Kitabı oku: «Xaverna», sayfa 3
Schon nach wenigen Schritten hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Allerdings besserte sich meine Laune stetig; das Erlebnis kam mir bereits so unwirklich vor, es taugte tatsächlich hervorragend für eine gute Story. Nun, hier ist sie, wobei ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen konnte, dass der beste Teil erst noch bevorstand. Aus unerklärlichen Gründen tauchte plötzlich die Melodie eines Liedes aus meiner Kindheit in meinem Kopf auf. Ich versuchte, sie einzuordnen, bis mir endlich einfiel, dass sie von einer Petterson-und-Findus-CD stammte, die Janis einmal zum Geburtstag bekommen hatte. Mit einem Schlag erinnerte ich mich auch an den Anfang des Textes. Beschwingt begann ich – vermutlich ohne auch nur einen einzigen Ton richtig zu treffen, aber es hörte ja niemand zu – zu singen: „Man nehme Eier aus dem Stall, Mehl auf jeden Fall, Zucker, Milch und Salz und Butter ebenfalls und für die Füllung Sahneschnee … “ Weiter kam ich nicht. Verflucht, was folgte denn nur? Einige Sekunden lang war ich aufrichtig verärgert darüber, nicht mehr den gesamten Text im Kopf zu haben (die Melodie summte ich natürlich weiter), bevor mir bewusst wurde, wie albern das Ganze doch war. Ich lief allein durch einen mysteriösen dunklen Gang und sang von Kater Findus‘ Geburtstagstorte! Zwar schüttelte ich darüber den Kopf, verstummte jedoch nicht. Zu wohltuend war es, mit Hilfe dieser Ohrwurmmelodie die gute Laune zu nähren. Ohne es zu merken, fing ich an, im Takt auf und ab zu wippen, ja beinahe schon zu hüpfen. Dies fiel mir erst auf, als die Decke des Tunnels wieder tiefer wurde und ich gerade voller Elan im Aufschwung war. Meinen Fahrradhelm hatte ich leider beim Rad gelassen.
Das Rad!, schoss es mir durch den Kopf. Hatte ich es angeschlossen? Wahrscheinlich nicht. Oh je, hoffentlich war es noch da! Ich hatte wenig Lust, den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Zudem war ich auch nicht sehr scharf darauf, Dad zu erklären, warum ich ein neues Fahrrad benötigte … genug der Schwarzmalerei! An dieser Biegung wurden üblicherweise keine Räder gestohlen … oder? Ich unterbrach diese Gedanken, sie führten ja doch zu nichts.
Als der Tunnel auf Kriechhöhe schrumpfte, sang ich glücklicherweise gerade nicht, sodass ich rechtzeitig auf die Knie ging. Der Rest des Weges erschien mir deutlich kürzer als beim ersten Mal, andererseits war ich nun auch weniger erwartungsvoll. Einmal abgesehen von der Sache mit dem Fahrrad. Vielleicht war ich deshalb so überrascht, als ich ins Freie und damit mitten hinein in die Dämmerung kroch. Erschrocken sah ich auf die Uhr. Tatsächlich, kurz vor halb zehn.
Kapitel 4
Mein erster Gedanke war: Was um alles in der Welt hat da drinnen derart viel Zeit gekostet? Dicht gefolgt von: Hoffentlich hat mich niemand vermisst! Nervös fummelte ich mein Handy aus der Tasche. Wie vermutet hatte ich in der Höhle kein Netz gehabt: ein verpasster Anruf von Jördis, drei von Janis. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zurückzurufen, verwarf ihn jedoch recht schnell wieder. Ich würde ihnen das Ganze bald erklären, doch im Moment wollte ich meine Eindrücke noch allein genießen.
Entschlossen packte ich das Handy wieder ein. Bevor ich mich aber auf den Weg zu meinem Rad machte, kontrollierte ich gewissenhaft die Wurzel. Ich wollte nicht, dass fremde Menschen mein Geheimnis entdeckten. Zufrieden stellte ich fest, dass der Mechanismus sich selbstständig hinter mir geschlossen hatte.
