Kitabı oku: «Xaverna»
In Gedenken an Karlheinz Böhm
Vorwort
Cornelia in „Xaverna“ betrachtet wie viele andere deutsche Jugendliche Schule als lästige Nebenbeschäftigung, nicht so die vielen Kinder in Äthiopien. Sie jubeln, wenn sie eine Schule bekommen.
Auch in vielen anderen Belangen geht es uns viel besser.
Bildung ist eine Grundvoraussetzung für dauerhaft besseres Leben.
Daher startet Antonia gemeinsam mit „Menschen für Menschen“ nach bereits langjähriger erfolgreicher Zusammenarbeit nun einen weiteren Schritt: Teile des Erlöses aus dem Verkauf der Bücher werden in das Bildungsprojekt von „Menschen für Menschen“ „Generation ABC 2015“ sowie später folgende Bildungsprojekte investiert.
Somit trägt jeder einzelne mit dem Kauf dieses tollen Buches dazu bei, den Kindern in Äthiopien eine Bildung zu ermöglichen und dadurch Gutes zu tun.
An dieser Stelle möchte ich mich im Namen von „Menschen für Menschen“ ganz herzlich bei euch bedanken.
Viel Spaß beim Lesen.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Widmung
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Liebe Leserin, lieber Leser!
Impressum
Klappentext
Fußnote
Kapitel 1
Wieder eine Absage. Mutlos ließ ich den Kopf in die Hände sinken. Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Auge löste. Obwohl ich es verhindern wollte, bahnte sie sich nur Sekunden später den Weg über meine Wange. Ärgerlich wischte ich den Tropfen fort.
Langsam las ich den Text ein zweites Mal. Es war die gleiche fadenscheinige Begründung wie in den vorangegangenen 17 Briefen auch: Zwar könne ich wirklich exzellent schreiben, doch leider sehe der Verlag trotzdem keine Möglichkeit zur Veröffentlichung meines Buches, da mein Name einfach inakzeptabel sei. Natürlich, Cornelia Fatjona Unke mag ungeeignet sein, aber wozu gibt es Pseudonyme? Warum bot mir kein Verlag einen Druck unter falschem Namen an, wenn dies doch das einzige Problem darstellte? Seufzend faltete ich das Papier zusammen, um es später in die dafür vorgesehene Dose zu legen, wo es auf seine 17 Artgenossen treffen würde. Dann kippte ich eine nicht zu kleine Portion Schokomüsli in eine Schüssel und schüttete Milch darüber. Frustvoll begann ich, das Essen in mich hineinzuschaufeln.
Eigentlich hätte es ein wundervoller Tag werden sollen, von den Zeugnissen einmal abgesehen. Am letzten Schultag vor den Sommerferien herrschte bisher immer eine durch und durch positive Grundstimmung. Heute jedoch hatte niemand gute Laune gehabt. Die Abschlussrede des Direktors war einfach grauenhaft gewesen, auch hatte sie deutlich länger gedauert als im letzten Jahr. Darauf folgte die Zeugnisausgabe, die ebenfalls ein kompletter Reinfall war. Erst nachdem wir einer ewigen Moralpredigt gelauscht hatten – oder eben auch nicht – erhielten wir die ungeliebten Papiere. Wenige freudige Aufschreie und viel lautes Stöhnen hallten durch den Raum. Ich war recht zufrieden, doch ich wusste auch, dass Dad es nicht sein würde.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis in der Klasse die Freude auf sechs Wochen Ferien die Oberhand gewann. Zwar würde kaum jemand in den Urlaub fahren, da fast alle Eltern in der Tourismusbranche arbeiteten – wir waren schließlich die sogenannte Inselklasse – und somit den ganzen Sommer über alle Hände voll zu tun hatten, aber inmitten der vielen Urlauber auf Usedom kam so gut wie nie Langeweile auf. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten bereits große Strandpartys mit möglichst viel Alkohol geplant, ich hingegen fieberte ruhigen Stunden am PC zum Schreiben neuer Geschichten sowie ausgedehnten Fahrradtouren entgegen.
