Kitabı oku: «Handbuch des Strafrechts», sayfa 55
2. Vom Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund zum Reichsstrafgesetzbuch
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Die staatsrechtliche Vereinigung Deutschlands „überholte“ gewissermaßen die Vollendung der norddeutschen Rechtseinheit. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund trat am selben Tag in Kraft wie die Verfassung des Deutschen Reichs. Die Kaiserproklamation in Versailles folgte am 18. Januar 1871. Nach dem deutsch-französischen Krieg hatten sich bereits im November 1870 die süddeutschen Staaten (Großherzogtum Baden, Großherzogtum Hessen, Königreich Württemberg, Königreich Bayern) mit dem Norddeutschen Bund zu einem zunächst als „Deutscher Bund“ bezeichneten Bundesstaat zusammengeschlossen. Das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes wird über folgende Schritte zum Strafrecht des Deutschen Reichs:
– | In den „Novemberverträgen“ (1870) erklären die süddeutschen Staaten die Übernahme des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund. |
– | In Hessen (bzgl. der zuvor nicht zum Norddeutschen Bund gehörenden Gebiete südlich des Mains) ist das Inkrafttreten des norddeutschen Strafrechts für den 1. Januar 1871 vorgesehen, in Baden, Bayern und Württemberg für den 1. Januar 1872.[45] |
– | Das „Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches“ (16. April 1871) erklärt die von den süddeutschen Staaten übernommenen Gesetze zu „Reichsgesetzen“ (§ 2).[46] |
– | Das „Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ (15. Mai 1871) passt das Strafgesetzbuch sprachlich den neuen staatsrechtlichen Verhältnisse an.[47] Sein einziger Paragraph lautet: „Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870 erhält unter der Bezeichnung als ‚Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich‘ vom 1. Januar 1872 an die beiliegende Fassung.“ |
– | Vollendung der strafrechtlichen Rechtseinheit am 1. Januar 1872 mit der reichsweiten Geltung des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich. |
III. Rechtsvereinheitlichung unter preußischer Vorherrschaft
1. „Politischer Akt“
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Die Verabschiedung des Strafgesetzbuchs für die norddeutschen Staaten erfolgte in einem (nicht nur) für strafrechtliche Kodifikationen des 19. Jahrhunderts beispiellosen Tempo. Dem Erlass vormärzlicher Partikularstrafgesetzbücher waren regelmäßig langwierige Kommissionsberatungen vorangegangen, der Entstehungsprozess des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten (1851) hatte sich gar über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Die Herstellung strafrechtlicher Rechtseinheit besaß für die Verfassungsorgane des Norddeutschen Bundes höchste Priorität.[48] Im norddeutschen Reichstag beschwor der preußische Justizminister Leonhardt den „großen politischen Akt“ und appellierte erfolgreich an die Abgeordneten, sich bei ihren Beratungen nicht in juristischen Feinheiten zu verlieren.[49] Begünstigt wurde die auch von zeitgenössischen Beobachtern als rasant empfundene Geschwindigkeit des Gesetzgebungsprozesses von zwei Faktoren:[50] Der Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens (Rn. 10 ff.) und der preußischen Vorherrschaft innerhalb des Norddeutschen Bundes, die jeden Bruch mit borussischen Traditionen von vornherein als aussichtlos erscheinen ließ (Rn. 13 f.), was insbesondere die Kontroverse über die Abschaffung der Todesstrafe verdeutlicht (Rn. 15 f.).