Beruhigt stapfte ich durch den Sand. Die Luft war ziemlich abgekühlt und vom Meer her wehte ein frischer Wind – lächelnd dachte ich an den Staub –, der eine Gänsehaut über meine Arme wandern ließ. Ich beschleunigte meine Schritte, sodass ich innerhalb weniger Minuten an der Wegbiegung eintraf. Gott sei Dank – mein Rad lehnte noch am Zaun! Erleichtert seufzte ich auf, schnallte mir den Helm fest, schwang mich auf den Sattel und trat kräftig in die Pedale. Zu meiner großen Freude war der Damm um diese Uhrzeit so gut wie menschenleer, wodurch ich ungestört mein zügiges Tempo beibehalten konnte.
Als ich Koserow erreicht hatte, machte ich den großen Fehler, mich für den Waldweg zu entscheiden. Ich war so schon erledigt genug, da hätte ich mir diese elenden Berge wahrlich ersparen können. Genau genommen nicht nur die Berge.
Gerade als ich mich den letzten hinaufquälte – natürlich nicht in besonders hohem Tempo – begegnete mir die Schupanirak. Meine gute Laune versteckte sich augenblicklich hinter einer Wand aus Ablehnung.
„Hallo, Cornelia!“, rief Frau Schupanirak euphorisch. Am liebsten wäre ich einfach weitergefahren, aber in dem Versuch auch einmal höflich zu sein, hielt ich an. „Abend.“
„Was treibst du denn zu dieser späten Stunde noch hier?“ Das Gleiche könnte ich Sie fragen! „Hatte was zu erledigen.“ „Ach so, ach so, vielbeschäftigt die Jugend von heute, ja ja. Nun, heute ist übrigens der 11. Juli, weißt du, was an diesem Tag alles passiert ist?“ Ich wette, Sie wissen auch nicht alles. „Nein, meine Geschichtslehrerin muss wohl versäumt haben, das in ihrem außerordentlich brillanten Unterricht anzubringen!“ Frau Schupanirak verzog das Gesicht, Vorwurf lag in ihrem Blick. „Du magst es kaum für möglich halten, doch ich erkenne Ironie, liebe Cornelia!“ „War aber keine“, gab ich zurück und dachte bei mir, dass ‚Sarkasmus‘ der treffendere Ausdruck war. Erstaunlicherweise überging Frau Schupanirak die Bemerkung, indem sie sagte: „Nun, im Jahre 1789 war der 11. Juli aufgrund der Entlassung des Finanzministers Jacques Necker durch Ludwig den XVI. ein wichtiger Tag in Hinblick auf die folgende Französische Revolution.“ „Das ist alles? Scheint ja ein ziemlich ereignisarmer Tag zu sein, und das, obwohl er mitten in einer Revolution lag … “ Mir war durchaus bewusst, dass das etwas provokant war, doch ich war das quälende Geschichtsgeschwafel einfach leid. Frau Schupanirak räusperte sich umständlich, bevor sie verkündete: „Ich verbitte mir diese Frechheiten, auch in den Ferien!“ „Ich verbitte mir Ihre Geschichtsvorträge, besonders in den Ferien!“ Nun blieb ihr tatsächlich einen Moment lang die Luft weg, bevor sie mit übertrieben gesenkter Stimme drohte: „Du weißt, dass ich es nicht weit habe, wenn ich einmal mit deinem Vater sprechen möchte!“ Vermutlich wäre das der richtige Moment zum Einlenken, für eine Entschuldigung gewesen, doch ich wollte ihr diesen Triumph nicht gönnen. „Je schneller Sie da sind, desto eher wird er Ihre Hoffnungen auf Zustimmung zerstören.“
Das war Quatsch, er legte viel Wert auf seine gute Erziehung – zu viel –, aber darum konnte ich mich später kümmern. Ohne ein Wort der Verabschiedung ließ ich Frau Schupanirak einfach stehen. Wenn ich es auch nur ungern zugab, hatte mir die kurze Pause doch insofern geholfen, als dass ich nun etwas schwungvoller den Rest der Strecke zurücklegte. Binnen weniger Minuten stieß ich die Haustür auf. „Cornelia?“, rief Janis von oben. „Bist du es?“