Als wir jedoch nach Schulschluss alle aufgeregt aus dem Gebäude gestürmt waren, hatte wie aus dem Nichts ein heftiger Regen eingesetzt. Binnen weniger Sekunden war ich bis auf die Haut durchnässt, obwohl ich meine Kapuze dicht ins Gesicht zog. Dabei hatte ich vergleichsweise noch Glück: Meine Klassenleiterin, Frau Schupanirak, die zugleich meine Nachbarin war, hielt neben mir und bot an, mich mitzunehmen.
Sie unterrichtete uns in Mathematik und Geschichte, absolut nicht meinen Lieblingsfächern, und war allgemein ziemlich unbeliebt, doch da ich sie durch die Nachbarschaft schon sehr lange kannte, hatte ich kaum Probleme mit ihr. Was allerdings nicht bedeutete, dass ich sie besonders mochte, im Gegenteil.
In ihrem Auto war es gemütlich warm. Aus dem Radio dudelte klassische Musik. Ich hatte wenig Lust auf ein Gespräch mit ihr, doch Frau Schupanirak bemerkte das nicht und begann fröhlich zu plaudern: „Na, Cornelia, fahrt ihr dieses Jahr in die Berge?“ „Nein, meine Eltern arbeiten, wie jedes Jahr in den Ferien.“ „Ach ja, ach ja. Nun, du weißt ja, wenn du dich langweilst, kannst du mich gerne besuchen, solange ich zu Hause bin. Meine Sammlung von Geschichtsbüchern ist wirklich außerordentlich interessant!“ „Danke, aber ich habe ja auch selbst Bücher, und außerdem zwei Brüder.“ „Richtig, richtig. Zwillinge, nicht wahr?“ Ich nickte langsam. „Wie alt sind sie doch gleich?“ „Dreizehn.“ „Und die Namen? Himmel, entschuldige, ich habe das schon so oft gefragt!“
Achselzuckend antwortete ich: „Janis und David.“ Dann wandte ich den Kopf ab, um aus dem Fenster zu schauen, während wir über die Brücke auf die Insel rollten. Es war erst Anfang Juli, sodass noch nicht viel Verkehr auf den Straßen herrschte. Ich war ganz froh darüber, denn so kamen wir gut voran und bogen schon bald nach Koserow ein. Auf den Gehwegen rechts und links der Hauptstraße waren bereits einige Kinder aus den Grundschulen unterwegs, während die meisten Gymnasiasten noch in den Schulbussen saßen. Kurz bevor Frau Schupanirak in die Siemensstraße kurvte, endete der Regenfall so jäh, wie er begonnen hatte. Ich bedankte mich möglichst freundlich für die Mitnahme, als ich klopfenden Herzens aus dem Auto stieg. Ohne Umschweife marschierte ich zum Briefkasten. Wenige Minuten später saß ich mit dem frustrierenden Bescheid am Küchentisch. Innerlich dankte ich David dafür, dass er immer etwas Schokomüsli in der Küche lagerte. So konnte ich mir wenigstens einige Glückshormone zuführen. Erst als ich so über Davids Frühstücksgewohnheiten sinnierte, fiel mir auf, dass wir die Jungs vielleicht auch hätten mitnehmen sollen, statt sie mit dem Bus fahren zu lassen. Seufzend stand ich auf und trat ans Fenster, um die beiden schon am Gartentor kommen zu sehen.
Sie waren eineinhalb Jahre jünger als ich und obwohl sie sich äußerlich glichen wie ein Ei dem anderen, waren ihre Charaktere grundverschieden. Janis Gunar war der ruhige Typ, der Geige spielte, schwimmen ging, fleißig war und somit die besten Noten von uns dreien hatte. Er machte allgemein nie Ärger. Zu ihm hatte ich ein exzellentes Verhältnis, denn er bewunderte mich aufrichtig – wofür auch immer – und ich liebte ihn.
