Kitabı oku: «Radikal gelebte Meisterschaft», sayfa 3
KAPITEL 4
Der Brillanz-Kreislauf
Wir wollen uns jetzt genauer damit beschäftigen und den Mechanismus betrachten, durch den es uns immer vertrauter wird, originale Gedanken aufzugreifen, wenn sie als frischer Impuls aus dem reinen Bewusstsein erscheinen.
Es gehört eine ganze Menge dazu. Es ist nicht nur eine Sache von „sich hinsetzen und eine bestimmte Technik für zehn Minuten am Tag anwenden“. Radikale Brillanz erfordert eine Kombination von Mechanismen, zu denen nicht nur eine Reihe verschiedener Praktiken gehört, die in verschieden Phasen anzuwenden sind, sondern auch ein tiefes Verständnis, warum unsere Kreativität blockiert ist und wie wir sie wiederherstellen können. Viele der Gewohnheiten, die wir von religiösen und philosophischen Traditionen, von unserem politischen und sozialen System und unserer Erziehung übernommen haben, stören auf die eine oder andere Weise den freien Fluss ursprünglichen kreativen Ausdrucks.
Seit fast 25 Jahren leite ich Menschen dazu an, ihre „einzigartige Gabe“ zu entdecken und auszudrücken. Während dieser Zeit habe ich festgestellt, dass der Mechanismus, der leichten, wiederholten Zugang zu ursprünglichen Gedanken ermöglicht, kein einzelner ist, sondern ein Ablauf, der ständig wiederholt werden muss. Um das zu erklären, benutze ich als Analogie das Zifferblatt einer Uhr, mit 12:00 Uhr oben, 3:00 Uhr rechts, 6:00 Uhr unten und 9:00 Uhr links. Diese Analogie impliziert praktischerweise, dass eine unendliche Anzahl von Punkten zwischen den Polen liegt, sodass wir ein schrittweises, kontinuierliches Vorrücken erkennen können.
Wenn wir verstehen wollten, was ein gutes Leben ausmacht, würden wir nicht sagen, dass Wohlbefinden nur vom Frühstück abhängt. Sicher ist es wichtig, gut zu frühstücken. Aber es gehört noch mehr dazu, um glücklich, gesund und erfolgreich zu sein. Wir würden auch nicht sagen, dass es für ein gutes Menschenleben reicht, auf die Toilette zu gehen. Klar, wenn man gar nicht mehr auf die Toilette gehen würde, würde man schnell gesundheitliche Probleme bekommen. Aber es gehört mehr zum Leben als Stuhlgang. Zu einem guten Menschenleben gehört Freund schaft ebenso wie Einsamkeit, Sport ebenso wie Schlaf, konzentrierte Arbeit genauso wie Zeit zum Entspannen und Erholen. Gut zu leben bedeutet nicht, sich auf einen Aspekt zu konzentrieren, sondern die gegensätzlichen Dinge gleichermaßen zu berücksichtigen und in Balance zu bringen. Ein gutes Leben ist wie ein Kreislauf, in dem jede Phase gleich wichtig ist. Wenn du den Schlaf auslässt, wirst du deine wachen Stunden nicht voll genießen können. Wenn du dich nicht aktiv für etwas engagierst, wirst du wahrscheinlich nicht besonders gut schlafen.
Genauso gehört zu den Komponenten, die zusammen die Fähigkeit ausmachen, Zugang zu ursprünglichen, kreativen Gedanken zu haben und sie zum Ausdruck zu bringen, jeder Aspekt des Kreislaufs, nicht nur ein Teil. Wie beim Wachen und Schlafen werden wir feststellen, dass die Elemente des Brillanz-Kreislaufs gegensätzlich zu sein scheinen und einander widersprechende Ziele zu haben scheinen.
Wir gehen jetzt die verschiedenen Phasen des Kreislaufs durch und erfahren die wichtigsten Merkmale jeder einzelnen. In nachfolgenden Kapiteln werden wir verstehen, warum wir sowohl Widerstände gegen als auch besondere Neigungen für verschiedene Phasen des Kreislaufs haben und inwiefern das problematisch für wahre Originalität ist. Wir werden außerdem viele Übungen und Regeln kennenlernen, die uns helfen, den Kreislauf jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr und auch während des ganzen Lebens als kreatives Projekt zu durchlaufen.