„Ja! Moment, ich bin gleich da!“ Hastig eilte ich in mein Zimmer, stellte meine Sachen ab und lief hinüber zu Janis. „Wo warst du denn? Mama und Papa haben sich schon Sorgen gemacht. Na ja, ich ehrlich gesagt auch.“ Mein Bruder blickte mich mit großen Augen an, während er leicht errötete. „Mh, tut mir leid. Ich hab einfach die Zeit vergessen, verstehst du? Wo sind Mum und Dad denn jetzt?“ „Ja, die sind mit irgendwelchen Bekannten bei Kelch’s drüben. Ich glaube, es geht um David.“
„Bei Kelch‘s?“
„Na, Karlsstraße, Dornhaisuppe, Seezunge, sympathische Kellnerin … “
„Ja ja, schon klar. Ich meine, wegen Nachhilfe?“ Als ob es auf unserer Insel Personen geben konnte, die mit Kelch‘s Fischrestaurant nichts anzufangen wussten! Janis nickte. „Auch. Aber genauso allgemein … Erziehungsprobleme eben.“ „Schwänzen, Alkohol?“
„Sie haben Zigaretten in seinem Zimmer gefunden.“ Ich runzelte die Stirn. Was um alles in der Welt dachte David sich dabei? „Ist er zu Hause?“ „David? Ja, der hat doch Hausarrest. Wegen gestern, da war schon wieder Party bei Maik.“ „Oh. Okay. Meinst du, wir beide können ihm irgendwie helfen?“ „Du kannst ja mal mit ihm sprechen. Ich finde, dir sollte er vertrauen.“ Gut, einen Versuch war es wert. Wenn es zwecklos war, kostete es mich sowieso höchstens fünf Minuten, also warum nicht? Ich begab mich nach nebenan in Davids Reich. „Hi, David.“ „‘n Abend.“ David saß, wie nicht anders zu erwarten, in seiner typischen Zockerhaltung vor der Playstation. Sein Gesicht war verkrampft, während er augenscheinlich in einem ultragefährlichen Kriegsgeschehen mitmischte. „Du bist Skater und Fußballer.“
„Das weiß ich selbst, was willst du?“ „Sportler rauchen und saufen nicht.“ „Leck mich.“ „Aber einen Schulabschluss brauchen sie … “ „Hau ab!“
Seufzend lehnte ich mich gegen den Türrahmen. „Du bist doch süchtig nach dem Kram.“ „Laber keinen Scheiß. Mir geht’s super. Ich zocke nur den ganzen Tag, weil ich zum Skaten und so eben rausgehen müsste, klar?“ „Wenn du lieber skaten würdest, wie wäre es dann, einmal zu überlegen, warum du es nicht darfst?“ „Jetzt verpiss dich endlich!“, knurrte David, während er drei Gegner auf einmal niederstreckte. Diesmal harrte ich nicht länger aus, sondern zog mich in mein Zimmer zurück, nachdem ich Janis den Misserfolg gemeldet hatte. Einen Moment lang lehnte ich unentschlossen am Fensterbrett und starrte hinaus in die Dunkelheit. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich noch nicht bereit, das Erlebte niederzuschreiben. Doch ebenso wenig hatte ich Lust auf ein spannendes Buch. Stattdessen schlüpfte ich in meine Heimsportsachen und machte es mir auf der Rudermaschine bequem. Dad riet uns stets von Sport am Abend ab, aber eine Runde auspowern war jetzt genau das, was ich brauchte. Einfach mal abschalten. Ich startete das mittelschwere Programm. Nach meinem Trainingsstand sollte ich zwar längst auf der höchsten Stufe rudern, doch ich war schließlich immer noch ein Mädchen, kein Bodybuilder, und nutzte das Gerät lediglich zum Spaß.
So auch jetzt. Und Spaß hatte ich dabei wirklich. Meine gesamte Konzentration war auf die gleichmäßigen Ruderschläge gerichtet, alle störenden Alltagskonflikte blendete ich rigoros aus. Es war beinahe 23 Uhr, als ich erschöpft die Arme sinken ließ. Nun war es genug der Anstrengung für einen Tag! Am liebsten hätte ich mich sofort ins Bett geworfen, allerdings spürte ich, dass mein Magen damit absolut nicht einverstanden war.
