Kitabı oku: «Auslöschung», sayfa 3
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Die namenlose Stimme am anderen Ende der Leitung sprach wenig und beendete das Gespräch rasch. Father Jack Fee hörte sich die nüchtern aufgezählten Tatsachen an, denen nichts von einer Tragödie anhaftete, und legte dann ebenfalls auf. Es war fünf Uhr morgens, und er saß in seinem kalten Arbeitszimmer. Während der Troubles war er Vikar in einer Gemeinde im Grenzgebiet gewesen, daher wusste er, was der Überbringer der Nachricht meinte. Der Mann hatte mit großer Autorität gesprochen, auch wenn die Nachricht selbst nicht schlüssig war und man ihn vielleicht zum Narren halten wollte. Aber für Father Fee war sie traurig und mehr als das – bestürzend. Er ging zu seinem Schreibtisch und schrieb die Worte nieder. Es war seine Pflicht als Priester, den Anweisungen zu folgen, auch wenn das Priesterseminar ihn auf so etwas nicht vorbereitet hatte.
In einem Baum auf Coney Island wartet ein Toter auf Sie.
Das klingt wie eine makabre Aufgabe bei einer Schnitzeljagd, dachte er. Bis er sich gewaschen, angezogen und sein Gebetbuch und die heiligen Öle eingepackt hatte, war die Dämmerung aufgezogen. Er öffnete die Haustür und ging hinaus. Der Morgen roch nach feuchtem Moos. Aus den tiefen Wolken, die über den tristen Himmel zogen, tröpfelte es leicht. Beneidenswert, mit welch stiller Zielstrebigkeit sich Wolken bewegen, dachte er.
Ein grauer Star hatte Father Fee auf einem Auge fast erblinden lassen. Das bedeutete auch, dass er nicht mehr selbst Auto fahren konnte, sondern auf die Hilfe eines Gemeindemitglieds angewiesen war. Die ihm heute bevorstehende Prüfung wollte er seinem üblichen Fahrer jedoch ersparen. Mit einem Stoßgebet zum heiligen Christophorus fuhr er mit seinem zehn Jahre alten Renault über die schlaglochübersäten ländlichen Straßen bis zu dem Ring der Townlands, die Munchies genannt wurden.
Bisher hatte er insgesamt sechs Ermordeten die Letzte Ölung gegeben. Anrufe hatten ihn an Straßengräben oder stille Waldflecken geleitet, wo ihre Leichen lagen, mit Düngersäcken über dem Kopf und die Hände mit Paketschnur gefesselt. Alle sechs waren als Spitzel gegeißelt worden, während der Troubles eine hochgefährdete Spezies.
In der schlechten alten Zeit war seine Gemeinde für ihn weniger ein sicherer Hafen einer gottesfürchtigen Schar gewesen als vielmehr das Niemandsland zwischen zwei Armeen, Schauplatz für IRA-Überfälle und Patrouillen der British Army. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen richtig und falsch hatte für die Mitglieder seiner Gemeinde wenig Bedeutung gehabt, es kam nur darauf an, was für das Überleben notwendig war oder nicht.
Durch ein dichtes Birkenwäldchen kam Father Fee in das Townland Derryinver mit einem weiten Blick über den Lough Neagh. Er manövrierte den alten Wagen durch eine Abfolge von Kurven, die den Einheimischen zufolge selbst einem Häretiker den Teufel austreiben konnten, und fuhr, knirschend schaltend, an der Maghery Church vorbei. In der Ferne waren vage die Umrisse der schneebedeckten Sperrin Mountains zu erkennen. Dann beschleunigte er und rollte durch eine Landschaft, die mit ihren dichten Hecken und abfallenden Feldern auch ein Naturschutzgebiet für Scharfschützen darstellen konnte.
