Kitabı oku: «Bittersüß», sayfa 2
30. Oktober 2002
18.30, auf der Fahrt von Frankfurt nach Mannheim.
Im Zug schrieb ich immer am liebsten. Ich suchte mir einen möglichst ruhigen Zweier-Platz im Großraumwagen des ICEs, setzte mich ans Fenster, zückte mein Notizbuch und legte los, während die rasende Metallröhre unter mir und um mich herum sanft ratterte und vibrierte und die Landschaft draußen vorbeiflitzte.
Unweigerlich werden die meisten meiner Tagebuchnotizen im Büro spielen, beim Projekt – wie schon mein Highlight mit Frankie zeigt – finde ich zurzeit die einzigen einschlägigen Kontakte. Denn mein Privatleben gleicht einer sehr dünnen Käsescheibe auf einem mageren Vollkornbrötchen. Ohne Butter. Zieht man einmal meine ehrenamtliche Tätigkeit im Frauencafé »Weibernest« ab, siehts noch kümmerlicher aus. Ich bin eine Single-Frau mit Katze, und QUASI, »das Projekt«, verschlingt mich geradezu, ein 12–14 Stunden-Arbeitstag ist normal.
Meine Chefs und Kollegen. Nicht wenige von ihnen sind goldig, doch nur einige sind wirklich relevant für das Erotische, dem ich als stets ausgehungerte Füchsin nachstelle.
Herrn Wild, einen der höheren Chefs, nenne ich nur ACW nach seinem Kürzel; er ist klein und rattenflink, dazu energiegeladen und jähzornig. Auch ich geriet heute kurz in seine Feuerlinie, er fuhr mich an wegen einer Folie, die ich noch nicht gezogen hatte – ich wusste weder, dass sie für ihn bestimmt war, noch, dass sie so eilig sein sollte. Ich blieb ganz ruhig, während er schäumte. Drolligerweise ist er der einzige, auf den ich total abfahre – ganz zuallererst war er mir nicht sympathisch gewesen, dann schaute ich schärfer hin und nahm seine interessante sexuelle Ausstrahlung wahr, anders lässt es sich nicht beschreiben. Ein Glück, dass er nicht nett ist!
Lenk nicht ab, weise ich mich schreibend selbst zurecht, was war letzte Nacht? Was hat dir die Nummer mit Frankie gebracht? Ein bisschen Lust, klar. Einen recht anständigen, sagen wir einen mittelmäßigen Orgasmus, und doch ist dieser quälende, sich immer wieder unterschwellig in mir ausbreitende Hunger ungestillt geblieben. Ich ahne einfach, dass es mehr geben muss. Und mich beunruhigen diese Phantasien. Ich meine, ich habe eigentlich kaum mit Frankie selbst geschlafen, letzte Nacht, sondern ein geiles Phantasieerlebnis mit dem namenlosen Hotelkellner gehabt. Im Grunde war Frankie nur ein Objekt für mich gewesen, kein Wunder, dass ich so gut wie nichts für ihn empfand. Das Komische ist bloß, dass ich mich auch in den Kellner nicht etwa verliebt habe! Nein, es ist komplizierter. Verflixt. Das ist ganz schön anstrengend, dies aufzudröseln. Der Reihe nach geht es bestimmt am besten.
Ich blende mal zurück zu dem Moment, da ich mir vorstellte, der gut aussehende Kellner folgte mir, sei dicht hinter mir, so dicht, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spürte. Schon bei dieser Vorstellung überlief mich ein leiser wohliger Schauer. Er flüsterte mir Anweisungen zu. Er wollte, dass ich es Frankie besorgte (und es mir von ihm machen ließ) aber genau nach seinen Wünschen – und eben das fand ich total antörnend. Das allein spornte mich so an, dass ich tropfnass wurde und Frankie und ich beide ein geiles Erlebnis hatten. Es hatte so gut wie nichts mit Frankies Loverqualitäten zu tun.
