasser langsam zurück.
Als der Leichenwagen auf der von glänzenden grünen Stechpalmen gesäumten Straße davonfuhr, war die Erleichterung der Trauergesellschaft fast mit Händen zu greifen. Daly folgte ihm mit seinen Verwandten und den Nachbarn in einem sich weit dahinziehenden Leichenzug. Die nasse Straße vor dem Leichenwagen strahlte wie der hellste Ort auf Erden. Jemand riss einen Witz über das alte Auto seines Vaters, das aus dem Hof gespült worden und auf einem Heuhaufen gestrandet war. Daly fiel ein, dass sein Vater den Motor immer bis zum Anschlag hochgejagt hatte, ehe er morgens zur Messe fuhr.
Er zwängte seine Füße in Gummistiefel und stieg in sein Auto. Um vier Uhr morgens war die winterliche Dunkelheit jenseits der Windschutzscheibe etwas Absolutes, eine Sackgasse in der Nacht. Er fuhr am Seeufer entlang bis nach Bannfoot und bog nach links in Richtung Autobahn ab. Dabei warf er einen Blick in den Rückspiegel. Kein Auto weit und breit. Am Kreisverkehr stellte er die Heizung niedriger und suchte im Radio nach einem Wetterbericht. Ein DJ mit rauer Stimme sprach Gälisch und legte Motown-Songs aus den Sechzigern auf. An den Rändern seines Bewusstseins stiegen vage Erinnerungen an Diskoabende in Gemeindezentren auf.
Er öffnete das Fenster einen Spalt, um einen klareren Kopf zu bekommen, und nahm die Autobahn nach Westen. Der alte Mann muss losgelaufen und irgendwo in einen Graben gefallen sein, dachte er. Wahrscheinlich ist er den Weg früher unzählige Male gegangen – eine kleine Wanderung über die altbekannten Furchen und Senken seiner Felder, nur am Tag und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.
Er setzte an, einen Wagen mit jungen Leuten zu überholen. Ein Bursche, offensichtlich betrunken, lehnte sich aus dem Fenster und bedachte den Detective mit einer obszönen Geste. Daly fuhr vorbei, ohne sich von der bevorstehenden Aufgabe ablenken zu lassen. Es würde nur ein kleiner Suchtrupp werden, wenn er nicht auch die Nachbarn einspannen konnte. In seiner zwanzigjährigen Laufbahn hatte er schon einige Suchtrupps zusammengestellt und wusste, dass die Leiche einer vermissten Person oft erst nach tagelanger Suche aus einem Fluss oder See gefischt wurde. Er hoffte, dass sie nicht zu spät kamen oder dass zumindest der schützende Mantel der Senilität dem alten Mann den schlimmsten Schrecken erspart hatte.
Daly staunte, wie abgelegen das Bauernhaus war. Hätten seine Verwandten dort gelebt, hätte er bei den ersten Anzeichen von Krankheit einen Umzug ins nächste Dorf veranlasst. Seine Scheinwerfer beleuchteten einen grasbewachsenen Feldweg, der anscheinend nicht allzu oft befahren wurde. Ein Warnschild vor Maul- und Klauenseuche, das nur unerlässliche Besuche gestattete, blitzte vor ihm auf. Er fuhr weiter; der letzte Ausbruch der Seuche lag über drei Jahre zurück.
3
Daly parkte in einem Hof hinter dem Wohnhaus. Den Versuch, ein paar kleine Anbauflächen daneben abzusperren, hatten ein unablässiger Wind und hungrige Tiere zunichtegemacht, die immer wieder Lücken in den Zaun gerissen hatten und darüber hinweggetrottet waren. Stellenweise hatte sich der Boden in schlammigen Morast verwandelt.