12:00 Uhr: Erwachen
Wir starten oben, um 12:00 Uhr. Darüber haben wir schon im vori gen Kapitel begonnen zu sprechen: die Fähigkeit, „reines Bewusstsein“ zu erlangen, den Zustand des Bewusstseins, in dem es nicht auf äußere Objekte fixiert ist. Die Frage ist, wo die Blasen auf dem Grund des ColaGlases entstehen. Woher stammt ein Gedanke, der nicht einem früheren Gedanken, einer Überzeugung oder Feststellung entsprungen ist, sondern zum ersten Mal aufkommt?
Du weißt, es gibt nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder bleibst du im Wiederholen recycelter Gedanken stecken, die wiederkäuen, was du gehört hast, einer zum anderen führend auf der Oberfläche des Sees, oder du lässt dich auf die größere Tiefe ein – du lernst, aufmerksam dort zu verweilen, wo Stille und die ersten Anfänge von Gedanken zusammentreffen.
12:00 Uhr ist im Kreislauf der Ort des Wachseins für das freie, reine Bewusstsein. Wir können es nennen, wie wir wollen, es gibt viele Bezeichnungen dafür. Es wird „wahres Wesen“, „reines Bewusstsein“, „Ursprung“ oder „Quelle“ genannt. Das wesentlichste Merkmal dieser Phase ist vielleicht, dass es keine Worte dafür gibt, dass es sich jenseits davon befindet. Aber um der Nomenklatur willen nennen wir es „Erwachen“.
Wenn wir diese Phase des Kreislaufs verstehen wollen, müssen wir uns mystischen Traditionen zuwenden und uns darauf verlassen. Ein Moment des Erwachens ist ein Moment, in dem die Aufmerksamkeit von der Gedankentätigkeit (und damit zugleich von der Zeit, denn wir erleben Zukunft und Vergangenheit nur in Gedanken) und dem reaktiven Gefühl zu dem wechselt, was sich der Gedanken gewahr ist. Gewahrsein von Bewegung ist bewegungslos. Gewahrsein von Lärm ist still. Gewahrsein von Grenzen und Einschränkungen ist in sich selbst grenzenlos.
Die Erkenntnis vom Wesen des Bewusstseins selbst, vom Wesen der Bewusstheit, des Gewahrseins, wurde in den mystischen Traditionen aller Kulturen an verschiedenen geografischen Orten und zu verschiedenen Zeiten erlangt. Jede religiöse Tradition hat ihren Ursprung in dieser Erfahrung der „Erweckung“ und des „Erwachens“.
Erwachen ist kein Weg zur Erleuchtung
Es gibt zwei unterschiedliche Vorstellungen von „sich auf einem Weg befinden“, die einen riesigen Unterschied ausmachen: entweder eine Rei se zu einem zukünftigen Zustand des Erwachtseins – oder die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was jetzt in diesem Moment schon erwacht und damit bewusst ist. Betrachtungsweisen, die aus der Vorstellung abgeleitet sind, auf einem Weg mit einem zukünftigen Ziel zu sein, unterscheiden sich grundsätzlich von jenen, die auf einer unmittelbaren Neugier an der Erfahrung des gegenwärtigen Moments beruhen.
Es handelt sich um zwei völlig verschiedene Sichtweisen, die leicht miteinander verwechselt werden. Ein Moment des Erwachens ist nur möglich, wenn wir die Annahme eines zukünftigen Zustands der „Erleuchtung“ aufgeben. Ansonsten ist unsere Aufmerksamkeit gefangen in der Erwartung eines zukünftigen Zustands oder der Vorstellung eines anderen angestrebten Zustands und nur ein Rest von Aufmerksamkeit bleibt neugierig auf das, was gegenwärtig wirklich ist.
Die Erkenntnis unseres „wahren Wesens“ kann als ein Zustand der Meditation gedacht werden. Die Bedeutung von Meditation wurzelt im Sanskritwort dhyana, was übersetzt „kein Geist/kein Verstand“ heißt und sich auf einen Zustand des Bewusstseins bezieht, in dem gesteigerte Wachsamkeit herrscht und Gedanken, die kommen und gehen, keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es bedeutet, die Aufmerksamkeit von geistiger Aktivität auf die Stille zu lenken. Es ist, als würde man die Aufmerksamkeit von den Wellen auf der Oberfläche des Ozeans auf das Nass des Ozeans selbst richten.