Ich überlegte. Etwas Herzhaftes sollte es sein, nicht zu wenig, nicht zu viel, in spätestens 15 Minuten fertig. Da würde ich im Kühlschrank nichts finden. Aber der Bäcker an der Ecke, dessen Inhaber gerade gewechselt hatte, bot doch 24 Stunden am Tag Fischbrötchen an!
Eilig spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und unter die Achseln, warf meine Jacke über und marschierte los. Die Luft war nächtlich kühl, was ich in diesem Moment sehr zu schätzen wusste. Nicht nur die Frische genoss ich während meines kleinen Spaziergangs, sondern auch die wohltuende Klarheit. Hm, Seeluft! Ich würde ihrer niemals leid werden.
Beim Bäcker herrschte um diese Nachtzeit kein Andrang, sodass ich mich schnell wieder auf dem Rückweg befand. Die Tüte mit den zwei Fischbrötchen schwenkte ich gut gelaunt durch die Gegend. Auf einmal spürte ich einen scharfen Luftzug am Kopf. Meine Haare flogen in alle Richtungen. Ein eisiger Wind fuhr mir mitten ins Gesicht, welches ich mit einer Hand zu schützen versuchte.
Zu dem Brausen des Windes gesellte sich ein Zischen, untermalt von Flügelschlagen. Der Lärm schwoll stetig an. Papageien, schoss es mir durch den Kopf, und gleich darauf: Unsinn! Wenn, dann Möwen! Der noch logisch denkende Teil meines Gehirns sagte mir deutlich, dass es hier gar keine Papageien gab, doch mein Gefühl widersprach ihm völlig. Es störte sich auch nicht daran, dass die Papageien düster und grau wirkten. Inzwischen glich das Zischen einem Donnergrollen. Zudem war es stockfinster geworden, sodass ich anhalten musste, um nirgends dagegen zu laufen. Mit einem Mal verstummten die vorher beängstigend lauten Geräusche. Stattdessen legte sich ein Flüstern in meine Ohren: „Es ist kein guter Ort, nicht mehr! Kehre nicht dorthin zurück! Setze dich nicht erneut dieser Gefahr aus! Du bist dort unerwünscht! Nimm dir diesen Rat zu Herzen!“ Ich war wie gelähmt vor Schreck. Musste so viel Verwirrung an einem einzigen Tag wirklich sein? Was meinte die Stimme für einen Ort? Die Höhle? Da war nun rein gar nichts Gefährliches gewesen. Andererseits konnte ich mir auch keinen anderen Reim darauf machen …
Während mir diese Gedanken durch den Kopf rasten, löste sich die schwarze Wolke um mich herum langsam auf. Nur zögerlich setzte ich meinen Heimweg fort. Der Appetit auf die Fischbrötchen war mir jedenfalls vergangen.
Trotzdem schlang ich sie zu Hause gierig hinunter, um meinen Magen zu beruhigen. Es war beinahe Mitternacht, als ich wieder die Treppe hinaufstieg. Janis schlief offensichtlich schon, bei David brannte noch Licht. Einen Moment lang erwog ich, ihn dezent auf die Uhrzeit hinzuweisen, verwarf die Idee jedoch schnell wieder. Rein aus Provokation würde er dann gar nicht mehr ins Bett gehen.
Ganz im Gegensatz zu mir, denn meine Augen drohten bereits zuzufallen. Ich begnügte mich im Bad mit dem Nötigsten, sodass ich wenige Minuten später bereits unter meine Decke kroch. Zu meinem großen Leidwesen war zumindest meine geistige Müdigkeit mit einem Mal verflogen. Gedanken an das Erlebnis auf dem Heimweg marterten mein Gehirn, hinderten mich am Einschlafen.
Sollte ich die Drohung ernst nehmen? Ich wollte aber partout nicht auf die Höhle verzichten, schon allein wegen ihrer inspirierenden Wirkung. Auf der anderen Seite, vielleicht steckte doch etwas dahinter und es lauerten dort verborgene Gefahren?