2. „Beschleunigtes Verfahren“
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Im Gegensatz zur Strafgesetzgebung im frühkonstitutionellen Staat blieb die Wissenschaft von den eigentlichen Gesetzgebungsarbeiten ausgeschlossen. Die Erstellung des ersten Entwurfs oblag mit v. Friedberg einem Ministerialbeamten, auch bei der Zusammenstellung der für die Entwurfsüberarbeitung eingesetzten Bundesratskommission „ward die deutsche Wissenschaft unerhörter Weise übergangen“ (Binding).[51] Der auf die Zuschauertribüne verbannten Strafrechtswissenschaft blieb fortan die Rolle, den Gesetzgebungsprozess kritisch zu begleiten.[52] Aus Regierungssicht drohte die Hinzuziehung von Wissenschaftlern das Verfahren unnötig zu verlängern. Wissenschaftliche Expertise schien entbehrlich, hatte sich die Strafrechtswissenschaft doch während des 19. Jahrhunderts zusehends von der Rechtspraxis und dem geltenden partikularen Recht entfremdet. So stieß Leonhardts Bemerkung im Reichstag auf allgemeine Zustimmung, wonach die Abgeordneten und selbst ihre Kinder das Ende der Gesetzgebungsarbeiten schwerlich erleben würden, wollte man den allgemeinen Beifall der deutschen Rechtswissenschaft abwarten.[53]
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Auf jeder Stufe des Gesetzgebungsprozesses wählten die beteiligten Organe ein Prozedere, das ein „beschleunigtes Verfahren“ sicherstellte. Fristen waren knapp bemessen. Der Bundesratskommission blieben für ihre Arbeit drei Monate, denselben Zeitraum benötigte der norddeutsche Reichstag für seine Verhandlungen. Die Plenarberatungen im Bundesrat währten gar nur wenige Stunden.[54] Der Reichstag nahm unverzüglich die Plenarberatungen über den Gesetzesentwurf auf.[55] Lediglich Abschnitte aus dem Besonderen Teil wurden zur vertieften Erörterung an eine parallel tagende Kommission verwiesen. Um weitschweifige Grundsatzdebatten zu unterbinden, beriet die Kommission nur über schriftlich vorformulierte, bereits in Gesetzesform gegossene Anträge.[56]
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Grundsätzliche Kritik an dem eingeschlagenen Tempo kam – abgesehen von der marginalisierten Wissenschaft[57] – insbesondere aus Sachsen. Der Dresdner Generalstaatsanwalt v. Schwarze, der bereits im Reichstag gegen die Ausdehnung der Gesetzgebungskompetenz auf den Bund plädiert hatte,[58] versuchte im weiteren Verfahrensgang, möglichst viele Inhalte des Revidierten Sächsischen Strafgesetzbuchs (1868) in das Reichsrecht zu überführen.[59] Im Bundesrat scheiterte Sachsen mit seinem auf Zeit spielenden Antrag, „das Strafgesetzbuch erst dann in Kraft treten zu lassen, wenn eine gemeinsame Strafproceß-Ordnung für den Norddeutschen Bund emanirt sein werde“[60]. Angesichts der preußischen Vorherrschaft innerhalb des Norddeutschen Bundes musste die sächsische Opposition erfolglos bleiben.
3. Verfahrensherrschaft
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Erst die preußische Hegemonie ermöglichte die zügige Vollendung nationaler Rechtseinheit. Ohne zu zögern hatte Bismarck das preußische Justizministerium – das Reichsjustizamt existierte erst seit 1877 – mit der Ausarbeitung eines ersten Gesetzesentwurfs betraut. Ebenso selbstverständlich diente v. Friedberg hierbei das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten als „Vorbild und Grundlage“[61]. Angesichts der Macht- und Bevölkerungsverhältnisse innerhalb Norddeutschlands stieß seine legislatorische Grundentscheidung in der Rechtswissenschaft auf Zustimmung.[62] Kein Strafgesetz des Norddeutschen Bunds habe, so v. Friedberg, eine ähnliche territoriale Verbreitung, gesetzgeberische Vorbildfunktion und wissenschaftliche Durchdringung erfahren wie das preußische; es habe sich als ein „jedenfalls von keiner anderen Gesetzgebung übertroffenes Werk bewährt“. Friedberg beteuerte den Willen, das „weniger Gute“ und in der Wissenschaft missbilligte auszuscheiden, um es „durch das in anderen Gesetzgebungen Bessere“ zu ersetzen. Seine Aussagen dürfen freilich „nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Entwurfsverfasser so wenig wie möglich vom preußischen Strafgesetzbuch aufgeben wollten“[63]. So stellt der „Entwurf Friedberg“ trotz einiger beachtlicher Milderungen und Verbesserungen[64] lediglich eine revidierte Fassung des preußischen StGB von 1851 dar.[65]
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Die preußische Dominanz fand ihre Fortsetzung auf den weiteren Stufen des Gesetzgebungsprozesses. Unter den vom Bundesrat berufenen sieben Justizpraktikern („Bundesratskommission“) stammten vier aus Preußen, je einer aus Sachsen, Mecklenburg und Bremen.[66] Die konzentrierte Arbeit der Kommission brachte einerseits zahlreiche inhaltliche und redaktionelle Verbesserungen,[67] andererseits blockierte die preußische Kommissionsmehrheit weiterreichende Reformvorstöße, die insbesondere von v. Schwarze und dem Bremer Senator Donandt ausgingen.[68] An der preußischen Mehrheit scheiterten etwa Anträge auf Abschaffung der Todesstrafe, Streichung der Übertretungen, Aufgabe der Dreiteilung strafbarer Handlungen oder auf Einführung einer allgemeinen Strafmilderungsvorschrift.[69] Die preußische Vorherrschaft über den Bundesrat zwang schließlich den Reichstag zum Akzeptieren der „roten Linien“, insbesondere zur Beibehaltung der Todesstrafe. Die Verfassung verlangte für den Erlass des Reichsstrafgesetzbuchs Mehrheitsbeschlüsse des Reichstags und des Bundesrats; oder, wie Bismarck die Reichstagsabgeordneten bei passender Gelegenheit zu erinnern wusste, ohne den (preußisch dominierten) Bundesrat könne der Reichstag „nichts machen“[70].