Das Wichtige an diesem reinen Bewusstsein ist, dass es keinerlei unterscheidende Eigenschaften hat, die in Zeit und Raum gemessen werden können. Es ist weder männlich noch weiblich, es hat kein Alter, weder ein Geräusch noch eine Vibration ist damit verbunden, es hat kein Glaubens system, keine Überzeugung und keine Präferenz. Es ist einfach bewusst.
Reines Gewahrsein zu erreichen ist weder angenehm noch schmerzlich. Manchmal widersprechen Menschen dieser Aussage und berichten, dass sie in der Meditation „glückselige Zustände“ erfahren hätten. Wir werden später noch sehen, warum das so sein kann. Im reinen Gewahrsein zu ruhen ist für die mentalen und emotionalen Vorgänge, die normalerweise unser Leben bestimmen, völlig belanglos. Diese sind auf Vergnügen (mehr Stoff, mehr Macht, mehr Sicherheit, mehr Intimität, mehr sexuelle oder emotionale Stimulation, mehr von fast allem, was die Ausschüttung von Dopamin und Serotonin im Gehirn anregt) und Vermeidung von Schmerz ausgerichtet (weniger Unsicherheit, weniger Schwäche, weniger Einsamkeit, weniger ungewollte physische und emotionale Erfahrung, die eine Vielzahl von Neuropeptiden im Gehirn anregen, die mit Schmerz verbunden sind).
Im Kreislauf ist 12:00 Uhr die Phase mit folgenden Merkmalen: flach, still, ruhig, leer, kein Ich-Gefühl, mühelos, keine Grenzen, unendlicher Raum, zeitlos (siehe die Skizze auf der nächsten Seite). Jedoch: Die genaue Beschreibung eines guten irischen Whiskeys kann niemals einen Tropfen auf der Zunge – den wirklichen Geschmack – ersetzen.
3:00 Uhr: kreativer Flow
Aus dem Nichts, aus unendlichem Raum und Stille sprießen ursprüngliche Impulse, die nicht das Ergebnis vorhergehender Gedanken und Entscheidungen sind. Subjektiv erscheint es, als würde man geduldig warten und zulassen, dass Impulse von selbst entstehen. Diese feinen Vibrationen beginnen eine Sekunde nach 12:00 Uhr und nehmen allmählich an Intensität und Schwung zu, während sie den ersten Teil des Kreislaufs durchlaufen. Der Höhepunkt kreativer Schwingungen ist um 3:00 Uhr erreicht.
Während 12:00 Uhr flach, still, geschlechtslos, ruhig und leer ist, herrscht um 3:00 Uhr nahezu grenzenlose Energie. Astrophysiker beschreiben den Urknall als ein Ereignis, bei dem aus dem Nichts unendliche Energie entsteht. Das ganze Universum wurde ursprünglich aus einer Explosion initiiert, die sich nicht in Zeit, Raum und Materie ereignete. Die unzähligen Sonnen, die wir als Sterne am Himmel sehen, sind nur kleine Funken der ursprünglichen Explosion. Das ursprüngliche Ereignis geschah aus dem Nichts und im Nichts, ohne Rohmaterial. So funktioniert auch Kreativität. Jedes Mal, wenn deine Aufmerksamkeit sich Leere nähert, wenn sie formlos wird, besteht die Möglichkeit, dass sich wieder ein Urknall im Bewusstsein ereignet und eine weitere brillante Galaxie hervorbringt.
3:00 Uhr ist die Phase maximaler Energie und auch die angenehmste des Kreislaufs. Es ist der Palast der Energie, der Freude, der Farbe, des Lachens und der unendlichen Vorstellungskraft.