Es war passend, dass dies eine seiner letzten Aufgaben vor dem Ruhestand sein sollte. Die achtundvierzig Jahre seines Berufslebens waren ein einziger trauriger Gang durch sämtliche Fegefeuer dieser verfluchten Provinz gewesen. Vielleicht würde er, wenn er vom Totenbett aus zurückblickte, erkennen, dass die Troubles ihm das Priesteramt gerettet hatten, vor allem gegen Ende zu, als sich die Verbrechen, die ihm seine Gemeindemitglieder beichteten, wie ein Knäuel Schlangen um seine Seele legten. Da war es leicht gewesen, Gut und Böse zu unterscheiden und sein eigenes Abgleiten in spirituelle Gleichgültigkeit zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Als er in den Maghery Park einbog, kam sein Wagen dort, wo nicht gestreut worden war, auf einer Eisplatte ein wenig ins Rutschen. Ein Fischer, der gerade mit seinem Boot anlegte, sah auf und winkte ihm zu. Father Fee überspielte sein ungutes Gefühl, stieg aus und erkundigte sich freundlich nach dem Befinden der Mutter des Manns, die schwer erkrankt war.
Es war ein langer, dunkler Winter mit viel zu vielen wolkenverhangenen Himmeln gewesen. Doch am Ufer des Lough stach Father Fee die grelle Spiegelung in den Augen und ließ sein Starauge tränen. Die hellen Wellen schwappten gegen das Fischerboot und ließen kleine Lichtbogen um den dunklen Rumpf laufen.
Der Priester bat den Fischer, ihn nach Coney Island überzusetzen. Dann ließ er sich schwerfällig auf der Holzbank nieder und spielte mit den Dosen der heiligen Öle und dem Weihwasserfläschchen in seiner Rocktasche. Er war froh um den Sonnenschein, während sie hinausruderten. Die Ruderblätter tauchten nur so tief ein, dass sie mit jedem Schlag mehr Licht als Wasser herausschöpften. Die Helligkeit ließ Father Fee für den Moment alle beängstigenden Gedanken an das Kommende vergessen, und er war zufrieden, dem Fischer beim Rudern zuzusehen und sich mit ihm verbunden zu fühlen. Menschenfischer, Fischer verlorener Seelen, dachte er im Stillen. Er ließ ein paar Worte über das Wetter fallen, hütete sich aber, den Grund für diese Fahrt oder etwas von seiner Angst zu verraten.
Er hatte schon mehrere an abgelegenen Stellen versteckte Informantenleichen gefunden, mit dem Gesicht auf dem Boden liegend und von Ranken und Unkraut umschlungen. An diesen x-beliebigen Orten, wo sein Blick von blühenden Pflanzen und durch die Hecken raschelnden Vögeln abgelenkt wurde, waren sie schwer auszumachen gewesen. Doch sobald er die Insel betrat, ahnte er, dass es dieses Mal anders sein würde. Wer auch immer die Leiche hier abgelegt hatte, hatte einen Hang zur makabren Inszenierung. Der Leichnam war groteskerweise sitzend in einer Baumhöhle hindrapiert, Kopf und Schultern waren nach vorne gesackt, auf dem fahlen Gesicht lag ein Ausdruck verhärmter Erschöpfung. Father Fee erkannte auf den ersten Blick, dass es eines seiner älteren Gemeindemitglieder war, ein regelmäßiger Kirchgänger noch dazu. Er hatte sich schon gewundert, warum er ihn seit Wochen nicht gesehen hatte.
Traurig schüttelte der Priester den Kopf. Ein weiteres menschliches Opfer des gewaltsamen sozialen Schiffbruchs, der Troubles hieß, war angespült worden. Obwohl das Bomben seit mehr als einem Jahrzehnt beendet war, kam es noch immer scheußlich oft vor, dass konfessionelle Konflikte und Mord sein Priesterleben beeinträchtigten.