4. Todesstrafe
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Eine Niederlage musste der liberal geprägte Reichstag dagegen bei der Frage der Todesstrafe hinnehmen.[71] Der „Entwurf Friedberg“ hatte die Anzahl der todeswürdigen Delikte gegenüber dem Preußischen Strafgesetzbuch von 14 auf drei reduziert (Mord, Hochverrat, tätlicher Angriff auf die Person eines Landesherrn). v. Friedberg begründete sein Festhalten an der Todesstrafe mit einer scheinbar unpolitischen, evolutionären „geschichtlichen Betrachtung“.[72] Auf Gründe der „Spekulation“ wollte er sich indes nicht einlassen. v. Friedberg verstand hierunter die u.a. in der Paulskirche für und wider die Todesstrafe ins Feld geführten ethischen, religiösen, rechtsphilosophischen und kriminalpolitischen Argumente. Solcherlei Erwägungen seien für Verteidiger wie Gegner der Lebensstrafe „gleich unwiderleglich“[73].
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Die vom Reichstag in erster Lesung beschlossene gänzliche Abschaffung der Todesstrafe stieß im preußisch dominierten Bundesrat sowie beim preußischen König auf entschiedene Ablehnung.[74] Erst in dritter Lesung, nach einer leidenschaftlichen Debatte, bei der auch Bismarck, Leonhardt und Friedberg das Wort ergriffen, wendete sich das Blatt. Unter Berufung auf „höhere nationale Zwecke“ und die „geheiligte Sache unserer nationalen Einheit“ gelang es Bismarck schließlich, letzte Widerstände der Todesstrafengegner zu überwinden und ein Scheitern des Gesetzes abzuwenden.[75] Auch der Kompromissvorschlag Plancks, auf die Todesstrafe in den Staaten zu verzichten, in denen sie bei Eintritt in den Norddeutschen Bund beseitigt war, stieß auf scharfe Ablehnung Bismarcks. Es würden „gewissermaßen zweierlei Klassen von Norddeutschen geschaffen (…), – eine Selekta, die vermöge ihrer Gesittung, vermöge ihrer Erziehung so weit vorgeschritten ist, daß selbst ihre üblen Subjekte des Korrektivs des Richtbeils nicht mehr bedürfen, und dann das profanum vulgus von 27 Millionen, welches diesen sächsisch-oldenburgischen Kulturgrad noch nicht erreicht hat, dem das Richtbeil im Nacken sitzen muß, um es in Ordnung zu halten“[76]. Eine knappe Mehrheit stimmte schließlich für die Beibehaltung der Todesstrafe. Die Revision des in erster Lesung getroffenen Abschaffungsbeschlusses gründete maßgeblich auf dem Meinungsumschwung von solchen Abgeordneten, die – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Bismarckschen Rhetorik – der Vollendung der strafrechtlichen Rechtseinheit höheres Gewicht beimaßen als dem Hochhalten abolitionistischer Grundüberzeugungen.[77]
3. Abschnitt: Geistige Grundlagen und Strömungen des deutschen Strafrechts › § 8 Entstehung und Entwicklung des Strafgesetzbuchs von 1871 › C. Das Reichsstrafgesetzbuch
C. Das Reichsstrafgesetzbuch
I. Wesentliche Inhalte
1. Sanktionen und Strafarten