Obwohl fast unendliche Energie herrscht, wird diese Phase als mühelos erfahren. Es gibt nichts, was „du“ tun musst, außer zu entspannen und sozusagen aus dem Weg zu gehen. Nichts scheint unmöglich. Alles entsteht von selbst. William Blake gilt als einer der produktivsten und genialsten Dichter englischer Sprache. Was uns von seinem Werk bleibt, macht jedoch nur ein Zehntel dessen aus, was er geschrieben hat, denn bevor er starb, verbrannte er 90 Prozent. Man sagt, Blakes Frau Catherine beobachtete, wie er nachts schrieb: Sie fand ihren Mann über den Tisch gebeugt, die Hand bewegte sich hektisch und schrieb automatisch. Das Buch von Urizen entstand auf diese Weise. Ich habe meine Abschlussarbeit in Cambridge darüber geschrieben: Es sind in Alliteration, Versmaß und Reim perfekt komponierte Gedichte, die nie redigiert wurden. Sie flossen ihm aus der Feder, er musste sich einfach nur hingeben und es zulassen. Wer aber schrieb sie dann? Genau das ist der Punkt.
Wenn Menschen von dieser Phase sprechen, betrachten sie es zu Recht nicht als persönliches Verdienst. „Ich habe nichts getan, ich habe nur den Weg frei gemacht und zugesehen, was geschieht.“ Wenn du geduldig wartest, fließt es durch dich hindurch. Eine meiner wichtigsten Lehrerinnen in dieser Hinsicht ist meine Frau Chameli. Sie reist um die Welt und lehrt Frauen die Grundlagen weiblicher spiritueller Praxis. Sie ist Wegbereiterin auf diesem Gebiet, hat in mehreren Filmen mitgewirkt, einen Tedx-Vortrag gehalten und wird von ihren Kolleginnen als Pionierin angesehen. Als jemand, der mit ihr zusammenlebt, weiß ich jedoch, dass ihre größte, am stärksten ausgeprägte Fähigkeit ist auszuruhen und nichts zu tun. Mehr als jeder, den ich kenne, versteht sie es, zu entspannen, ruhig zu sein und zu warten, die Dinge nicht zu pushen. Manchmal sagt sie: „Ich weiß, dass etwas Neues kommt, ich spüre es, ich gehe damit schwanger. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich weiß, es wird sich zur richtigen Zeit zeigen.“ Viele Menschen würden unter solchen Umstän den ungeduldig oder kopflos werden und versuchen, das Ganze voranzutreiben. Sie wartet. Schließlich, manchmal nach Monaten, ist die Zeit reif und sie schreibt mühelos einen kurzen Artikel und postet etwas bei Facebook, woraus plötzlich ein völlig neuer Tsunami ihrer Arbeit wie von selbst entsteht. Chameli weiß, wie man entspannt, sich der Bewegung hingibt und den Prozess nicht stört. Es beginnt als Kitzeln und die Kunst ist, nicht zu schnell zu kratzen, sondern zu warten und zuzulassen, dass es von allein wächst, bis es sich bewegt und deutlich genug ist, um zu sichtbarem und hörbarem Ausdruck zu kommen.
Im kaschmirischen Shivaismus wird das „Spanda“ genannt, was im Englischen oft mit „tremoring“ übersetzt wird: die erste feine Vibration. Zuerst ist Nichts – Ruhe – Leere, und dann die allererste Vibration. Sie entsteht wie der Urknall aus diesem Nichts. Jener Moment des ursprünglichen Impulses ist in alten tantrischen Texten wie der Spandakarika oft beschrieben und bestätigt worden. Unsere Aufgabe ist es, ihn aus eigener Erfahrung zu verifizieren.
Diese kleinste Vibration ist unendlich ekstatisch und köstlich. Sie hat so viel Energie, wie du dir nur vorstellen kannst. Unendliche Energie.
Je mehr sie körperlich wird, je mehr sie Form annimmt, desto weniger Energie hat sie. Eine atomare Explosion ist der Zusammenstoß zweier subatomarer Teilchen. Es ist ein Zusammenstoß, der sich auf submikroskopischer Ebene ereignet. Ein unendlich kleines Ereignis – zu klein, um im Mikroskop sichtbar zu sein – kann eine Stadt in die Luft sprengen. In dieser winzigen Begegnung ist unendliche Energie, genug, um eine Bombe zu erschaffen. Wir wollen keine Städte in die Luft sprengen, sondern Explosionen ursprünglicher, authentischer Kreativität auslösen. Auf der untersten materiellen Ebene entsteht am meisten Energie. Genau das geschieht, wenn wir uns von 12:00 Uhr nach 3:00 Uhr bewegen.