Denn die ganze Zeit trieb ich in meinem eigenen Phantasiefilm, und zwar so intensiv, dass ich des Kellners schattenhafte Präsenz förmlich zu spüren meinte, manchmal sogar seine korrigierenden Hände auf mir fühlte, wenn er mir zeigte, wie ich Frankie zu blasen hatte … WIESO um alles in der Welt brauchte ich so etwas?? War das nicht ein bisschen krank? Oder sogar mehr als ein bisschen?
Eins steht fest: meinen Freundinnen im Weibernest brauche ich mit solchen Erzählungen nicht zu kommen. Die Feministinnen wären empört, die Lesben würden spöttisch lächeln, die Esoterikerinnen mich heilen wollen. Davon bin ich fest überzeugt.
Eben deshalb bleibt ja nur das Tagebuch …!
Der heutige Arbeitstag war, obwohl ich den Feierabend kaum erwarten konnte, sagenhaft gut, wenngleich hammerhart, wie meistens, denn für eine einzelne Sekretärin ist hier viel zu viel zu tun. Ich empfand mich als sehr lebendig. Voll erwischt vom WorkaholicVirus. Führte das erste Mal Protokoll beim so genannten Jour Fixe, der wichtig und konspirativ ist. Scharf aufpassen war angesagt, auf des Chefs knappe Zeichen achten.
Danach eine kleine Pause.
Als Herr Wild neben mir stand, um mir eine Frage zu beantworten, sah ich seine schönen langbewimperten, grünblauen Augen, und ich schmolz dahin. Sein goldblondes Haar fällt ihm jungenhaft in die Stirn – er hat einen geschmeidigen Körper, ist immer superkorrekt und trotzdem lässig gekleidet, wie schafft er das nur mit Anzug und Krawatte, eine Haltung wie ein Tänzer. Der tanzende Herr Wild oder ACW – er ist Anfang 40, schätze ich, und spielt regelmäßig Squash, um fit zu bleiben für den stressigen Arbeitsalltag.
Alle hier sind arbeitssüchtig – und stolz darauf. Ein Subchef – kam noch mit dem Wunsch nach 17 Folien um halb sechs. Bis wann er sie bräuchte? »Morgen 8.00 Uhr.« Ich fuhr in den 2. Stock, wo’s leer war und ich nicht in Gefahr geraten konnte, warten zu müssen. Morgen früh wäre das der Wahnsinnsstress, selbst wenn ich früh genug ankäme, also halb acht.
Auf dem Rückweg war ich trotz der späten Stunde nicht allein im Lift – ein dunkelhäutiger Anzugträger verschlang mich mit seinen holunderbeerschwarzen Augen, was mir nicht unangenehm war … ja, es schmeichelte mir, mehr aber auch nicht, und als ich trotzdem flüchtig darüber nachdachte wie es wäre, mit diesem Fremden eine Nacht zu verbringen, sagte sogleich eine Stimme in mir: »Es wäre auch wieder unbefriedigend.«
Die Spielverderberstimme, die leider bis jetzt immer recht behalten hatte. Nur ganz flüchtig zog es mir durch den Sinn, ob es womöglich anders wäre, mit einem exotischen Mann wie diesem Schwarzen zu schlafen, und in meinem Hang zur political correctness fragte ich mich am Rande auch sogleich, ob das etwa eine rassistische Einstellung war.
Verdammt, wo sollte das hinführen, wenn das so weiterging? So konnte das ja nichts werden, wenn ich nicht mit den Männern vögelte, mit denen ich zusammen war, sondern ausschließlich feucht und geil wurde durch herbeiphantasierte Männer, mit denen ich nicht zusammen war! Hatte ich bislang nur einfach noch nicht »den Richtigen« getroffen? Verbaute ich mir selbst den Weg? Zwang mich mein Unterbewusstsein, stets »den Falschen« zu wählen? Und wenn das so war – wieso, in Dreiteufelsnamen???
1. November 2002
Hey, ich muss einfach ein bisschen Geduld mit mir haben. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut – es ist zwar keine leichte, aber bestimmt eine lohnende Aufgabe, das Labyrinth meiner sexuellen Identität zu durchwandern – bis zum in sinnlichen Farben leuchtenden Ziel.