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Das Reichsstrafgesetzbuch brachte gegenüber seinem Vorbild, dem vielfach als zu hart kritisierten Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, zahlreiche Milderungen.[78] Strafrahmen wurden abgesenkt, Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Strafarten geschaffen (Zuchthaus oder Festungshaft bzw. Gefängnis- oder Geldstrafe). Der liberalen Reichstagsmehrheit gelang es, richterliche Ermessensspielräume durch die Einfügung unbenannter „mildernder Umstände“ auszubauen.[79] Prominentestes Beispiel hierfür ist § 218 Abs. 2 RStGB, der bei Abtreibungen erstmals die Verhängung von Gefängnisstrafen ermöglichte. Das preußische Strafrecht hatte ausnahmslos Zuchthausstrafen zwischen zwei und fünf Jahren vorgesehen.[80] Bis heute erhalten hat sich die Aufnahme „mildernder Umstände“ in § 213 RStGB, dem minder schweren Fall des Totschlags, verbunden mit einer signifikanten Absenkung der Mindeststrafe auf sechs Monate Gefängnis.[81]
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Zu den bedeutendsten sanktionsrechtlichen Neuerungen zählte neben der fakultativen Ausgestaltung der Polizeiaufsicht (§§ 38, 39 RStGB) die Etablierung zweier Rechtsinstitute, die dem preußischen Strafrecht unbekannt waren. § 60 RStGB ermöglichte nunmehr die Anrechnung erlittener Untersuchungshaft (heute § 51 StGB). Das aus dem sächsischen Recht übernommene Institut der „vorläufigen Entlassung“ bzw. „einstweiligen Beurlaubung“ (§§ 23–25 RStGB) schuf bei „guter Führung“ des Inhaftierten erstmals die Voraussetzungen einer Aussetzung des Strafrests (heute § 57 StGB).[82] Anders als heute oblag die Entscheidung nicht dem Gericht, sondern der obersten (Landes-)Justizaufsichtsbehörde. Erwähnung verdient ferner das Institut der Vollstreckungsverjährung (§ 70 RStGB), das erstmals die Verjährung rechtskräftig erkannter Strafen ermöglichte und neben die tradierte Verfolgungsverjährung trat.[83]
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Augenfällige Milderungen waren schließlich im Bereich der Zuchthausstrafe zu verzeichnen. Im Gegensatz zum insofern drakonischen Preußischen Strafgesetzbuch verzichtete das Reichsstrafgesetzbuch von vornherein auf deren obligatorische lebenslange Androhung. Dem Richter blieb nunmehr die Wahl, alternativ lebenslange Festungsstrafen bzw. Zuchthausstrafen nicht unter zehn Jahren zu verhängen.[84] Diese Neuerung betraf neben schweren Staatsschutzdelikten insbesondere erfolgsqualifizierte Delikte mit tödlichem Ausgang, deren vormals unnachsichtige Sanktionierung somit revidiert wurde. Die Höchstdauer der zeitigen Zuchthausstrafe betrug im Reichsstrafgesetzbuch 15 Jahre, das Minimum ein Jahr (§ 14 Abs. 2 RStGB – gegenüber 20 bzw. zwei Jahren im Preußischen Strafgesetzbuch, § 10 PrStGB). Für den Verurteilten bedeutete eine rechtskräftige Zuchthausstrafe nicht mehr zwangsläufig die Stellung unter Vormundschaft und den Verlust der Verfügungsfähigkeit über sein Vermögen (anders § 11 Abs. 2 PrStGB). Auch der obligatorische, lebenslange Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für „Zuchthäusler“ gehörte der Vergangenheit an (§ 32 RStGB, anders § 11 Abs. 3 PrStGB).