Wenn er vom Altar aus auf seine kleine Gemeinde blickte, dachte Father Fee oft an ihre Ängste und Hoffnungen, an ihre Familien und ihren Alltag, die kleinen Lasten auf ihren Schultern und in ihren Herzen. Seit dem Waffenstillstand hatten sich viele Paramilitärs hier am Seeufer niedergelassen – manchmal sogar ganze Familien. Einige hatten in der Politik ein neues Betätigungsfeld gefunden, andere waren dem Alkohol verfallen, und ein paar hatten zu Gott gefunden. Letztere waren jene, deren Gewissen von dem gequält wurde, was sie gesehen und getan hatten. Durch das Sakrament der Beichte wurde ihnen die Gnade Gottes zuteil, aber ihre Unsicherheit zwang sie dazu, sich dessen immer wieder zu vergewissern. Sie waren die verlorenen Schafe seiner Herde, die jetzt an jedem Tag in der Woche zuverlässig zur Messe kamen, sich großzügig an den Kollekten beteiligten und sich sogar erboten, ihm eine Reise nach Rom und in das Heilige Land zu ermöglichen. Bei Beerdigungen legten sie ihm die groben Hände auf die Schultern und flüsterten: »Sehr schön, Herr Pfarrer.«
Auf den Stationen des Kreuzwegs sah er sie, gespiegelt in den verglasten Bildern von Christus und seinem Leidensweg auf dem Kalvarienberg, alle hinter sich versammelt.
Wenn er sie vom Altar aus betrachtete, machte sich sein grauer Star besonders unangenehm bemerkbar.
Er sah den Erpresser mit kaltem Blick hinter der Mutter mit dem kleinen Kind sitzen, und in den letzten Reihen saß der herzlose Mörder neben dem alten Ehepaar, dessen Söhne alle in Amerika lebten.
Die furchtbaren Verbrechen spukten immer durch seine Gedanken.
Und dann war da Joseph Devine gewesen.
Zu seinem Gesicht, wenn es nachdenklich nach oben zu der Figur am Kreuz gerichtet war, hatte sich Father Fee beinahe zärtlich hingezogen gefühlt. Zu diesem alten Mann, der mit seinem Gewissen rang. Alle Kraft floss in den letzten Kampf gegen die Stimmen in seinem Kopf.
Seine Gedanken wanderten zurück zu Devines letzter Beichte. Es war ein ungewöhnliches Gespräch zwischen Beichtvater und Beichtendem geworden. Begonnen hatte es damit, dass Devine berichtete, er habe sich nicht über die Taufe der Enkelin eines Freunds freuen können.
»Father, ich habe überhaupt nichts dabei empfunden«, hatte er geflüstert. »Selbst lächeln ist mir schwergefallen. Ich habe es auch nicht über mich gebracht, das Baby im Arm zu halten.«
Father Fee hatte geschwiegen, es wollte ihm keine tröstliche Antwort einfallen. Obwohl sie durch ein Metallgitter getrennt waren, schien Devines Gesicht sehr nah zu sein. In seinem Atem leichter Alkoholgeruch.
»Habe ich denn Grund für meine Befürchtungen?«
»Was sind denn deine Befürchtungen?«
»Dass ich nie meinen Frieden finden werde?«
Die Frage beunruhigte Father Fee. Ehe er antwortete, rieb er sein krankes Auge.
»Warum solltest du keinen Frieden finden? Gottes Gnade ist unerschöpflich. Du musst nichts weiter tun, als vor Gott ein vollständiges Bekenntnis abzulegen.«
»Das tue ich jeden Monat, Father.«
Der Priester schwieg.
Dann sagte er mahnend: »Du erzählst mir nicht die ganze Wahrheit. Du bist heute nicht wegen dieser Taufe zu mir gekommen. Dich plagt etwas anderes. Aber ich weiß nicht, was. Vielleicht schämst du dich zu sehr, um es zu sagen. Ich weiß es nicht. Der Einzige, der das weiß, bist du. Und Gott.«
»Sonst plagt aber nichts mein Gewissen, Father«, entgegnete Devine ein wenig aufsässig.
»Warum bist du dann hier?«
Und dann fielen die Worte, die Father Fee erwartet hatte. Erfreut stellte er fest, dass Scham noch immer eine wirksame Kraft war. Es kam selbstverständlich darauf an, aus welcher Gemeinschaft man stammte und wie viel Bedeutung die Meinung anderer hatte. Aber in diesem Land begegnete man Informanten immer noch mit größter Verachtung. Father Fee hatte sogar Leute sagen hören, dass man seine Nachbarin vergewaltigen konnte und es bald vergessen würde, aber wenn der Großvater Spitzel gewesen war, bliebe man noch als Enkel sein Leben lang Außenseiter.