Die Anzeichen des Verfalls waren unübersehbar. Er zeigte sich im Durcheinander des Hofs voll rostiger Landmaschinen, in dem von Brombeeren und Unkraut halb überwucherten Garten und dem die Felder erobernden Schlehdorn. Von den Mauern blätterte die Farbe ab, auf dem Dach fehlten einige Ziegel. Dieselbe Vernachlässigung und der allmähliche Verfall waren auch beim Cottage seines Vaters nicht zu übersehen. Überall auf dem Land entlang des Seeufers standen solche verfallenden Häuser, geduckt hinter dunklen Hecken aus Schlehdorn, Weißdorn oder Holunder.
Als Daly ausstieg, schlug ihm muffiger Geruch entgegen, in den sich der übersüßliche Duft verfaulender Zwetschgen mischte. Sofort stürzte eine hagere Mittsechzigerin in einem schweren Morgenmantel auf ihn zu. Trotz der Dunkelheit und des Winds, der Eliza Hughes die grauen Haare ins Gesicht blies, war das Angstleuchten ihrer Augen sofort erkennbar. Im ersten Moment dachte Daly, sie sei verrückt, aber als sie zu sprechen begann, klang sie klar und bestimmt.
»Ich hab in den Schuppen und auf den Feldern nachgesehen. Nirgends eine Spur von ihm. Es ist zu spät, er ist längst verschwunden.«
Sie führte Daly ins Haus, und nachdem sie kurz mit einem Schlüssel herumgefummelt hatte, schloss sie die Tür zum Schlafzimmer des Vermissten auf. Daly kam der Raum eher wie ein Verhörzimmer als ein Schlafzimmer vor. An den nackten Wänden war weder ein Foto noch anderer Wandschmuck, das Fenster war winzig, und von der Decke hing eine grelle nackte Glühbirne. In der Raummitte stand ein vergittertes Bett, auf dem Boden davor lag eine Sensortrittmatte. Auf einer kleinen Kommode stand eine heruntergebrannte Kerze, deren Stummel von einem Häufchen Asche und verbranntem Papier umgeben war. Etwas an der Kerze kam Daly merkwürdig vor, aber er wusste nicht, was.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ich hab David zur gleichen Zeit wie immer ins Bett gebracht und die Gitter festgemacht und die Sensormatte angeschaltet. Wenn er aufgestanden wäre, hätte der Alarm losgehen müssen.«
»Sie war sicher angeschaltet?«
Sie nickte.
»Ihr Bruder ist krank?«, fragte Daly nach einem weiteren Blick durch das Zimmer.
»Er ist dement. An manchen Tagen weiß er nicht mehr, wer er ist, und verwechselt mich mit unserer Mutter. Ich hab schon eine Pflegehilfe beantragt, aber Sie wissen ja, wie das heute mit den Sozialdiensten ist. Aber David könnte sich nie in das Leben in einem Pflegeheim einfügen.«
Als Daly die Hintertür kontrollierte, sah er, dass sie mit einem Hebeleisen aufgebrochen worden war. Der Schluss, dass Einbrecher ins Haus eingedrungen waren, lag nahe. Er nahm Eliza beim Arm und führte sie zum Küchentisch.
»Setzen wir uns«, sagte er. »Es scheint, dass in Ihr Haus eingebrochen wurde, Miss Hughes. Haben Sie nach den Wertsachen gesehen?«
»Hier gibt’s nichts, was irgendeinen Wert hätte. Sie haben nur seine Medikamente und ein paar seiner Anziehsachen mitgenommen«, entgegnete sie.
»Könnte es nicht sein, dass Ihr Bruder aufgewacht ist und in seiner Verwirrung einfach den Einbrechern gefolgt ist?«, schlug Daly vor.
Sie stand auf und setzte Teewasser auf. »Sie haben ihn mitgenommen. Sie beobachten uns schon seit Wochen.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Aber letzte Woche gab’s nachts einen schweren Sturm. Eine Kuh wurde davon wuschig und ist durch den Weidezaun gebrochen. Unseren ganzen Garten hat sie zertrampelt und die Blumentöpfe umgeschmissen. Ich hab sie zurück auf die Weide gescheucht und den Besitzer angerufen.«
Sie reichte Daly eine Tasse dünnen Tee.