Immer hatte ich eigentlich gedacht, dass mehr hinter dem Ganzen stecken musste. Schließlich drehte sich die gesamte Welt doch um Sex, und mir kam es so vor, als würde ich mich selbst um das Hauptvergnügen betrügen. Und zwar andauernd, mit schöner Regelmäßigkeit.
An dieser Stelle – unvermeidlich, das machen alle Biographen so – ist es mal fällig, ein paar Info-Brocken über meine Kindheit fallen zu lassen wie Granatapfelkerne. Ich bin in einer biederen und ziemlich verklemmten Familie aufgewachsen. Das Thema Sex kam bei uns praktisch nicht vor, und nie habe ich meine Mutter oder meinen Vater nackt gesehen. Es lag wohl daran, dass sie beide streng katholisch erzogen worden waren … als Eltern verschonten sie zwar meinen Bruder und mich mit allzu rigorosen Erziehungsmethoden und zwangen uns auch nicht in ein Religionskorsett, aber mit Erotik und so schienen sie einfach nichts anfangen zu können. Das wurde schamhaft ausgeblendet; folgerichtig waren mein Bruder Henry und ich beide Spätzünder, und selbst jetzt noch, mit Mitte beziehungsweise Anfang 30 gab es eine ganze Menge, was wir noch nie erlebt hatten. Mein Bruder heiratete einfach die erste Frau, die sich seiner annahm und mit ihrer frechen, direkten Art seine Verklemmtheit löste – hey, sie hatte einfach den richtigen Schraubenschlüssel oder die passende Flachzange … der Vergleich würde dem technisch begabten Henry bestimmt gefallen.
Und bei mir … naja …
Im »Weibernest« gestern war’s anfangs unangenehm. Manchmal frage ich mich, weshalb ich da überhaupt noch hingehe – aber es ist natürlich ein gutes Gegengewicht zu meinem heftigen Job … und außerdem kommt Alpha ab und zu dorthin.
Mit ihr verband mich eine intensive Freundschaft; so manches Mal hatte ich mich auch schon gefragt, ob es nicht sogar mehr werden könnte … aber dann schreckte ich allein vor dem Gedanken zurück. Komisch, eigentlich. Denn ich mochte sie, fand sie auch körperlich anziehend.
Gestern allerdings, kurz vor der monatlichen Kollektivsitzung, trug gerade Alpha dazu bei, dass es für mich im Weibernest schrecklich war, zu Beginn jedenfalls. Anlass war folgender: Also ich hatte den Frauen gerade einen Computer gespendet. Alle waren begeistert. Fast alle.
»Was täten wir nur ohne unsere große Mäzenin!«, sagte Alpha spöttisch und prostete mir ironisch zu.
Ich hob ihr mein Glas entgegen, ohne eine Miene zu verziehen, obwohl ich den Stich wohl spürte und auch verletzend fand. Wie eine kalte Dusche schüttete sie ihre Worte samt höhnischen Blicken über mich. Aber ich kannte Alpha schon lange; so war sie – direkt bis an die Schmerzgrenze und manchmal auch darüber hinaus.
Die Blicke der anderen Kollektivfrauen gingen von mir zu ihr; alle spürten die Spannung, die plötzlich zwischen uns entstanden war.
»Ich finde es sinnvoll, was ich da tue«, entgegnete ich ruhig, da Alpha mich weiterhin anfunkelte.
»Du hast dich ans Kapital verkauft«, behauptete meine Freundin, »noch dazu an extrem widerliche Kapitalisten! Es ist schmutziges Geld – Scheiße, es ist so, als würdest du auf den Strich gehen!«
Unsere Mitfrauen hielten allesamt den Atem an.
Ich blieb weiterhin ruhig und fragte mich, was in sie gefahren sein mochte. Sie hatte schon früher gegen QUASI gestichelt und auch diese marxistischen Argumente vorgebracht, sehr altmodisch, sehr rührend … aber noch nie war sie so weit gegangen. Ich würde es bestimmt nicht noch einmal sagen, doch ich blieb bei meiner tatsächlich Meinung, dass mein Job Sinn machte – nicht nur für das »Weibernest«. Das Café pfiff nämlich finanziell auf dem allerletzten Loch, es war marode und seine Kollektivfrauen, die es führten, heillos zerstritten. Durch mein Geld, meine reichlich fließenden Spenden, war endlich wieder ein bisschen Ruhe, Spaß und Harmonie eingekehrt. (Hm, indem ich das niederschreibe, merke ich selbst, dass es ein bisschen eingebildet klingt. Also, natürlich ist Geld nicht alles. Es macht nur die Dinge ein bisschen geschmeidiger und glättet die Ecken und Kanten bei Konflikten innerhalb einer ehrenamtlichen Institution.)