Im Halbdunkel des Beichtstuhls spürte Father Fee Devines Blick.
»Ich dachte, ich könnte die vergangenen Taten hinter mir lassen, aber die Stimmen verschwinden nicht. Ich habe für die britischen Sicherheitsdienste spioniert. Für Geld. Wegen meiner Informationen kamen Menschen ums Leben.«
Aufmerksam lauschte Father Fee dem Geständnis. Mit einem Seufzer wappnete er sich.
»Wie oft ist das vorgekommen?«
»Öfter, als ich mich daran erinnere.«
»Und empfindest du Reue über deine Taten?«
»Am Anfang ja, da hab ich mich schuldig gefühlt. Da hat mir mein Gewissen keine Ruhe gelassen. Aber allmählich ist die Scham verschwunden. Und es stimmt ja, dass die Männer, die durch meine Mithilfe umkamen, gefährlich und gewalttätig waren. Keiner von denen war unschuldig.«
Den Priester beschlich ein Gefühl tiefer Müdigkeit. Es war, als suchte er krampfhaft nach einem Ausweg aus einem Albtraum.
Devine wartete geduldig auf Absolution durch den Priester, doch statt sie zu erteilen, schloss Father Fee nur die Augen. Der Hunger seiner Gemeinde nach Vergebung von Sünden erschien ihm unersättlich, ein Schlund, den er bis in alle Ewigkeit füttern musste. Sein Mund war trocken, in seinem Kopf pochte es. Der Priester meinte nicht einfach mit der üblichen Formel fortfahren zu können. Licht drang durch den Schlitz unter der Beichtstuhltür. Als er auf seine Hände blickte, bemerkte er überrascht, dass sie zitterten. Vielleicht sollte das die letzte Beichte sein, die ich abnehme, dachte er. Morgen rufe ich den Diözesansekretär an und bitte um meine Versetzung in den Ruhestand.
Schließlich ergriff er doch noch das Wort. »Normalerweise schlage ich zur Buße Gebete vor, aber in deinem Fall weiche ich davon ab. Du bist zu mir um Vergebung gekommen, aber das ist hier nicht so einfach. Ehe ich dich von deinen Sünden lossprechen kann, musst du dafür Buße tun.«
Dann erläuterte er die ungewöhnliche Aufgabe, die ihm als Sühne vorschwebte.
Schließlich segnete er Devine und schloss das Sprechgitter. Die Beichte war beendet. Er hörte, wie Devine stotterte und etwas zu sagen versuchte. Er glich einem Kind, dem keine weiteren Fragen mehr einfielen.
Danach fühlte sich der Priester seltsam beschwingt. Nach Jahren braver Pflichterfüllung, in denen er sich gegenüber dem Willen Gottes hintangestellt hatte, empfand er diese Abweichung vom Beichtritus wie eine Befreiung. Jetzt musste er Männern, die gemordet oder Beihilfe dazu geleistet hatten, das Leben nicht mehr einfach leichter machen.
Vor Devines Leiche redete sich Father Fee ein, dass alles, was geschehen war, Vorsehung war. Selbstverständlich hatte er sich nicht vorstellen können, dass Devine ermordet werden würde, aber in dem Umstand, dass er als Erster bei dem Toten sein durfte, sah er das Walten einer höheren, vielleicht sogar göttlichen Gerechtigkeit. Jetzt konnte er Devine mit den Sterbesakramenten versehen und ihm die Beichte abnehmen.
Der Priester kniete sich auf den Boden und legte dem Mann behutsam die Hand auf die Stirn. Dann sprach er die Worte, die er schon so oft gesprochen hatte.
»Möge Gott, der Allmächtige, dir seine Gnade zuteilwerden lassen, dir deine Sünden vergeben und dir das ewige Leben schenken.«
Das Gebet dauerte nur wenige Sekunden. Danach streifte sein Blick eine alte Hortensie, die vom Gewicht der durchweichten Blüten des Vorjahrs niedergedrückt war. Tief gebeugt waren ihre Zweige, die diese Überfülle an toten Blüten kaum zu tragen vermochten. Er fragte sich, warum die Natur den Strauch seine riesigen Blütenstände nicht abwerfen ließ, wenn sie verblüht waren, um es ihm leichter zu machen. Eine verzweifelte Sehnsucht nach den ersten Frühlingsboten ergriff ihn, nach einem zarten Schneeglöckchenblatt oder einer Blattknospe kurz vor dem Aufbrechen, aber der Strauch taugte dafür nicht, so wenig wie ihm der Ballast, der sich über die Jahre in seinem Kopf angesammelt hatte, half.