»Als ich draußen war, hab ich bemerkt, dass jemand ein Loch in die Hecke geschnitten hat. Auf dem Boden waren Zigarettenkippen und Fußspuren. Seitdem hab ich das Gefühl, dass sich draußen im Dunkeln jemand rumtreibt, der da nichts verloren hat.«
»Haben Sie irgendwas Wertvolles im Haus?«
»Nichts, was mehr als Erinnerungswert hätte. Mein Bruder hat sein Leben lang nichts anderes gemacht, als in die Kirche zu gehen, sich um den Hof zu kümmern und im Winter Enten zu jagen. Seine Felder waren für ihn der Garten Gottes. Die Arbeit war sein Leben.«
Daly nickte, dachte im Stillen aber an die vielen ledig gebliebenen Bauern, nach deren Tod man kleine unter der Matratze gehortete Vermögen fand.
»Wenn Ihr Bruder gegen seinen Willen fortgebracht wurde, dann hätte er doch sicher Lärm gemacht oder sich gewehrt?«
Ausdruckslos sah sie ihn an. »Wenn er nicht bewusstlos war.«
»Haben Sie eine Idee, wer so was mit ihm tun könnte?«
»Nein. David stand sich mit allen gut. Bevor er krank wurde.«
Daly ging auf einen zweiten Blick in das karge Schlafzimmer. Offenbar hielt das Alter wenig Trost und angenehme Überraschungen bereit. Vielleicht hatte der alte Mann das Fortschreiten seiner Krankheit und den Tod gefürchtet und war davor abgehauen? Daly erinnerte sich, wie oft er schon überlegt hatte, ob es nicht besser wäre, sich aus seinem Leben zu verabschieden, zumindest für eine Weile.
Eliza Hughes blieb in der Küche, als Daly hinaus in die Dunkelheit ging. Zwischen den niedrigen Schuppen strich der Strahl seiner Taschenlampe über verrostetes Gerümpel, ein umgedrehtes Ruderboot und allerlei landwirtschaftliche Geräte. Aus einem Korb Saatkartoffeln flitzte eine Mäusekolonie, und aus dem Schatten starrte ihn ein schwarzes Augenpaar an, das einer Ratte gehören musste. In der Luft hing Terpentingeruch. Er entdeckte nichts, was ihm bei der Suche nach dem Vermissten weiterhelfen würde.
Im Hof stieß er auf Officer Harland und Officer Robertson, die in den umliegenden Feldern gesucht hatten.
»Bisher nichts Auffälliges, Sir«, sagte Harland.
»Rufen Sie die Nachbarn an und informieren Sie sie, dass David Hughes vermisst wird«, sagte Daly. »Fragen Sie, ob jemand was gesehen oder gehört hat. Und bitten Sie sie, in ihren Schuppen und Scheunen nachzusehen. Es ist kalt heute Nacht. Wenn er da draußen unterwegs ist, sucht er bestimmt einen Unterschlupf.«
Wenn sie ihn nicht in der nächsten Stunde fänden, dachte Daly, müssten sie einen Spürhund anfordern und dazu einen Hubschrauber, der den weiteren Umkreis abflog. Mit seiner Taschenlampe untersuchte er die Hecke, die den Garten hinter dem Haus begrenzte. Dabei entdeckte er zwischen dicken Ästen eine Lücke, durch die der Wind ungehindert blies. Hier waren die Äste sauber herausgeschnitten worden, die Wunden noch frisch. Von dieser Stelle bot sich ein fast freier Blick auf die Hintertür.
Auf dem Rückweg zum Haus war die reglose Silhouette von Eliza Hughes im Küchenfenster zu sehen. Daly fühlte sich zu größerer Eile angespornt. Er lief mit der Taschenlampe in der Hand hinaus in das wellige Weideland, wo er immer wieder in schlammige, eisige Löcher trat. Der Mond kam hinter den Wolken hervor, und sein Licht, das durch die Bäume fiel, war so blau und kalt, dass Daly meinte, es in der eisigen Luft schmecken zu können.