Jedenfalls, Neid konnte es bei Alpha nicht sein. Sie war materiell bedürfnislos, eine leidenschaftliche Anarchistin, die sich überall durchschlängelte. Ich bewunderte das. Vielleicht aber fühlte sie sich emotional vernachlässigt?
Plopp. Ich machte mir ein Bier auf und drehte mir einen Joint. »Ich weiß, was du meinst, Alpha, und manchmal denke ich sowas auch«, meinte ich grinsend. »Die Pharmafabrik damals war ja schon schlimm genug, aber das hier … es ist so, als wäre ich in einem goldenen Spinnennetz gefangen. Andererseits – indem ich ordentlich was von der Kohle hierher trage, kommt es mir eben manchmal doch eher so vor, als würde ich dem Kapital eins auswischen und nicht andersherum.«
Alpha starrte mich an. Bestimmt hatte sie erwartet, dass ich wütend werden würde oder einschnappen wie ein Taschenmesser – normalerweise auch tatsächlich meine Spezialität. Nach einer Ewigkeit erwiderte sie mein Grinsen zögerlich.
»Okay, Mädels«, sagte ich forsch, »was steht auf der Tagesordnung?« Damit ließ ich den Joint kreisen und die Spannung löste sich endgültig im süßlich-aromatischen Rauch auf.
Wir litten unter chronischem Besucherinnenschwund. Das Weibernest hatte so recht keine eindeutige Identität, und wir boten zu wenig an. Jetzt allerdings wollte das örtliche Seelengesundheitsinstitut (kurz SGI) mit uns zusammenarbeiten. Eine leitende Ärztin hatte sich an Sina, die zweite Vorsitzende, gewandt und ihr den Vorschlag unterbreitet, Frauen, die als geheilt entlassen wurden und die nicht wussten wohin, erst einmal zu uns zu schicken, damit wir sie betreuten.
Sina glühte förmlich vor Begeisterung, als sie uns diese Idee unterbreitete.
»Ich finde das gut«, sagte ich und verlieh so der allgemeinen positiven Stimmung Ausdruck. »Wir sollten uns nur mental gut genug darauf vorbereiten … uns Informationen holen und Rückhalt auch aus dem SGI. Das Wichtigste ist aber Empathie, und die haben wir …«
»Genau!«, bekräftigte Alpha, die ganz offensichtlich nicht mehr darauf aus war, mich wegen Rumhurerei mit dem Kapital in die Pfanne zu hauen, »Janet hat recht, sowas können wir. Denkt mal, wie wir eigentlich heißen: Frauen kämpfen für Frauen e.V. Gerade deshalb sollten wir unseren Geschlechtsgenossinnen aus der Psychiatrie helfen.«
Beifälliges Gemurmel unter den anderen Kollektivfrauen, die sich außerdem sichtlich freuten, dass zwischen Alpha und mir wieder Harmonie eingekehrt war.
In der folgenden halben Stunde überlegten wir uns, wie das praktisch aussehen würde. Unsere neuen Gästinnen wären scheu, misstrauisch, müssten mit besonderer Wärme, aber auch wiederum nicht zuviel Herzlichkeit empfangen werden. Sina plädierte dafür, ein ganz spezielles Willkommens-Buffet zu gestalten, ein Vorschlag, der große Zustimmung fand.
»… etwas Gesundes, Leckeres, mit viel Gemüse und heilenden, wohlschmeckenden Körnern und Kräutern«, meinte eine etwa 45jäh-rige, ausgesprochen mütterliche Frau.