David Lars hingegen hatte nur Unsinn im Kopf. Für die Schule interessierte er sich keine Spur, stattdessen ging er mehrmals in der Woche zum Fußballtraining oder Skaten, saß oft bis spät in die Nacht vor seinem PC und es geschah nicht selten, dass er trotz seines zarten Alters sonntagmorgens sturzbetrunken ins Haus stolperte. Ich bezweifelte, dass er auf diese Art noch lange alles schaffen würde. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich mit ihm weit weniger gut auskam als mit unserem gemeinsamen Bruder. Ein Stöhnen entfuhr mir, als ich Janis allein die Straße entlanglaufen sah. Sofort hastete ich zur Tür, um ihn hineinzulassen. Am liebsten hätte ich auf der Stelle nach David gefragt, doch ich wartete damit ungeduldig, bis wir beide am Küchentisch saßen.
„David ist mit zu einem seiner Saufkumpanen gefahren, glaube ich. Angeblich wollen sie die Ferien zusammen einläuten. Ich denke eher, er hat Angst, nach Hause zu kommen. Jedenfalls hätte ich die mit seinem Zeugnis.“ Erstaunt zog ich eine Augenbraue hoch. „Saß er nicht neben einer der Besten, extra zum Abschreiben?“, hakte ich nach. „Schon.“ Janis zuckte mit den Schultern. „Aber dabei lässt er sich ja ständig erwischen. Ehrlich, bei dem hilft alles nichts. Spätestens in zwei Jahren ist Schluss mit ihm, wenn er nicht langsam anfängt, seinen Verfall zu stoppen.“ Ich nickte langsam. Das entsprach genau meinem Eindruck von David. Bevor ich aber etwas antworten konnte, sprach Janis schon weiter: „Er macht es so doch nur schlimmer. Papa wird zuerst ausrasten, weil David einfach verschwunden ist und dann nochmal, wenn er sein Zeugnis sieht.“ Ich brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Stimmt, eigentlich hatte ich gehofft, dass ich meines nach seinem zeigen kann.“ Janis lachte und erklärte mir zum etwa fünfmillionsten Mal, dass unser Vater zwar überehrgeizig, im Grunde aber nicht verkehrt war. Zweifellos hatte er damit Recht. Und seit Janis mir Gesellschaft leistete, gelang es mir auch, die Gedanken an die 18. Absage zu verdrängen. Selbstverständlich war es Janis‘ Vorschlag, Pizza zum Abendbrot zu backen. In der Tiefkühltruhe entdeckte ich Spinat, Broccoli und Lachs, während Janis den Teig, Tomaten und Käse hervorkramte. Ich schämte mich fast dafür, den gefrorenen Lachs zu verwenden, wo ich doch nur kurz mein Fahrrad hätte bemühen müssen, um frischen Fisch zu besorgen. Dennoch, als unsere Eltern nach Hause kamen, standen fünf dampfende Pizzen auf dem gedeckten Küchentisch. Mum umarmte uns beide, Dad reckte immerhin den Daumen nach oben. Sofort danach erkundigte er sich nach David, worauf er die gleiche Antwort erhielt wie ich auch. Ich konnte ihm ansehen, wie er seine Wut unterdrückte, während er Davids Pizza wieder in den Ofen schob, um sie warm zu halten.
Bevor er jedoch zu essen begann, verlangte er nach unseren Zeugnissen. Zuerst betrachtete er Janis‘, mit dem er offensichtlich zufrieden war, dann begutachtete er das meinige, welches ihm nicht ganz so zusagte: „Wie ist dein Durchschnitt?“, rief er entsetzt.