Als er in einem verborgenen Graben umknickte, stürzte er kopfüber in ein Schlehdorndickicht. Rasch drehte er das Gesicht weg, um einem knorrigen Ast auszuweichen, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er im Strahl seiner Taschenlampe etwas Weißes aufblitzen. Es flog an seinen Augen vorbei und war im nächsten Moment verschwunden, nur ein paar gefrorene Wassertropfen fielen von höheren Ästen herab. Deutlich hörte er ein Flattern zwischen den schwankenden Ästen. In dem Dickicht musste sich etwas verfangen haben. Aber was immer es war, es gab keinen Hinweis auf den alten Mann oder seine mutmaßlichen Kidnapper. Er kam sich vor wie ein Hund, der einer verflüchtigten Fährte folgen sollte.
Er arbeitete sich tiefer in das Schlehdorndickicht hinein. Als er auf einen versteckten Hohlraum stieß, schnappte er überrascht nach Luft. Etwas Gelbes winkte ihm zu, riesig wie zwei Clownshände. Erschrocken wich er zurück und tastete nach der Taschenlampe. In ihrem Schein sah er, dass jemand ein Paar Haushaltshandschuhe auf Zweige gesteckt hatte. Zum ersten Mal seit seinem Eintreffen fühlte er sich verunsichert. Er riss sich zusammen und untersuchte den Rest der Hecke. An den Zweigen hingen noch weitere Gegenstände – ein Wecker, eine alte Batterie, Tüten mit Nägeln und Draht. Als er die Taschenlampe auf den Boden richtete, streifte der Strahl über winzige, kaum wahrnehmbare Erhebungen. Er kniete sich auf den Boden und legte die Taschenlampe auf einen Stein. War das wirklich, wofür er es hielt? Dann sah er auf jeder Erhebung plumpe Kreuze mit einer Beschriftung. Namen und Daten: OLIVER JORDAN gest. 1989, BRIAN UND ALICE MCKEARNEY gest. 1984, PATRICK O’DOWD, gest. 1985.
Die Erhebungen waren sehr klein und sahen danach aus, als hätte ein Kind Friedhof gespielt, und nicht nach einer echten Gedenkstätte. Als Daly mit bloßen Händen darin grub, fand er nichts außer verrottenden Blättern und Erde. Ihm schien, als würde kurz ein Vorhang zur Seite gezogen, um das unheilvolle Bild eines kranken Geists aufscheinen zu lassen. Beim Aufsehen entdeckte er, dass alte Zeitungsausschnitte auf Dornen gespickt waren, wie Votivgaben für eine heidnische Gottheit. Die meisten Zettel waren durchnässt und vom Wind zerfetzt. Er nahm einen ab. Es war ein alter Bericht über eine Bombe, die nicht hochgegangen war. Ein anderer Ausriss war ein Artikel über eine Detonation, die ein sechsjähriges Mädchen und eine Nonne getötet hatte.
Plötzlich war er wie elektrisiert. Als hätte er in einem Lift die Aufwärts-Taste gedrückt und wäre mit der Kabine direkt in Hughes’ verwirrten Verstand gefahren. Plötzlich war er sicher, dass die Gedanken des alten Manns den engeren Kreis seines Gartens und seiner Felder verlassen hatten und weiter hinausgewandert waren.
Wieder im Cottage, übergab er Eliza Hughes die gelben Haushaltshandschuhe.