Ich lehnte mich etwas zurück und trank mein Bier aus. So ganz insgeheim, in einem versteckten Winkel meines Herzens, hegte ich Zweifel, ob das so funktionieren könne. Ich als Kassenfrau machte mir Sorgen und Gedanken über die Wirtschaftlichkeit des Weibernestes. Mit großer Sicherheit wären diese neuen Besucherinnen nicht gerade zahlungskräftig, und es stand auch eher NICHT zu vermuten, dass sie andere, finanzstärkere Frauen anziehen würden. Auf der anderen Seite liebte ich den schier unerschöpflichen, weiblich geprägten Idealismus, mit dem wir schon seit über einem Jahr – als sich das neue Kollektiv gebildet hatte – das windschiefe winzige Frauencafé am Laufen hielten. Selbstausbeutung pur, aber dafür auch Wärme, Witz, Phantasie, ein Zufluchtsort, an dem die harten Gesetze von »Draußen« nicht galten … Männer hatten hier keinen Zutritt, allein das schon machte uns radikal und extrem, und auch wenn ich selbst manchmal bedenklich darüber den Kopf schüttelte – ich mochte einfach diesen totalen Kontrast zu meinem restlichen Leben.
Meine beiden Leben waren so scharf voneinander getrennt wie Tag und Nacht. Das Tagleben in F., beim Projekt, stellte sich grell dar und scharf umrissen, geldgeil und intrigant, angefüllt mit komplexen, herausfordernden, teilweise absurden Aufgaben, kalt glitzernd und sich selbst verzehrend in halb unterdrückten Begierden. Das Nachtleben im Weibernest gestaltete sich hingegen eher warm, weich, voll vager Herzlichkeit aber auch mit emotionalen Problemen behaftet, zwischen materieller Bescheidenheit und hohem idealistischen Anspruch schwankend, mit Gelächter und leidenschaftlichen Diskussionen, begleitet von Marihuana, Zigaretten, Bier, Wein die Stunden verplaudernd bei Kerzenschein, doch gleichzeitig nicht frei von kleinen Eifersüchteleien und Machtkämpfen, wobei ich die als geradezu niedlich empfand, nach allem, was ich vom Projekt her gewohnt war.
Kein Wunder, dass mich jedoch die Spannung, die zwischen den zwei so verschiedenen Leben herrschte, manchmal schier zerriss, und ewig hatte ich mich in stark schablonenhafte Rollen hineinzuzwängen, wo blieb da ich selbst, wer war ich selbst wirklich, ich hatte keine Ahnung!
Kein Wunder auch, dass ich mich gerade jetzt extrem nach Sex sehnte, auch wenn er letztlich nicht so befriedigend war, wie ich mir das vorstellte – vermochte nur er es doch, die Gegensätze und Widersprüche für kurze Zeit aufzulösen und mir immerhin einen Hauch von Entspannung zu schenken.
Ich seufzte unhörbar, als ich bei diesem Punkt angelangt war mit meinen Gedanken und erkannt wieder, wie wichtig es war, mich mit meinem »Projekt Sexleben« zu beschäftigen.
Mein Blick schweifte umher und blieb an Alpha hängen, die auch ruhig geworden war und gelassen an der Selbstgedrehten zog. Ihre starke Ausstrahlung, ihr blondes Haar, heller als meines, unter dem grüne Katzenaugen hervorblitzten – all das zog mich an und ich hatte Lust, mehr Zeit mit ihr zu verbringen.
Der Göttin sei Dank nahte ja das Wochenende!
Als sich endlich die wieder mal ins Uferlose ausartende Kollektivsitzung doch dem Ende zuneigte, trat ich zu Alpha und lud sie für Samstag zum Essen ein.
Ihre nachdenkliche Miene hellte sich auf. »Vietnamesisch?«, fragte sie.
»Klar, wenn du willst.«
5. November 2002
Gestern früh schrak ich hoch, starrte auf den Wecker, hielt ihn verkehrtrum, glaubte, es sei 9.15 Uhr und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Mein Ragdollkater Ivory maunzte erfreut. Dann stand ich etwas blöde im Bad herum und dachte: »EINEN winzigen Moment mal. Es ist ja noch dunkel. Das KANN also nicht sein.«
Klangloses Novembergetschilpe der Vögel. Mit dem Fahrrad schoss ich aus der Auffahrt und nietete fast eine Fußgängerin um.