6:00 Uhr: Produktivität und Handeln
6:00 Uhr ist der Gegensatz zu 12:00 Uhr. Um 12:00 Uhr sind Stille und Ruhe, um 6:00 Uhr ist Aktivität. Um 12:00 Uhr gibt es kein Gefühl eines getrennten „Ich“, es gibt dort kein Gefühl von irgendjemandem. Um 6:00 Uhr wird gehandelt – es gibt Verantwortungsgefühl. Um 12:00 Uhr gibt es keine Zeit, um 6:00 Uhr gibt es Termine, Zeitpläne und Druck. Um 12:00 Uhr gibt es keine Grenzen, um 6:00 Uhr gibt es Limits. Um 12:00 Uhr herrscht Einheit, um 6:00 Uhr besteht die Möglichkeit der Zusammenarbeit, was Verhandlungen, Abmachungen und Verträge erfordert und daher potenziell Trennung und Konflikt mit sich bringt. Um 6:00 Uhr nimmt alles vollständig Form an. Um 12:00 Uhr gibt es kein Du. Um 6:00 Uhr gibt es Mann oder Frau mit menschlichen Körpern.
Jetzt beginnen wir, den Kreislauf zu verstehen: Um 12:00 Uhr herrscht Stille, dann ist da eine winzig kleine Schwingung, eine kaum hörbare Melodie, die immer deutlicher wird, bis sie um 3:00 Uhr vollständig fließt – du spielst die Melodie, sie ist vollkommen realisiert. Um 6:00 Uhr nimmst du die CD auf. Du buchst das Studio, besorgst das Geld, engagierst die Studiomusiker, machst einen Vertrag mit einem Musiklabel, hast einen Produzenten, arbeitest mit Zeit- und Terminvorgaben, stellst etwas auf die Beine. 6:00 Uhr bedeutet Absprachen, Verantwortung, Versprechen undKostenrahmen einhalten. Um 6:00 Uhr werden Dinge erledigt. Du buchst Flugtickets, gibst Geld aus, handelst unter bestimmten Rahmenbedingungen. Um 6:00 Uhr geht es nur um Grenzen und Limits.
Um 6:00 Uhr wird dir klar, warum du lebst: Dein Streben nach Sinn und Zweck wird erfüllt. In den Momenten, in denen du all die unangenehmen Überraschungen bewältigst, die das Leben dir unvermeidlich beschert, und du es schaffst, alle Räder am Laufen zu halten und zugleich auszutarieren, wirst du zumindest für Momente ein Erfolgserlebnis haben. Dein kleines vergängliches Leben erscheint lebenswert.
Wenn du aber in einer Welt der Limits und Grenzen bleibst, wo du rechtzeitig kommen, gehen und Arbeit erledigen musst, was passiert dann? Du kannst um 6:00 Uhr nicht handeln ohne ein gut entwickeltes Bewusstsein der eigenen Person, ohne ein klar definiertes „Ich“. Wenn du zu lange bleibst, sind verschiedene Level von Stress vorprogrammiert. Wenn du Tag für Tag, Woche für Woche in dieser Welt verbringst, wirst du irgendwann ein Burn-out haben.
9:00 Uhr: Loslassen und Auflösen
9:00 Uhr ist ein wichtiger Teil des Prozesses und sollte nicht vernachlässigt werden – die „Auflösung“. Um 9:00 Uhr geht es um die Rückkehr von erzwungener Form zu Formlosigkeit. Es ist eine Art Identitätstod. Du kannst nicht direkt von 6:00 Uhr zu 12:00 Uhr übergehen. Bei 9:00 Uhr geht es um Auflösung von Grenzen. 12:00 Uhr bis 6:00 Uhr war eine Bewegung von Formlosigkeit zu Form. Von 6:00 Uhr bis 12:00 Uhr ist eine Rückkehr von Form zu Formlosigkeit. Nachdem du engagiert gehandelt hast, hältst du inne und spürst die Wirkung all dieser Grenzen. Wenn du die ganze Woche hart arbeitest, viel von dir verlangst und dann an einem Samstag- oder Sonntagmorgen eine Pause machst, um zu entspannen, was fühlst du dann? Wie geht es dir? Du sagst dir vielleicht: „Ich habe hart gearbeitet, ich werde sogar lange aufbleiben, um alles zu erledigen, und dann ein schönes, entspanntes Wochenende mit meinem Partner oder meiner Partnerin verbringen.“ Und das tust du: Du arbeitest bis 2:00 Uhr morgens, erledigst alles und gehst dann schlafen, in der Erwartung, einen wunderschönen romantischen Tag zu verbringen. Aber was passiert? Du fühlst dich beschissen und womöglich gibt es statt des Geplanten einen fürchterlichen Streit.