»Ich nehme an, die gehören Ihnen. Sie waren an einer Art Gedenkstätte in der Hecke, mit improvisierten Gräbern und Kreuzen.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Du meine Güte, David und seine verrückten Spiele.«
Mit müdem Blick sah sie ihn an. »Inspector Daly, die Demenz hat den Kopf meines Bruders zu einem Rummelplatz gemacht, auf dem er den ganzen Tag Achterbahn fährt. Er vergisst nicht nur immer mehr und vergisst, wo er ist. Seit er diese Krankheit hat, hat er auch eigenartige Marotten, unter anderem hängt er alte Zeitungsausschnitte in der Hecke auf. Immerzu redet er von der Vergangenheit und behauptet, er sieht Geister. Seit ein paar Wochen bastelt er aus allem, was er in die Finger kriegt, Kreuze. Aus Bändern, Stöcken, Blumen oder Seilen. Ich versuch, alles wegzuräumen, wenn Besuch kommt, aber ich kann ihm ja nicht permanent hinterherlaufen. Und dann schreibt er immerzu irgendwelche Botschaften. Wirklich schreckliche Sachen, die ich lieber nicht wiederhole. Voller Flüche und Verwünschungen.«
Daly beschloss, nicht nachzuhaken. Die Frau war offenkundig in einer schrecklichen Situation. Ohne Beistand musste sie miterleben, wie der bröckelnde Verstand ihres Bruders tagtäglich weiter verfiel. Er rieb sich die Augen und stand auf.
»Wir tun unser Bestes, um Ihren Bruder zu finden, Miss Hughes«, versprach er. Schweigend und ihren Morgenmantel eng um sich ziehend, sah ihm Eliza nach, als er ging.
Draußen war es noch dunkel, und die Äste des Schlehdorns krallten sich an den Wind. Die umherhuschenden Lichtkegel zeigten ihm an, wo seine Officer die Felder absuchten, die sich bis zum unsichtbar daliegenden Seeufer erstreckten. In wenigen Stunden würde es dämmern. Wenn sie Hughes nicht bald fänden, würde er an Unterkühlung sterben. Nur Gott wusste, was im Kopf des alten Manns vor sich ging.
Auf dem Weg zurück zum Auto begann das Handy in Dalys Tasche zu klingeln. Er kannte die Nummer nicht und ging ran.
»Wo ist dein schwarzer Anzug, Celcius?«, fragte eine vertraute Stimme.
»Anna«, rief er überrascht und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. »Wo bist du?«
»In deinem Haus. Ich hab den Ersatzschlüssel unter dem gebrochenen Pflasterstein gefunden. Im Schrank und in der Kommode ist der Anzug nicht.«
»Was machst du denn da?«
»Der Schwiegervater meiner Schwester ist am Donnerstag gestorben, und heute Vormittag ist Beerdigung in Dublin. Ich wollte, dass du mich begleitest, aber jetzt ist es zu spät. Ich hab deinen Traueranzug nirgends gefunden.«
»Der ist in der Reinigung.«
»Ich denke oft an dich, Celcius. Das wollte ich dir längst sagen. Aber ich muss jetzt los.«
»Ich bin mit einem Fall beschäftigt. Kannst du nicht noch eine Stunde warten?«
Die bisherige Zärtlichkeit in ihrer Stimme wurde von der bekannten Entschiedenheit verdrängt. »Nein. Ich muss sofort los. Meine Schwester wartet auf mich. Und du bist ja immer mit irgendeinem Fall beschäftigt.«
»Einen Moment noch. Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Sie seufzte. »Was denn?«
In einem verzweifelten Versuch, das Gespräch zu verlängern, drückte Daly das Telefon fester an sein Ohr. Sein Atem ging schneller, hektischer, als wäre er in einem Raum eingesperrt, in dem die Luft immer dünner wurde.
»Kannst du für mich einen Lottoschein ausfüllen?«, sagte er, ehe sie auflegte. »Ich hab so ein Gefühl, dass das unsere Glückszahlen sein könnten – 49, 11, 21, 7. Die zwei letzten kannst du dir aussuchen.«
Es gab eine Pause, während sie die Zahlen notierte.
Als sie wieder sprach, war die Zärtlichkeit in ihre Stimme zurückgekehrt. »Ist das jetzt der neue romantische Daly?«, fragte sie.