Wasser trat in sein krankes Auge, und dann fing auch das gesunde an zu tränen. Devines Leiche verschwamm vor seinem Blick wie ein Dorn, der sich nicht fassen und herausziehen ließ.
5
Nachdem sie den wackligen Bootsanleger hinter sich gelassen hatten, riet der Fischer Celcius Daly, sich zurückzulehnen und die Landschaft zu genießen. Beim Hinausrudern aus der Mündungsbucht tat sich im Norden die weite Seefläche des Lough Neagh auf, während die Uferlinie immer zerklüfteter wurde. Bald sah Daly die Umrisse von Coney Island, und als das Boot sich der Insel näherte, entdeckte er den verkohlten Eichenstumpf, die ein Blitz in Brand gesetzt hatte. Eine Gruppe von Männern und Frauen, teils in Schutzanzügen, wuselte zwischen den geschwärzten Baumteilen hin und her. Als der Fischer an einer Schilffläche vorbeiruderte, flog eine Seeschwalbe mit zunehmend gereiztem Keckern auf sie zu.
Der schlanke, schnittige Fiberglasrumpf des Polizeiboots, des einzigen, das hier im Einsatz war, blockierte fast den gesamten Anlegesteg. Daly gelang es, auf die Planken zu springen, ohne sich ein Bein zu brechen. Er war froh, wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben.
»In der Regel machen Leichen keine Geräusche«, warnte Ruari Butler, der heranschlendernde Rechtsmediziner, den Detective zur Begrüßung. »Aber ich fürchte, hier haben wir es mit einem sehr speziellen Fall zu tun.«
Er zeigte Daly den Tatort mit einer Beflissenheit, als ob er ihn durch ein Naturschutzgebiet führen würde. Unbeholfen tastete Daly hinter dem großen Mann nach dem Absperrband, um darüberzusteigen, und stolperte leicht.
Auf den ersten Blick entdeckte Daly nichts Auffälliges. Der Körper eines barfüßigen älteren Manns war sitzend gegen einen verkohlten Baumstumpf gelehnt. Seine Miene war entspannt, der Mund stand leicht offen, und die Zunge hing heraus, als hätte sie versucht, dem Tod ihres Wirts zu entwischen. In der Luft hing der Duft überreifer Schlehen, und das Surren der um die Leiche schwirrenden Fliegen erweckte den Anschein, als würde sie leise schnarchen. Kein sichtbares Anzeichen für ein Verbrechen, bemerkte er. Es könnte auch der tragische Unfall eines alten Manns sein, der wie jeden Morgen barfuß hierhergekommen war und sich in dieser Baumhöhle ausgeruht hatte, als ihn der Tod ereilte.
Aber bei genauerem Hinsehen war offensichtlich, dass Teile der Leiche versengt waren und man kaum zwischen menschlichen Sehnen und verbranntem Holz unterscheiden konnte. Die schwarzen, im Feuer geschrumpften Gliedmaßen des Opfers und die verkohlten Äste waren ineinander verschlungen, als hätte sich der Körper um die Überreste eines deformierten Zwillings gewickelt. Eine Untersuchung des Kopfs ergab vielfache stumpfe Verletzungen und Reste klebrigen Bluts. Der Hinterkopf war grießig wie ein durch den Fleischwolf gedrehter Knorpel.
Um die Leiche schwirrten Kriminaltechniker, die fleißig fotografierten, Haarproben nahmen und mikroskopisch kleine Beweisstücke aus dem Gebüsch klaubten, um ein brutales Stück Vergangenheit zu heben und zu katalogisieren. Nach getaner Arbeit würden sie damit abmarschieren und es in den Regalen eines forensischen Labors einlagern.