Eine ähnliche Erfahrung machen viele, wenn sie in Urlaub fahren. Sie wählen einen schönen Ort, treffen alle notwendigen Reisevorbereitungen. Der Flug ist für Sonnabend gebucht. Es kostet viel Anstrengung, alles zu erledigen und zu regeln, damit es der schönste Urlaub wird. Du wachst den ersten Morgen im Paradies auf, gehst hinaus an den Strand, um vorm Frühstück zu schwimmen, und dann findet bestimmt jemand irgendeinen Grund zu streiten. Da hast du es: Streit im Paradies. Deshalb trinken viele im Urlaub eine Menge Alkohol, um den angestauten Stress zu kompensieren, der freigesetzt wird, sobald sie eine Pause machen und entspannen.
Der Teil des Kreislaufs, wenn du 6:00 Uhr verlässt, ist naturgemäß schmerzlich und unangenehm. Burn-out fühlt sich schrecklich an, wenn du dir so viel abverlangt hast, dass du erschöpft bist. Selbst wenn es dir gelingt, nachts zu schlafen, wachst du morgens energielos auf. Alles scheint zu viel. Es ist vielleicht die schlimmste Hölle, in der sich ein Mensch befinden kann. Aber schließlich, wenn du den Stress hinter dir lässt, dich in die Auflösung begibst und dich erholst, verwandelt sich das Gefühl der Erschöpfung in ein Nachlassen, eine tiefe Erleichterung. Jetzt entdeckst du, was 9:00 Uhr dir schenkt: ein Gefühl der Unschuld, Vertrauen und Entspannung. Hier findet alle Einsicht statt. Es ist der Teil des Kreislaufs, wo wir uns einer Kraft ergeben, die stärker ist als unser kleiner, beschränkter Geist.
Im 5. Kapitel werden wir entdecken, woran es liegt, wenn wir in einzelnen Phasen des Kreislaufs stecken bleiben und unsere naturgegebene Brillanz und Meisterschaft lahmlegen.
Zuvor möchte ich jedoch von der bedeutsamsten Begegnung meines Lebens erzählen, die zur Entwicklung dieses Modells entscheidend beigetragen hat.
Begegnung mit Leonard Cohen
Eine der größten Segnungen meines Lebens war die Zeit, die ich mit Leonard Cohen verbringen durfte. In vielerlei Hinsicht handelt dieses Buch von ihm. Er war und ist das Musterbeispiel für radikale Brillanz in allen Phasen. Auf seine Art lebte er jede einzelne Phase des Kreislaufs in seinem Leben vollkommen aus.
Ursprünglich wollte ich Leonard für mein Buch Die lautlose Revolution interviewen. Es enthielt ein Kapitel über „Transluzente Kreativität“ und sein 2002 erschienenes Album Ten New Songs war ein perfektes Beispiel für das, was ich sagen wollte. Manchmal stößt man auf ein Album, auf dem ein eingängiger Song ist, kauft die CD und alles ist bestens – aber den einen Song spielt man immer wieder ab. Bei Ten New Songs ist jeder einzelne Song der eine. Ich glaube nicht, dass in der Menschheitsgeschichte jemals eine bessere CD produziert worden ist.