Ich starrte ihn entnervt an, erwiderte aber trotzig: „Die Dreien sind doch eh nur in den unwichtigen Fächern: Geschichte, Musik, Religion … “ „Kein Fach ist unwichtig!“, unterbrach Dad mich unwirsch. „Durchschnitt?“ „Weiß ich nicht … zwei Komma drei oder so.“
Dad presste rot anlaufend die Lippen aufeinander, als er sich der Beurteilung zuwandte: „Cornelia ist eine ruhige Schülerin, die über ein gut ausgeprägtes logisches Denkvermögen verfügt, was ihr speziell in den Naturwissenschaften gute und sehr gute Leistungen einbringt. Doch häufig ist Cornelia unkonzentriert und bereitet sich nicht intensiv genug auf den Unterricht vor. Des Weiteren gelingt es ihr kaum, soziale Anbindung in der Klasse zu finden.“ Natürlich war mir klar, dass diese Einschätzung nicht gerade glänzend war, aber ich musste auch zugeben, dass sie genau ins Schwarze traf. Dennoch: Meine Eltern wussten genauso gut wie ich, woraus sämtliche Kritikpunkte resultierten. Anscheinend begriff Dad einfach nicht, dass sich eine Hochbegabung nicht mal eben abstellen ließ. Weder Janis noch David waren hochbegabt, in meiner Familie litt nur ich darunter. Dabei hatte ich sogar Freunde gefunden, doch sie waren allesamt älter als ich und gingen somit nicht in meine Klasse. Ich bemühte mich ständig, trotz meines hohen IQs relativ normal zu wirken. Leider gelang mir das oft nicht. Nachdem Dad sich wieder beruhigt hatte, Mum hatte etwas nachgeholfen, machten wir uns hungrig über die Pizzen her. Garantiert hätten wir eine äußerst harmonische Mahlzeit verlebt, wäre nicht in diesem Moment David durch die Küchentür gestürzt.
Dad sprang sofort auf, um sich vor seinem Sohn aufzubauen. „Wo warst du?“, schrie er ihn an. Ein Grinsen umspielte Davids Lippen. „Schuljahresausklangparty bei Maik“, sagte er. Es war ihm sowohl anzusehen als auch anzuhören, dass auf der Party nicht zu wenig Alkohol geflossen war. Daher hatte sich auch Mum erhoben: „David, du hast getrunken! Schon wieder! Wann wirst du es endlich lassen?“ „Nie“, erwiderte David. Noch immer grinsend holte er seine Pizza aus dem Ofen und setzte sich zu uns an den Tisch. In Dads Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit, als er forderte: „Zeig mir dein Zeugnis, David!“ „Das liegt noch bei Maik!“ Dad stand wortlos auf, ergriff Davids Ranzen und begann nach dem gewünschten Dokument zu suchen. Als er es endlich vor sich hatte, weiteten sich seine Augen merklich. David ignorierte ihn. Kopfschüttelnd reichte Dad das Zeugnis an Mum weiter. Ich wusste, gleich würde wieder die ewige Diskussion über Nachhilfe anfangen, deshalb stopfte ich mir hastig das letzte Stück Pizza in den Mund. „Ich geh nochmal zum Strand“, schmatzte ich, bevor ich die Küche verließ. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang ich die Treppe hinauf. Aus meinem Kleiderschrank angelte ich ein altes T-Shirt, das von Dad stammte und mir viel zu groß war, sowie eine kurze Sporthose. Rasch schlüpfte ich in die Sachen, trampelte die Treppe wieder hinunter und schnappte den Schlüssel für mein Fahrradschloss. Bevor ich losradelte, schickte ich noch eine SMS an Jördis. Garantiert würde sie auch ans Wasser kommen, wenn ich dort war. Dann schwang ich mich auf mein Rad und sauste von dannen. Schneller als gewöhnlich strampelte ich die Siemensstraße in Richtung Wald entlang. Hinter den ersten Bäumen bog ich scharf links ab und holte Schwung, um den ersten Berg zu bewältigen. Ich war ziemlich außer Atem, als ich den Platz vor der Seebrücke erreichte. Wie erwartet waren noch genügend Fahrradständer frei. Nachdem ich mein Rad angeschlossen hatte, schlenderte ich gelassen über den Platz.