Butler sprach zu ihm, aber Daly konnte seinen Worten kaum folgen, weil er zu sehr mit diesem Anblick beschäftigt war. Manche Detectives vermochten alle Einzelheiten eines grausamen Mords aufzusaugen wie ein Hochleistungsstaubsauger, aber Daly gehörte nicht dazu. Butler bemerkte sein Unbehagen. Um ihm zu helfen, die Fassung wiederzuerlangen, richtete der Pathologe den Blick auf das Südufer des Sees und fing wie zum Spaß an, die dortigen Townlands des County Armagh aufzuzählen: Clonmakate, Columbkille, Maghery und Derrylileagh.
Der Schauder, der Daly in die Eingeweide gefahren war, war jedoch schwächer ausgeprägt als die professionelle Rivalität im Umgang mit Unangenehmem, die ihn mit Butler verband, und so ärgerte er sich ein wenig über dessen taktvolle Ablenkung von seiner Schwäche.
»Wie lang ist die Leiche hier?« Daly blickte auf das entspannte Profil des Gerichtsmediziners.
»Zum Glück wurde das Opfer gefunden, bevor der eigentliche Verwesungsprozess eingesetzt hat oder sich die Wildtiere hier daran haben gütlich tun können.«
»Dann hätte es für ihn ja kaum besser laufen können, was?« Dalys Ton war eisig.
»In gewisser Hinsicht ja. Für eine Leiche ist so ein Wildschutzgebiet kein guter Aufenthaltsort.«
»Und was wäre einer?«
Unbeeindruckt von Daly wie von der Leiche, ging Butler behutsam um einige Holzstücke herum, allein auf den Fortgang seiner Gedanken und Schlussfolgerungen konzentriert. Ähnlich wie die Mathematik machte der Tod die Dinge einfacher. Herauszufinden, wie etwas geschehen war, bedeutete, die Dinge mit klarem, nüchternem Blick zu betrachten und den Schleier der Gefühle zu lüften.
»Immerhin hat er die Sterbesakramente bekommen«, bemerkte Daly.
»Freundlicherweise verabreicht durch Father Jack Fee aus Maghery. Kennen Sie ihn?«
»Nein. Ich bin kein regelmäßiger Kirchgänger. Aber ich werde ihn besuchen.«
»Er sagt, der Tote ist Joseph Devine, ein frommes Mitglied seiner Gemeinde. Offenbar hat Mr. Devine keine näheren Verwandten. In seiner Jacke war eine Brieftasche mit einem Führerschein und mehreren Bankkarten.«
Die Wellen von einem vorbeifahrenden Motorboot klatschten gegen den Anlegesteg. Die beiden Männer sahen zu, wie das Boot um das Inselufer kurvte und aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Das Opfer wurde durch eine Reihe von Schlägen gegen den Kopf, ausgeführt mit einem stumpfen Gegenstand, getötet«, fuhr Butler fort. »Außerdem wurden seine Gliedmaßen angezündet, möglicherweise um ihn zu foltern. Dabei diente Baumharz als eine Art Brennstoff. Den genauen Todeszeitpunkt werden wir nicht mehr herausfinden, aber grob geschätzt dürfte er nicht länger als vierundzwanzig Stunden zurückliegen.«
Mit einer Pinzette drückte der Gerichtsmediziner auf die Brust des Opfers. Es folgte ein Zischen, und aus dem Hals der Leiche kam ein Geräusch. Ein anhaltendes raues, vogelartiges Gurgeln. Es war eines der merkwürdigsten Geräusche, die Daly je gehört hatte. Hoch, wild, unmenschlich.
Er sah Butler beinahe flehend an. »Was zum Teufel war das?«
»Erkennen Sie’s nicht?«
Butler öffnete den Mund des Opfers. Er hatte die Kehle schon eingehend untersucht. Geschickt fummelte er mit der Pinzette einen kleinen Metallgegenstand heraus und hielt ihn vor Daly in die Höhe.
»Eine Entenpfeife. Steckte knapp über dem Kehlkopf.«
Die Anspannung auf dem Gesicht des Detective nahm etwas ab.