Ich kontaktierte also seine Managerin und bat um einen Termin für ein Interview. Wir gingen im Terminkalender Monat für Monat vorwärts und rückwärts durch: Entweder war Leonard in einem Retreat oder er war beschäftigt oder er schrieb oder es war Hanukkah. Immer ein anderer Grund. Dann antwortete sie gar nicht mehr. Ich wollte unbedingt ein Interview mit Leonard bekommen, war aber schließlich nahe am Aufgeben. Plötzlich änderte sich alles. Ich bekam eine E-Mail von einer Frau namens Kateri. Sie sagte mir, dass die Managerin Leonard nicht mehr vertrat, sie seine neue Assistentin wäre und dass sie mir sehr gerne behilflich wäre, ein Interview zu arrangieren. Wow! Das waren großartige Neuigkeiten. Wir gingen ebenfalls zusammen gründlich den Kalender durch, um einen günstigen Zeitpunkt zu vereinbaren, zu dem ich nach Los Angeles fliegen könnte. Diesmal war es ganz anders. Kateri beantwortete meine E-Mail um zwei Uhr morgens, dann früh an einem Sonntag. Sie reagierte manchmal so schnell, dass unsere E-Mails echten Gesprächen ähnelten. Um ehrlich zu sein, obwohl ich verheiratet bin und sie Leonards Assistentin, muss ich zugeben, dass der Ton unseres Mailverkehrs an einen Flirt erinnerte. Jetzt hab ich es ausgesprochen. Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist wahr. Schließlich vereinbarten wir einen Termin und ich machte mich auf den Weg, um Leonard zu treffen. Ich flog nach Los Angeles, mietete ein Auto und fuhr zur angegebenen Adresse. Es war ein heruntergekommener Stadtteil, keiner, in dem die Reichen und Berühmten verkehren. Das fragliche Haus war ein kleines Zweifamilienhaus, eine Wohnung oben, eine unten.
Leonard begrüßte mich an der Tür mit dem typisch „schrägen“ Grinsen, das immer sein besonderes Markenzeichen war. Er bot mir reichliche Erfrischungen an und war sehr großzügig, was seine Bereitwilligkeit anlangte, jede einzelne meiner Fragen zu beantworten. Wir saßen in seiner winzigen Küche mit abgenutzten Möbeln, die gut bei einem Garagenverkauf erstanden worden sein konnten. Wir schlürften Tee und unterhielten uns stundenlang über alles Mögliche. Schließlich kamen wir auf Ten New Songs zu sprechen. Ich erklärte ihm, warum ich die Absicht gehabt hatte, das Album zum zentralen Thema in einem Kapitel meines Buches zu machen.
„Leonard, das Album ist wunderbar“, sagte ich zu ihm.
„Ja, ja“, erwiderte er abwehrend.
„Nein, wirklich, Leonard“, protestierte ich, „du musst zugeben, es ist wie der Gipfel des Gipfels des Gipfels.“
„Nee.“ Er tat es mit einer Handbewegung ab. Wieder sein spezielles Grinsen.
So ging es eine halbe Stunde zwischen uns hin und her. Ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen, ich wollte nur, dass er zugab, dass das Album brillant wäre. Er lauschte geduldig, wischte mein Lob aber jedes Mal weg. Seiner Meinung nach war es nur ein Haufen Songs, die er zusammengeworfen hatte. Ich ließ nicht locker. Mit Eifer bestand ich darauf, dass Ten New Songs beinahe biblisch wäre. Ich verglich es mit den Upanishaden, einen jener seltenen Momente, wenn etwas von der „anderen Seite“ herüberkommt und unsere Welt erhellt. Jeder einzelne Song perfekt.
Leonard und ich gerieten fast in Streit. Je mehr er mein Lob abwehrte, desto mehr beharrte ich darauf, recht zu haben. Nach ungefähr einer halben Stunde gab Leonard schließlich den Kampf auf. Er sah mich an, wieder mit breitem Grinsen, und stimmte mir zu. „Ich glaube, du hast recht“, sagte er. „Es ist wirklich etwas herübergekommen auf dem Album.“
Seine Wortwahl ist bedeutsam. Etwas ist herübergekommen. Es war kein bewusstes Handeln oder Bemühen. Er hatte so gezögert, es für sich in Anspruch zu nehmen, weil er wusste, dass er eigentlich nicht der Urheber des Albums war. Es war durch ihn gekommen, nicht aus ihm.
Genau das geschieht in der Phase zwischen 12:00 Uhr und 3:00 Uhr. Es ist, als würde eines Tages das Telefon klingeln und eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung fragen: „Könnten Sie eine Nachricht entgegennehmen?“
„Okay“, sagst du und suchst nach einem Stift, „bleiben Sie dran, wie lautet die Nachricht?“
Dann diktiert die Stimme die Nachricht und du schreibst sie Wort für Wort auf. Es ist das schönste Gedicht, das je geschrieben wurde. Perfekt. Später findet dein Mitbewohner den Zettel.