Sowohl der Waffelstand als auch der Backfisch King waren noch geöffnet, ebenso konnte man noch in den Salzhütten speisen, jedoch keine Fischbrötchen mehr mitnehmen. An der Seebrücke hielt ich kurz an, schwankte, wohin ich mich wenden sollte. Schließlich entschied ich mich für die Brücke.
Zum Glück war es ziemlich warm für einen Abend Anfang Juli. Außerdem war ich den Wind gewohnt, der mir in die Kleider fuhr und meine Haare zerzauste. Das Rauschen der Wellen zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Beschwingt gelangte ich ans Ende der Seebrücke. Ich stützte beide Arme auf das Geländer und schaute auf die Wellen, die unter mir schäumend brachen und gegen die Stützpfeiler krachten. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie lange ich so dagestanden und versonnen auf das Wasser geblickt hatte, aber es waren gewiss einige Minuten verstrichen. Plötzlich spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern. Erschrocken fuhr ich aus meiner Trance, drehte mich um. Unauffällig hatte Jördis sich von hinten herangeschlichen.
Jördis war knapp zwei Jahre älter als ich, aber das störte uns in keiner Weise: Wann immer wir uns sahen, hatten wir jede Menge Spaß miteinander! Gemeinsam konnten wir sämtliche Ärgernisse des Alltags vergessen.
Ich strahlte Jördis an. „Schön, dass du gekommen bist!“ „Klar, immer wieder gerne. Was hältst du von einer kleinen Bootsfahrt?“ Jördis‘ Vater vermietete Tretboote auf der ganzen Insel, doch sein Hauptsitz lag hier in Koserow, sodass uns an urlauberarmen Tagen stets kostenlos ein Boot zur Verfügung stand. Diesen großen Vorteil nutzten wir nicht selten, denn solche Touren wurden auch beim hundertsten Mal nicht langweilig. Ich folgte Jördis an den Strand, wo sie eins der Boote von der Sicherungskette befreite. Mit vereinten Kräften schoben wir es ins Meer. Als es auf den sanften Überbleibseln der Wellen schaukelte, wateten wir knietief ins Wasser, wobei wir das Boot vor uns hertrieben. Erst dann kletterten wir auf die Sitze.
Beim Treten schlugen wir automatisch den gleichen Rhythmus an. Dieser hatte sich nach den jahrelangen gemeinsamen Ausflügen einfach so eingepegelt. Wie immer hielt ich den Steuerknüppel, denn Jördis war seit jeher der Auffassung, dass sie im Lenken „eine Niete“ sei. Dabei war es im Grunde ganz egal, in welche Richtung wir schipperten. Meist fuhren wir außerhalb der Badezone, besonders im Sommer, wegen der Schwimmer. Angst vor dem offenen Meer hatten wir keine, schließlich begleitete es uns bereits unser ganzes Leben lang.
Irgendwann, längst hatten wir die Bojen hinter uns gelassen, fragte Jördis einfach nur: „Und?“ Ich seufzte. Mir war klar, was sie meinte: Ob ich denn endlich eine Zusage erhalten hätte. Resigniert schüttelte ich den Kopf.