»Wie meinst du das?«
»Die Zahlen – rückwärts gelesen ergeben sie das Datum unseres ersten Rendezvous. Sieben Uhr am zwölften November 1994. Hätte nicht gedacht, dass du dich daran erinnerst.« Sie hielt kurz inne. »Ich ruf dich an, wenn die Zahlen gezogen werden. Bye, Celcius.«
Bei der Rückkehr in das Cottage seines Vaters empfingen Daly die Dämmerung mit drohendem Regen und ein aufziehender Kater. Doch eine Lücke hatte die Sonne noch in den Wolken gefunden und warf einen Lichtstreifen auf tief liegendes Moorland und Hecken. Auf dem Weg zur Tür drängten sich ihm einige Einzelheiten mit schmerzlicher Klarheit auf: die hellen Steinmauern, eine Fensterscheibe, in der sich das flammende Morgenlicht spiegelte, das Whiskeyglas, das weiß vor Reif im Schatten unter dem Vordach stand.
Bereits beim Eintreten ins Haus spürte er ihre Anwesenheit. Sie hatte sich die Mühe gemacht, im Wohnzimmer etwas Ordnung zu schaffen, Kleidungsstücke zusammenzulegen, benutzte Tassen und Teller wegzuräumen und die Zeitungen und CDs in ein Regal zu legen.
Er empfand einen Stich, weil sie sich die Zeit genommen hatte, sich den Gegenständen im Raum zu widmen, nicht aber auf ihn hatte warten oder das Gespräch fortsetzen wollen. Statt sich richtig zu verabschieden, hatte sie ihn mit diesem aufgeräumten Zimmer zurückgelassen, dessen Luft von ihrem Parfüm und einer unguten Stille erfüllt war. Die Erinnerung an ihre Stimme schrammte an den Rändern seines Katers entlang. Vielleicht hätte er den Anruf der Leitstelle doch ignorieren sollen, in seinem Verhau bleiben und auf ihr Kommen warten sollen?
In den ersten Monaten ihrer Trennung, als Anna bei ihren Eltern in Glasgow lebte, hatte Daly sie oft angerufen. Der Gedanke hatte ihn gequält, sie könnte mit einem anderen Mann zusammen sein. »Da ist niemand, dem wir die Schuld geben können, außer uns selbst«, hatte sie immer wieder gesagt. Aber ihm war es schwergefallen, ihr das zu glauben, und gefangen im Denken eines Detective, war er überzeugt gewesen, ein unbekannter Täter habe ihre Liebe zerstört. Diese Reaktion war in mancher Hinsicht irrational gewesen, gespeist von Selbsttäuschung und Wahn.
In den ersten Monaten hatte er tagtäglich auf die Post mit den Scheidungsunterlagen gewartet, aber sie kam nie. Er bot das gemeinsame Haus in Glasgow zur Vermietung an und bewarb sich um eine Versetzung nach Nordirland. Er hatte gehofft, nach Belfast zu kommen, aber zu seiner Überraschung wurde er nach Armagh geschickt, die Stadt, in der er aufgewachsen war. Zu der Zeit war es ihm sinnvoll erschienen, in das leer stehende Cottage seines Vaters zu ziehen.
In einem anderen Telefongespräch hatte er gefragt, was sie von ihm verlange. Sie hatte geantwortet, er müsse beweisen, dass er auch ein Leben jenseits seines Berufs habe. Noch in Glasgow kam er zu der bitteren Erkenntnis, dass er, zerrieben zwischen Lust an der Ermittlerarbeit und Papierkram, diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte. Sie hätte genauso gut einen Beweis für die Existenz einer vierten Dimension fordern können. Mittlerweile würde er wohl sogar die Zeit krümmen, um zu retten, was er mit ihr gehabt hatte.
Er ging in die Küche und öffnete irgendeine Dose. Er hatte keine Lust, das Etikett zu lesen, aber es roch, als würde Anna es höchstens an ihre Katze verfüttern. Nach ein paar Bissen ließ er die Gabel in der Dose stecken, stand auf und schleppte sich ins Bett.