Ich musste mich erstmal um die Projektakte kümmern, mein Sorgenkind, weil sich ein hohes Tier von der Zentrale angesagt hatte. Er wird »der Q« genannt, genau wie James Bonds genialer Erfinderfreund Er hatte schon eine Art »Boten« vorausgeschickt. Sieht meinem ACW ein bisschen ähnlich, ist so ein Typ wie der, nur etwas grobschlächtiger und im ganzen fuchshafter. Er trägt eine Uhr für 2000 Euro am Handgelenk spazieren, womit er immer wieder gerne prahlt.
Also noch ein bis zwei Chefs mehr, die ich zu betreuen habe. Dafür sind Frankie und ein Subchef auf Dienstreise. Letzteren vermisse ich ein kleines bisschen, ersteren jedoch überhaupt nicht, obwohl ich mit dem doch in der Kiste war. Bald darauf erfahre ich, dass »der Q« wohl erst später kommt, stattdessen irgend ein anderer.
Ich lache nur über die wilden Wellenbewegungen des Projektes, so lange auch ACW dabei bleibt. Verflixt. Ich kapiere es nicht, aber seinetwegen verdreht mir QUASI auf völlig verrückte Weise den Kopf.
»Werfen Sie doch Ihr kritisches Auge darauf«, sagte ich zu ACW und gab ihm die Notes-Meeting-Einladung, und genau das tat er auch, unglaublich scharf und akribisch … bestimmt ein Schikaneversuch, aber damit hatte er bei mir keine Chance, ich finde ihn einfach zu süß. Außer einem ganz zarten Rot an den Rändern meiner Ohrmuscheln (so stellte ich mir meine körperliche Verlegenheitsreaktion jedenfalls vor) blieb da nichts hängen. Ich war unverwüstlich vergnügt.
Und dann befahl ACW mich zu sich in sein – riesiges – Büro direkt neben meinem, und wir gingen zusammen die Ablage durch.
Boah. Seufz … Es knisterte, ich konnte es fühlen. Und war es etwa nur etwas, was allein ich empfand?
»Für die Akte XY müssen Sie schon ganz nach unten links tauchen«, sagte er genießerisch. Mein Herz klopfte schneller, und es prickelte in mir, als ich zu dem Regal stöckelte und dann kurz zauderte.
(Weshalb? Wieso, verdammt nochmal, konnte mich SO ETWAS so antörnen …?)
Ich überlegte einen winzigen Moment lang. Es war ja nun alles andere als einfach, im engen Rock so in die Tiefe zu gehen. »Tauchen«, hatte er gesagt. Kleiner, gut aussehender Witzbold. Ich entschied mich fürs Knien, und seltsamerweise fühlte sich das gut an, ganz natürlich, es fiel mir leicht, und ich kam auch mit der glücklich geschnappten Akte sehr elegant wieder hoch, insgeheim sehr stolz auf mich, da mir wohl bewusst war, dass nicht jede das so hingekriegt hätte.
Dann schaute ich zu ACW. Es gab keinen Grund dafür, aber er hatte mich die ganze Zeit intensiv beobachtet und tat es auch jetzt noch, und ich bemerkte, dass sein leichtes Lächeln diesmal völlig frei von Spott war …
Stolz hob ich den Kopf.
Den Rest der Ablagetätigkeit brachten wir gemeinsam eher sachlichnüchtern hinter uns, worüber ich sehr froh war.
Doch kurz darauf kam ACW in mein Sekretariat, flink wie immer, und bat mich um ein Aspirin.
»Mal schauen, ob ich noch eins hab«, meinte ich kühl, verwirrt über den ungewöhnlich sanften Klang seiner Stimme, »der Verbrauch an Kopfschmerztabletten ist ziemlich hoch beim Projekt.«
»Ich bin sicher, Sie lassen mich nicht im Stich«, sagte er und ließ seine schönen türkisfarbenen Augen auffunkeln.