„Wie viele Anfragen hast du gesendet?“ „21. Bisher sind 18 Absagen eingegangen.“ „Hast du noch Hoffnung auf eine positive Rückmeldung?“ „Ehrlich gesagt, nein. Ach Jördis, was soll ich nur tun? Ich habe alles versucht. Es muss doch irgendwie möglich sein, das Buch drucken zu lassen!“ Jördis legte mir eine Hand auf die Schulter. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie erwiderte: „Es gibt da etwas, das ist wie eine Art Verlag. Schon mal was von ‚Books Selfmade‘ gehört? Du kannst dort verschiedene Leistungen kaufen – Lektorat, Design, ISBN und solche Dinge. Dann legst du eine Exemplarzahl für den Erstdruck fest. Du zahlst einen Pauschalpreis pro Buch, den Verkaufspreis suchst du dir danach einfach selbst aus, wobei er nicht viel höher sein wird, aber Grundkosten hast du keine, abgesehen von den Leistungen, die ich aufgezählt habe.“ Ich überlegte kurz. „Okay, ein echter Verlag ist das zwar nicht, aber inzwischen ist mir jedes Mittel recht. Kann man da auch eine zweite Auflage drucken lassen?“ Jördis nickte erfreut. „Na klar, jederzeit. Du musst eben die Bücher käuflich erwerben, sooft und so viele du willst.“ „Wie erreicht man diese Firma?“
„Per Internet.“ Jördis reichte mir einen Zettel, den sie aus ihrer Tasche hervorgekramt hatte. Darauf standen die Adresse einer Website sowie eine Telefonnummer für weitere Rückfragen. Strahlend umarmte ich Jördis. Sie war eben eine echte Freundin! Ich bedankte mich auf das Herzlichste bei ihr, doch vor lauter Verlegenheit drängte sie rasch zur Umkehr. Mein Puls war gefühlt doppelt so hoch wie normal, als wir das Ufer erreichten. Obwohl ich mich bemühte, meine Aufregung zu verbergen, schien Jördis zu spüren, dass ich schleunigst nach Hause wollte. Zum Glück konnte ich sicher sein, dass sie mir deshalb nicht böse war. Sie war zu Fuß gekommen, daher trennten sich unsere Wege nach dem Verlassen des Strandes.
Ich war auf dem Hinweg schon verhältnismäßig schnell gefahren, aber nun hatte ich den Eindruck, beinahe Lichtgeschwindigkeit zu erreichen. Auf dem Weg in mein Zimmer warf ich lediglich ein knappes „Wieder da!“ in die Küche.
Sofort startete ich meinen Laptop. Noch befand er sich an seinem angestammten Platz auf dem Schreibsekretär, doch in den nächsten Tagen würde ich ihn wohl wieder mit nach draußen nehmen. Sobald der Computer fertig hochgefahren war, öffnete ich das Internet und wühlte Jördis‘ Zettel aus meiner Tasche hervor. Ohne zu zögern, tippte ich die darauf angegebene Adresse in die URL-Leiste ein. Ich wartete gespannt. Als die Seite endlich geladen war, wusste ich gar nicht, wo ich zu lesen anfangen sollte: Die Fülle an Informationen drohte mich schier zu erschlagen. Es war bereits stockdunkel, als ich den Laptop zufrieden wieder ausschaltete. Ich hatte die Hoffnung auf Zusagen endgültig aufgegeben, daher würde ich schon morgen mein Manuskript an „Books Selfmade“ schicken und ein paar erste Bücher anfordern.
09. 07. 2010, Xaver
Magisch. Dieser Plan ist einfach magisch. Ja, göttlich angehaucht, entworfen von mir. Alt ist Vater, zu alt, ein Greis, wehrlos. Mein Vorbild: Maximilien Robespierre. Es geht los.
Ja, ich werde mich an das Schema halten, jedoch wird es nach meinen Regeln gestaltet. Oh, himmlisch! Ich habe heute bereits versucht, meinen Bruder Jacob einzuschüchtern. (Mir ist bewusst, dass das Aufgabe meines Vaters gewesen wäre, da ich ihn als Ludwig XVI. betrachte, doch das war schwer realisierbar, daher sprang ich selbst ein.) Er hatte Pläne für den Umbau der Höhle.
Nach dem jetzigen Stand wäre das natürlich unausweichlich, aber so weit wird es MEIN Plan nicht kommen lassen. Ich habe ihm gedroht, ihn in Pension zu schicken. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass er mir glaubt. Nun, Vater würde meine Gründe auch nie akzeptieren, zumal Jacob erst 56 Jahre alt ist. Dennoch, Jacques Necker, der französische Finanzminister, war damals ebenfalls 56 Jahre alt und ließ sich am heutigen Tage vor 221 Jahren nicht einschüchtern. Insofern ist also kein Problem aufgetreten.