»Nach dem Trauma in der Mundhöhle zu schließen, wurde sie dem noch lebenden Opfer gewaltsam eingeführt.«
Er schwieg einen Moment wie ein Schauspieler, der sich die Bühne zurückerobert. »Weil die Leiche so theatralisch zur Schau gestellt wurde und weil ein Priester über den Fundort informiert wurde, kann man wohl davon ausgehen, dass hier irgendwelche Paramilitärs die Hand im Spiel hatten.«
»Für diese Vermutung haben wir noch keine Beweise«, knurrte Daly.
»Für die Medien ist das auch ohne Beweise ein gefundenes Fressen.«
Daly zuckte die Achseln. »Vielleicht bringt uns der Rummel ja ein paar brauchbare Hinweise.«
»Einen kann ich jetzt schon bieten. Offenbar war sein Tod für die Mörder von großer Bedeutung.«
»Wieso?«
»Verbrennen, foltern und dann totschlagen, dazu eine tief in den Hals gerammte Entenpfeife. Nach meiner Erfahrung werden nicht viele Opfer so zugerichtet. Eine Kugel in den Schädel wäre doch viel einfacher und effektiver gewesen.«
Daly war nörgelig. »Also sind unsere Hauptverdächtigen Paramilitärs mit kranker Fantasie und einem Faible für Entenjagd.«
Butler deutete ein schiefes Lächeln an. Dann wandte er sich der Leiche zu und setzte seine Arbeit fort, während Daly – froh, dem gruseligen Anblick des verkohlten Baumstumpfs zu entkommen – sich auf den Weg machte, um die übrige Insel in Augenschein zu nehmen. Eigentlich hätte er am Tatort bleiben und den Kriminaltechnikern zur Hand gehen sollen, aber er musste einen klaren Kopf bekommen. Außerdem war hier Butler für die Spurensicherung verantwortlich, und der würde keinen Stein auf dem anderen lassen.
Zurück am Ufer, nahm Daly ein paar tiefe Atemzüge Seeluft und sah zu, wie die Wolkenschatten über das Wasser huschten. Weiter unten im Süden verschwanden die Mourne Mountains im abnehmenden Winterlicht mit einem letzten violetten Schimmer am Horizont.
Coney Island war ein wilder, merkwürdiger Ort, an den nur vom Sturm überraschte Fischer oder wagemutigere Vogelbeobachter kamen. Während der elisabethanischen Kriege war die Insel von den Anführern des O’Neill-Clans als Zuflucht genutzt worden, und sie war nach einer Hexe benannt, die angeblich für die englische Königin spioniert hatte. Der Legende nach hatte sie Red Hugh O’Neill vergiftet, während sie seine Wunden nach einer Schlacht versorgte. Hexe, Mörderin und Spionin in einer Person, dachte Daly. Im Vergleich zu Miss Coney war Mata Hari eine Pfadfinderin.
Während er am Ufer entlangwanderte, legte er sich einen Plan für die Ermittlungen zurecht und überdachte die einzelnen Schritte. Nach der Spurensicherung am Tatort würden sie damit beginnen, die am Lough lebenden und arbeitenden Menschen zu befragen. Sie würden versuchen herauszufinden, wie der Tote auf die Insel gekommen war und wie die Mörder dorthin gelangt und wieder verschwunden waren. War jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Waren plötzlich fremde Boote oder Autos in der Gegend gewesen? Am Seeufer gab es zwei Gemeinden, eine protestantisch, die andere katholisch, beide in tiefem Argwohn miteinander verbunden. Alles, was auch nur im Entferntesten ungewöhnlich gewesen war, war garantiert von jemandem bemerkt worden.
Er kam an einen Kiesstrand mit wunderbar rund geschliffenen Kieselsteinen, und während er dort entlangspazierte, spielte er mit dem Gedanken, ein paar davon auf das Boot des Fischers zu schaffen. Damit könnte er den vernachlässigten Garten seines Vaters etwas hübscher machen. Eine Möwe tauchte ins Wasser und kam mit einem zappelnden Aal im Schnabel heraus. Im See wimmelte es von Leben, dachte er, aber genauso war dort der Tod zu Hause. Vielleicht war die Zivilisation hinter dem Lough ja nur seiner Fantasie entsprungen?