Er behielt damit Recht, ich fand noch eine Tablette. Unsere Finger berührten sich flüchtig, als ich sie ihm reichte. Es war, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen.
An der Tür war ACW gleich wieder der alte, schalkhaft zwinkerte er mir zu und meinte: »Wie kann ich das je wieder gutmachen?«
Unschlagfertig, verlegen winkte ich nur ab. Du lieber Himmel, er wird noch was merken!, schoss es mir durch den Kopf. Dabei liegt ja gerade der Reiz im andauernden Versteckspiel. Ihn nicht merken lassen, dass ich auf ihn abfahre!
19 Uhr war es, als ich endlich im Zug nach Hause saß.
Aber ich hatte es kaum bemerkt. War wie auf goldenen Wolken durch den Rest des Arbeitstages geschwebt. Dabei, verflixt noch eins, kapiere ich diese Unlogik erotischer Anziehung nicht! Ich weiß DEFINITIV, dass Herr Wild einen guten Schuss Bosheit in sich trägt. Sogar mehr als nur einen Schuss. Aus sicherer Quelle habe ich erfahren, dass er gerne Fehler in die Software hineinprogrammiert, dergestalt, um sie als Bedienungsfehler erscheinen zu lassen, die er dann dem ahnungslosen Kunden vorwirft. So schindet er zum Beispiel Zeit, teuer bezahlte, und erringt Aufschub, wenn man mal wieder mit den Terminen völlig im Rückstand ist. ACW hat »seine Leute« und gilt als superintrigant. Auch möchte er gerne Projektleiter werden..
Mein moralischer Sinn sagt mir: »Bloß die Finger weg von so einem Typen, auch kein Flirt«, aber ein machtvoller Teil in mir hört einfach nicht darauf.
Purer Kontrast zum kalten Intrigendickicht des Projekts war mein Zusammensein mit Alpha am Samstag. Zuerst lud ich sie, wie abgemacht, zum Vietnamesen ein, wir schmausten nach Herzenslust, tranken und rauchten aber nur mäßig, und da wir so schön im Gespräch waren, ließen wir den Abend gemütlich bei mir ausklingen.
Bewusst hatte ich nur wenig über das Projekt gesprochen, obwohl mir das nicht leicht fiel. Wir hatten uns unterhalten über das Weibernest, über anstehende Demos gegen Atomkraft und Globalisierung, also deren menschenverachtende Seiten, über Frauenrechte weltweit, über eine gemeinsame entfernte Bekannte, die gerade vom Heroin losgekommen war, und über Alphas neueste künstlerische Beschäftigung: Auf einem alten Fabrikgelände, totale Industrieromantik, schuf sie eine gewaltige Installation aus Kürbissen und Papierkugeln. Sie hatte sich zusammengetan mit einer ganzen Gruppe von anarchischen Künstlern. Alpha erwog, mich in ihrer nächsten Performance miteinzubeziehen. Nach meinen literarischen Ideen erkundigte sie sich aber nicht, sie war Feuer und Flamme für ihre eigenen Sachen, und vermutlich nahm sie an, dass ich eh im Moment nichts anderes tat, als mich mit Haut und Haaren vom Projekt verschlingen zu lassen.
Ich lauschte immer gerne, wenn sie erzählte, doch am Samstagabend wuchs langsam in mir ein Gefühl der Unzufriedenheit. Es war, als ob eine Glasmauer zwischen uns stünde, und das tat mir weh, denn ich konnte mich noch gut an die Zeiten erinnern, in denen wir ein Herz und eine Seele gewesen waren.
Alpha, Hardcore-Feministin, bisexuell, Ex-Punk und Ex-Sympathisantin der RAF, fühlte sich, wie ich glaubte, angezogen von meiner Unerfahrenheit, meiner Naivität in vielen Dingen und, na ja, wohl auch durch mein schriftstellerisches Können. Wir waren mal zusammen nach Wien gefahren, in die Stadt der dekadenten schummrigen Kaffeehäuser, hatten im Auto übernachtet und ich hatte Alpha UND MICH zum Schreien gebracht, indem ich Horrorgeschichten erfand, die so überzeugend waren, dass ich mich selbst ebenfalls gruselte. Dauerhafte Beziehungen führte Alpha sonst nicht, dazu lebte sie viel zu unstet, und ich konnte mir vorstellen, dass sie hoffte, mich ein Stück weit formen zu können, da ich alles an neuen Erfahrungen gierig in mich aufsog wie ein Schwamm. Sie war es gewesen, die mich ins Frauencafé »Weibernest« gebracht hatte und sie hatte mir auch den einen oder anderen »politisch korrekten« Nebenjob vermittelt.