In wenigen Tagen liegt die Höhle in meiner Hand. Vater wird machtlos sein, am 14. Juli setze ich seiner Herrschaft endlich ein Ende! Ganz ehrlich: Der Buchmarkt ist doch überfüllt. Wenn die Höhle erst meiner Aufsicht untersteht, werde ich gründlich ausmisten. Die großen Werke lasse ich natürlich bestehen – diejenigen, die ICH für groß halte. Bitte, Goethe oder Dante benötigt die Menschheit nicht!
Es ist so leicht, so unglaublich leicht. Nur dieses lächerliche Erstexemplar muss ich zerstören und schon ist die Welt gereinigt von der ganzen Geschichte. Jawohl, eigentlich sollte ich genau das verhindern, doch es wird mich ungeachtet dessen niemand davon abhalten können! Denn ich beherrsche Magie!
09. 07. 2010, Marek
Dies ist der Beginn meines Tagebuchs. Ich weiß, wenn jemand davon erfährt, hab ich den Stempel „uncool“ auf der Stirn. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit mehr. Irgendwo müssen meine Gefühle eben hin, ich kann sie nicht ewig in mich hineinfressen.
Es ist nämlich so: Seit einigen Wochen schon bekomme ich so ein komisches Gefühl im Bauch, wenn ich Cornelia treffe. Sie ist etwa zwei Jahre jünger als ich, kommt jetzt also in die neunte Klasse, und fährt mit dem gleichen Schulbus wie ich. Soweit ich das erkennen kann, ist sie sehr gut mit Jördis aus meiner Klasse befreundet. Na ja, jedenfalls … je länger ich sie beobachte, desto stärker wird dieses Gefühl. Es vereinnahmt mich richtig. Ich habe festgestellt, dass ich sie sehr gern habe. Sie macht oft einen verschlossenen Eindruck; ich glaube, in ihrer Klasse hat sie kaum Freunde. Das ist aber gut, denn diese Klasse ist voller Idioten.
Insgesamt scheint sie lieber mit Älteren zusammen zu sein. Das passt also auch gut. Meistens guckt sie irgendwie traurig oder ärgerlich – ich mag diesen Blick –, aber in Jördis‘ Gegenwart habe ich sie schon öfter lachen sehen. Auch das mag ich. Heute habe ich mich endlich getraut, Jördis zu fragen, warum Cornelia immer so traurig aussieht. (Woher ich den Mut nahm, weiß ich nicht, vielleicht war ich so beschwingt vom Ferienbeginn.) Sinngemäß lautete ihre Antwort etwa so: „Das merkt sie meistens gar nicht.
Aber es stimmt schon, eine gewisse soziale Störung kann man ihr nicht absprechen. Das weiß sie selbst. Hat man sich aber erst einmal mit ihr angefreundet, merkt man davon fast nichts mehr.“
Was könnte das wohl für eine Störung sein? Ein Autist ist sie jedenfalls nicht. Die verhalten sich anders, glaube ich. Depressionen scheint sie auch nicht zu haben. Theoretisch könnte eventuell sogar eine Essstörung schuld sein, ich weiß es nicht, aber das würde man doch sehen! Es nützt nichts, zu spekulieren. Ich habe keinen Schimmer, woran es liegt, und ehrlicherweise muss ich wohl gestehen, dass es mich im Grunde gar nichts angeht. Obwohl ich es irgendwie als anziehend empfinde … es ist ja doch etwas Besonderes, oder nicht? An meinen Gefühlen ändert es zumindest nichts. Na gut, vielleicht verstärkt es sie sogar. Da bin ich zugegebenermaßen etwas unentschlossen.
In einer Sache jedoch bin ich mir nun ziemlich sicher, mindestens seit ich Cornelia heute vor der Schule sah: Ich fürchte, ich habe mich verliebt.
gez. Marek