Zum Leben war Nordirland kein so übler Ort mehr, sprach er sich Mut zu. Möglicherweise war das Essen nicht so gut, und es gab auch hier schlechte Menschen, aber durch den Friedensprozess wurde das viele Leid, das in den vergangenen vierzig Jahren entstanden war, langsam geheilt.
Auf den Kieselstrand folgte dichtes Röhricht, das weit in den Lough hinausreichte. Beim Blick auf den Zerrspiegel der Seefläche schauderte es ihn. Dieser Mord war besonders grausam gewesen, und er befürchtete, dass sich die Ermittlungen lange hinziehen und schwierig werden würden. Die Mörder waren einige Risiken eingegangen, offenbar weil sie sicher waren, auf dieser unbewohnten Insel ungestört zu bleiben. Hatten sie ihr Opfer hierhergelockt, oder war es zu einem vereinbarten Treffen gekommen?
Er bemerkte eine Spur aus abgeknicktem Schilfrohr und kürzlich aufgewühltem Schlamm, die in das Röhricht führte. Als er darauf zuging, flog ein Schwarm Enten aus Nestern auf. Es waren flinke, vorsichtige Wesen, und ihre Körper waren für eine schnelle Flucht gebaut. Kurz blieb er stehen und betrachtete versonnen ihre gewandten Bewegungen, die sich im Wasser verdoppelten. Der einfachste Weg, um Ordnung ins Chaos zu bringen, dachte er plötzlich, war, zu warten, bis sich wieder Stille einstellte.
Im Röhricht stieß er auf eine Vogelbeobachtungshütte. Sie war nicht so klapprig und besser gebaut als jene, die er aus seiner Kindheit kannte. Im Innern fand er ein Fernglas. Eigentlich, dachte er, dienen Vogelbeobachtungshütten eher dazu, sich vor anderen Menschen zu verstecken, damit die das idiotische Verhalten von Ornithologen und Entenjägern nicht mitkriegen. Das Fernglas war von überraschend guter Qualität – keines der alten Dinger, wie er auf den ersten Blick vermutet hätte. Er nahm es und betrachtete damit die Uferlinie, eine verschlungene Gruppe von Wurzeln und Felsen, die über ihrem Spiegelbild schwebte. Er hatte weder Stift noch Block, um die Tiere zu notieren, die er entdeckte, aber zur Vogelbeobachtung war er ja nicht gekommen. Sein Blick blieb an einem heruntergekommenen Cottage hängen, halb versteckt unter Bäumen, die Hintertür einen Spaltbreit offen. Außer dem Haus war am Ufer kein Anzeichen von menschlichem Leben zu sehen.
Daly blinzelte. Das Gesicht des Toten hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, dass er dessen Umrisse in den dunklen Bäumen und ihrem Spiegelbild darunter wiederentdeckte. Er setzte das Fernglas ab. Er wusste nicht einmal, wonach er suchte. Genauso gut konnte er einen Märchenwald nach Spuren eines Ungeheuers absuchen.
Er trat aus der Hütte und ging den Pfad durch das Röhricht zurück. Ein durchweichtes, blutiges Ding fiel ihm ins Auge. Weil er es für einen toten Vogel hielt, stupste er mit dem Schuh dagegen. Doch es erwies sich als der erste Hinweis, der ihn auf die Spur der Täter führen konnte. Es sah aus wie ein blutiger Tauchhandschuh, und er hob ihn auf, um ihn in eine Asservatentüte zu stecken. Vielleicht hatte der Angreifer ihn ausgezogen, um besser zupacken zu können. Daly begriff, dass der Überfall sehr genau geplant und mit großem Aufwand durchgeführt worden war. Dann fragte er sich, wie lange es gedauert haben mochte, bis das Opfer gestorben war.
Als der Fischer Daly zum Festland zurückruderte, war es später Nachmittag geworden. In immer mehr Cottage-Fenstern erschien Licht. Von Mücken umschwirrt, traten sie an Land. Der Fischer meinte, im Winter seien sie nicht so schlimm wie die Sommermücken. Jetzt könnten sie nur einmal stechen.