Überflüssig zu sagen, dass ich mir den Job bei QUASI ohne ihre Hilfe ausgesucht hatte.
Alpha räkelte sich auf meinem Sofa, schlürfte geräuschvoll Rotwein und murmelte, müde vom unablässigen Reden: »Mach doch mal die Glotze an.«
Sie selbst besaß keinen Fernseher, schließlich war sie beinahe wohnsitzlos. Ich zappte also durch die Kanäle, Talkshows, Dokus, Sport, Musikfilme, erntete immer nur unwilliges Grunzen und endlich nur noch leises Schnarchen – Alpha war eingedöst.
Ich blieb bei einem älteren James Bond Film hängen. Da ich mir nicht sicher war, ob ich den kannte, schaute ich gespannt in die Flimmerkiste … ich mochte den cool-charmanten James Bond. Ah, hier George Lazenby in seinem einzigen Auftritt als 007. Hochinteressant.
Er packt ihr Handgelenk, verdreht es.
»Sie tun mir weh!«, sagt Diana Rigg zu George Lazenby.
Er: »Darauf haben Sie es doch den ganzen Abend angelegt.«
Dann ohrfeigt er sie.
Links neben mir stieß Alpha, die gerade in dem Moment, da diese Szene über den Bildschirm flimmerte, erwacht war, ein angewidertes Knurren aus. »Bäh, wie ekelhaft sexistisch!«, schnaubte sie. »Was ist das denn? Ein Scheiß-Bond-Film mit diesem grässlichen Macho und seinen hohlköpfigen Miezen?! Das glaub ich einfach nicht, dass du so einen Mist guckst, Janet!«
Ich wollte mich verteidigen. Ich wollte widersprechen – gerade dieser Bond-Film hatte in Diana Rigg eine starke Frau. Dass sie weder schrie noch weinte, als sie die Ohrfeige bekam, sondern dass sie etwas anderes zu empfinden schien, faszinierte mich.
So war das: Alpha abgestoßen, ich erregt.
Verdammt, ich musste krank sein. Die Kassenfrau des Frauencafés Weibernest saß hier und fühlte sich wie elektrisiert von einer einzigen Sequenz in einem Trivialfilm …
Ich seufzte, schwieg und schaltete um.
Aus purem Trotz jedoch begann ich nun doch vom Projekt zu reden. Und auch ACW kam in meinen Schilderungen vor. Ich beschrieb – auf möglichst witzige Weise – die Sache mit der Ablage.
Da unterbrach mich Alpha, die schon zuvor mit den Augen gerollt hatte: »Nee, hör auf! Boah, dass du dir das gefallen lässt …! Hör mal: Wenn du wieder mit dem Kerl zu tun hast, dann stell ihn dir einfach nackt und wichsend vor dem Hotelspiegel vor!«
Genau das wollte ich NICHT tun. Sie meinte es gut, aber ihrem Rat zu folgen, hieße den eigenartigen dunklen Zauber zu zerstören, der sich zwischen mir und ACW entsponnen hatte. Und ich war gerade dabei gewesen, mich heranzutasten und zu versuchen, zu erklären, was da so Sonderbares in mir vorging …
Abermals seufzte ich tief fand die »Space Night« auf Bayern 3, hypnotisch schöne Bilder der Erde, aus dem Weltraum gesehen, mit meditativer Musik unterlegt, und das gefiel uns beiden.
Alphas rechte Hand umschloss meine linke – sie spürte wohl etwas von meiner inneren Ratlosigkeit. Ich erwiderte den Druck ihrer Finger. Doch seltsam, die alte vertraute Nähe wollte sich dennoch nicht wieder einstellen.