„Wow! Du bist ein außergewöhnlicher Dichter! Genial!“, bekommst du zu hören.
„Nein, nein!“, protestierst du. „Ich habe nur eine Nachricht entgegengenommen.“
So geht es. Das ist der Flow-Zustand. Flow kommt ganz natürlich, aus dem unendlichen Raum, wo es niemanden gibt, der sich etwas als Verdienst anrechnet.
Leonard beschrieb anschaulich in allen Einzelheiten, wie das Album entstanden war. Er lebte als Mönch im Mount Baldy Zen Zentrum, stand morgens um 4:30 Uhr auf, um mit den anderen Mönchen Zazen zu praktizieren. Er bewohnte ein winziges Zimmer und verfügte außer einem kleinen Notizbuch und einem Stift über keine Besitztümer. Viel Zeit um 12:00 Uhr.
Er erzählte mir, dass die Texte und Melodien für das Album im Laufe von zwei Jahren, in denen er täglich viele Stunden am Tag meditiert hätte, in kleinen Schwingungen und Bildern gekommen wären. Er schrieb sie einfach auf, wenn sie erschienen, wie ein pflichtbewusster Schreiber. 3:00 Uhr.
Später, erzählte er mir, wäre ihm klar geworden, dass er nicht für ein Mönchsdasein geboren wäre. Er sprach mit seinem Lehrer Kyozan Joshu Sasaki (zu der Zeit schon über 100 Jahre alt) und traf die notwendigen Vorbereitungen, um das Kloster zu verlassen und in sein Haus in Los Angeles zurückzukehren. Nichts als das kleine Notizbuch in der Hand begann er dort, die feinen Impulse, die er in der Meditation empfangen hatte, in das zu verwandeln, was für mich das größte lyrische und musikalische Werk ist, das ich kenne. Er brauchte noch zwei weitere Jahre in dem kleinen Studio an der Rückseite seines Hauses, um diesen Impulsen einen eindeutigen Sound, Rhythmus und Form zu geben. Mit unnachgiebiger Genauigkeit nahm er die Songs immer wieder auf. Backgroundsänger, Technik, Software und Hardware beschaffen und damit umzugehen lernen, einen Vertrag mit Sony abschließen. 6:00 Uhr.
Leonard kennt Depressionen, Selbstzweifel und Verzweiflung und hat sowohl vor als auch nach dem Album mehr als genug davon erlebt, genauso wie auf der anderen Seite süße Hingabe, Vertrauen und Demut. Alle seine Alben sind von diesen Gefühlen durchdrungen.
I make my plans
Like I always do
But when I look back
I was there for you.
I walk the streets
Like I used to do
And I freeze with fear
But I’m there for you.
Die Geschichte hat ein entzückendes Ende. Nachdem wir unser nachmittägliches Gespräch beendet hatten (einer der wichtigsten Tage meines Lebens), zeigte er mir sein kleines Apartment. Es dauerte nicht lange. Er öffnete die Tür seines Büros, wo eine Plastikarbeitsplatte mit zusammenklappbaren Beinen stand, auf der sich Pappkartons stapelten. „Das ist also das Büro“, sagte ich. „Wo arbeitet Kateri?“
„Kateri …“, sagte Leonard. Wieder ein schelmisches Grinsen. „Ich stell dir Kateri vor.“ Ich dachte an den leicht flirtenden Ton meiner zum Teil nächtlichen Mails an Katari und wurde für einen Moment rot vor Verlegenheit. Leonard führte mich in die Küche. Er öffnete einen Hängeschrank über dem Waschbecken. Im obersten Fach war die Figur einer jungen Indianerin. „Das ist Kateri.“ Ich sah Leonard kurz an und blickte dann auf den Boden. Langsam begriff ich. Ich hatte nachts mit niemand anderem als Leonard selbst geflirtet. Er schmunzelte über mein Unbehagen und erklärte mir dann, dass seine frühere Managerin ihn um sein gesamtes Vermögen betrogen habe, während er im Kloster war, mehr als zwölf Millionen Dollar. Er hätte kein Geld mehr, um eine Assistentin zu bezahlen. Deshalb habe er als Fassade Kateri erfunden und mir in ihrem Namen Mails geschickt.