Nur, was konnte das sein? Geister? Haha, wohl kaum. An solche Fantasiegespinste glaubte ich nicht. Wobei die schwarze Wolke mir ebenfalls sehr suspekt erschien. Hatte ich sie mir möglicherweise doch nur eingebildet? Eine blühende Fantasie hatte ich schon, aber doch nicht so stark! Dachte ich jedenfalls bisher. Wenn nun aber alles echt gewesen war, dann bedeutete das ja … weiter kam ich nicht mehr, bevor mich der Schlaf endlich übermannte.
11. 07. 2010, Xaver
Heute war ein Mädchen in der Höhle. Ich war nicht zugegen, aber Vater hat es mir erzählt, weswegen ich die Aufnahmen meiner geheimen Überwachungskameras geprüft habe. Stundenlang ist sie durch mein Reich gegeistert! Ich frage mich ernsthaft, wie sie den Eingang gefunden hat. Sie darf nicht wiederkommen!
Macht meiner Warze habe ich ihr graue Papageien geschickt, als Warnung. Vielleicht lasse ich morgen noch etwas anderes folgen, das muss ich erst sehen. Auf dem Weg nach draußen, im Tunnel, hat das Mädchen gesungen. Ein Kinderlied, herrlich schräg.
Aber ihr ist nicht der gesamte Text eingefallen. Recht seltsam erscheint mir das. Denn ein Kind ist sie wahrlich nicht mehr, warum also singt sie Kinderlieder? Wie dem auch sei, ich werde sie dank meiner Magie schon abschrecken. Dass von ihr eine Gefahr ausgeht, glaube ich nicht. Daher also nun zu dem spannenderen Thema. Heute war der 11. Juli, es war also Zeit für eine Entlassung. Haha! Ich halte mich an die Vorgaben! Gut, eigentlich wäre auch das Aufgabe meines Vaters gewesen, doch wie gehabt sprang ich notgedrungen als Vertretung für ihn ein. Natürlich gab es nur eine Person, die zu entlassen überhaupt möglich war – mein guter Bruder. Entsprechend hatte ich bereits vorgearbeitet, mit der Androhung des Ruhestandes. Ja, er war kein Minister, aber zumindest sind die Finanzen sein Steckenpferd. Und da Vater sowieso nicht mehr lange durchhält und ich mit Sicherheit kein Hoffnungsträger bin, ruhten alle Hoffnungen der Bücher (sie nämlich stellen mein Volk dar) auf ihm. Passenderweise hieß er ja auch noch Jacob. Wenn das nicht mit Jacques Necker harmoniert! Mich für meinen Teil amüsiert diese Parallele. Planmäßig überraschte ich ihn beim Mittagessen, welches er wie üblich spät einnahm. Sicher, er war dabei allein und ich musste den Gang persönlich erledigen, doch so genau nehme ich das nicht. Auch gab ich ihm keinen Brief, der seine Entlassung verkündete. Denn wie hätte ich es anders anstellen sollen, als ihn zu eliminieren, wo er doch ein Eingeweihter war? Keine Hürde, selbstverständlich nicht. Seinen Körper habe ich dezent in den Räumlichkeiten von Vater verwahrt, wo ich ihn bei der nächsten Reinigung „finden“ werde. Niemand hat etwas bemerkt, wer auch. Alles läuft nach Plan. Ah, drei Tage noch, dann ist der große Augenblick gekommen!
Um diesen würdig vorzubereiten, habe ich heute endlich den neuen Stempel angefertigt! Anstelle von „Caverna librorum“ wird von jetzt an der Schriftzug „Xaverna“ auf der ersten Seite eines jeden Buches zu finden sein. Damit werden meine Verdienste rund um die Höhle der Bücher für all meine Nachfolger in diesem Amt gut ersichtlich und stets präsent sein, was mir ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit verschafft.
12. 07. 2010, Xaver
Ich habe das Mädchen von gestern mithilfe der Warze beobachtet. Eine Radtour mit dem kleinen Bruder, welch putzige Idee! Verständlicherweise gönnte ich ihr die Harmonie nicht, ein bisschen Spaß muss schließlich sein! Ein paar Blätter haben völlig ausgereicht, um sowohl ihr als auch dem Bruder die Fassung zu rauben. Vielleicht war die Anspielung auf die Papageien der Nacht etwas zu deutlich, aber eine Warnung zu viel ist besser als eine zu wenig. Hauptsache, sie hält sich nun von hier fern! Ich werde die Beobachtung nicht einstellen, obwohl ich nach wie vor nichts befürchte.
Doch natürlich steht es mir nicht offen, meine kostbare Zeit zu großen Teilen diesem Kind zu widmen. Nein! So viel Wichtigeres gibt es zu tun, stecke ich doch mitten in einer Revolution! Der 12. Juli war heute, ein ereignisreicher Tag in der Geschichte, so viel ist gewiss. Demnach hatte auch ich alle Hände voll zu tun, den Vorgaben gerecht zu werden. Der erste nennenswerte Schauplatz des Tages war das Palais Royal. Genügt nicht allein der Name, um die Erkenntnis zu gewinnen, dass dies gut und gern durch die Höhle symbolisiert werden kann? Nun sollte sich die Nachricht über Jacobs „Entlassung“ verbreiten, jedoch fand ich keinen Sinn darin, den Büchern davon zu berichten.
So ließ ich es denn bleiben. Ohnehin ist dies nicht möglich, denn mein Volk (die Bücher!) befand sich ja bereits in unserem Palais Royal. Wenn sie hier auch keinen Tumult veranstalten können, viele sind es allemal. Meines Erachtens deckten sie das Kontingent auch der Aufständischen in der Pariser Oper (welche hier bedauerlicherweise nicht existent ist) und in den Tuilerien ab. So weit, so gut. Das Volk gewinnt an Macht, die Soldaten sind orientierungslos oder fliehen. Gut, hier ist kein Soldat, aber es läuft doch alles auf das Gleiche hinaus. In der Realität floss Blut, ja, doch wie sollen Bücher und nicht vorhandene Soldaten bluten? Dennoch hielt ich mich an die Vorgaben und erzählte die schaurige Geschichte des Massakers. Leider habe ich trotzdem keine Deserteure zu bieten, aber derart viele Details sind ohnehin Zeitverschwendung.
Es folgte zum krönenden Abschluss im Rathaus, würdig vertreten durch mein Arbeitszimmer, die Organisierung der Revolte. Gewehre brauchte ich dazu glücklicherweise nicht zu verteilen. Dennoch steht außer Frage, dass ein arbeitsreicher Tag hinter mir liegt. Diese unzähligen Aufstände und Volkserhebungen sind eben schwer zu beherrschen! Jedoch ist es die Mühe selbstverständlich wert, so kurz vor dem Erreichen meines großen Ziels!
Oh, oh, nur noch zwei Tage!
11. 07. 2010, Marek
Spanien ist soeben Fußballweltmeister geworden. Ich habe das Spiel geschaut, na ja, zumindest saß mein Körper vor dem Fernseher. Geistig war ich völlig abwesend. Leider, denn es soll spannend gewesen sein. Noch immer spukt mir das Bild von gestern im Kopf herum. Gleichzeitig bedaure ich es zutiefst, kein Foto von Cornelia zu haben. Und wenn es nur etwas wie ein Klassenfoto wäre, damit könnte ich schon glücklich sein. Doch es ist sinnlos, solange ich diesen Wunsch bloß still mit mir herumtrage, wird er sich nicht erfüllen. Andererseits fühle ich mich noch nicht bereit, mich jemandem anzuvertrauen. Wem denn auch? Meinen Eltern vielleicht? Mann, ich bin ein 16-Jähriger, schlimm genug, dass ich Tagebuch führe!
Maria? Na ja, sie ist meine Schwester, aber zu jung, um das zu verstehen und mir zu helfen. Marlon? Ja, der kennt sich wenigstens aus mit seinen 19 Jahren Lebenserfahrung. Aber ich müsste ihn anrufen, am Telefon bespricht man so etwas nicht. Jemand vom Fußball? Das wäre peinlich. Eigentlich bleibt nur Cornelia selbst übrig. Ich werde mich wohl endlich überwinden müssen. Es ihr sagen. Irgendwie hat sie ja auch ein Recht darauf, davon zu erfahren, oder?
gez. Marek
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.