2. Dogmengeschichtliche Aspekte
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Aus dogmenhistorischer Sicht steht das Reichsstrafgesetzbuch in der Tradition des preußischen Strafrechts.[85] In zwei wichtigen Punkten eliminierte das Reichsstrafgesetzbuch angefeindete, französisch inspirierte Normierungen seines Vorbilds. Zum einen ersetzte es den aus dem Code pénal übernommenen Grundsatz der Gleichbestrafung von versuchtem und vollendetem Delikt (§§ 32 ff. PrStGB) durch eine obligatorische Strafmilderung (§ 44 RStGB),[86] zum anderen reformierte es den Umgang mit jugendlichen Straftätern. Während das preußische Strafrecht kein Mindestalter für strafrechtliche Sanktionen gekannt hatte (§ 43 PrStGB), erklärte das Reichsstrafgesetzbuch Kinder vor ihrem vollendetem 12. Lebensjahr für strafunmündig (§ 55 RStGB). Bis zum 18. Lebensjahr hing die Verurteilung von der „Einsichtsfähigkeit“ ab. Fehlte jugendlichen Delinquenten „die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht“, so waren sie freizusprechen. Bei vorhandener Einsichtsfähigkeit griff eine obligatorische Strafmilderung (§ 57 RStGB), wobei Freiheitsstrafen „in besonderen, zur Verbüßung von Strafen jugendlicher Personen bestimmten Anstalten oder Räumen zu vollziehen“ waren (§ 57 Abs. RStGB).
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Ein Charakteristikum des Reichsstrafgesetzbuchs bildeten die absoluten Antragsdelikte. Für zahlreiche Delikte war die vorherige Stellung eines Strafantrags zwingende Verfahrensvoraussetzung. Die Ausweitung der absoluten Antragsdelikte ging auf die liberale Reichstagsmehrheit zurück. Zum einen sollten Gerichte entlastet werden, zum anderen sollte der Bürger selbst entscheiden, ob ihn der Staat zum Objekt hoheitlicher Ermittlungen machte.[87] Neben Massenvergehen wie leichten bzw. fahrlässigen Körperverletzungen, Beleidigungen oder Sachbeschädigungen (§§ 232, 194 Abs. 1, § 303 Abs. 3 RStGB) mussten selbst Verbrechen wie Vergewaltigung (§ 177 Abs. 3 RStGB) oder Unzucht (176 RStGB) ohne den Verfolgungswillen des Verletzten ungesühnt bleiben.[88] Die Durchsetzung des „staatlichen Strafanspruchs“ wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass es dem Verletzten freistand, seinen Antrag noch in der Hauptverhandlung oder gar bis zur Urteilsverkündung zurückzunehmen. In diesem Fall war das Verfahren zwingend einzustellen (§ 64 RStGB).[89]
3. Eingrenzung politisch umstrittener Straftatbestände
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Erfolge konnte der Reichstag bei der Eingrenzung politisch umstrittener Straftatbestände verzeichnen.[90] So gelang es, in § 113 RStGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) das einschränkende Tatbestandsmerkmal der rechtmäßigen Dienstausübung zu etablieren.[91] Das „Anreizen zum Klassenkampf“ (§ 130 RStGB), die Vorgängernorm der heutigen Volksverhetzung, wurde durch eine Beschränkung auf (öffentliches) Anreizen zu „Gewaltthätigkeiten“ eingehegt.[92] Die Gotteslästerung (§ 166 RStGB) erfuhr durch das Merkmal der „beschimpfenden Aeußerungen“ und die Notwendigkeit eines Erfolgs (Geben von „Aergerniß“) eine Einschränkung.[93]
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Dem preußischen Recht unbekannt – und im „Entwurf Friedberg“ nicht vorgesehen – waren schließlich die Straflosigkeit von Parlamentsberichten und die umfassende Immunität parlamentarischer Äußerungen (§§ 11, 12 RStGB). Ihre Verankerung im Reichsstrafgesetzbuch ging auf den berühmten „Prozess Twesten“ zurück, ein mehrjähriges Verfahren gegen den Führer der preußischen Fortschrittspartei.[94] Twesten hatte in einer Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (1865) schwere Vorwürfe gegen die Richter des preußischen Obertribunals erhoben und deren Unabhängigkeit in Zweifel gezogen.[95] Die preußische Verfassung gewährte Abgeordneten für ihre im Parlament ausgesprochenen „Meinungen“ Immunität (Art. 84 Abs. 1 PrVerf). Für Verleumdungen sollte dies jedoch – so die Rechtsprechung im „Fall Twesten“ – gerade nicht gelten.[96] Der Reichstag zog aus der Verurteilung Twestens die Konsequenz und erstreckte die Abgeordnetenimmunität auf jedwede „gethane Aeußerung“. Erst das Grundgesetz revidierte diese Einschränkung, indem es „verleumderische Beleidigungen“ erneut aus dem Schutzbereich herausnahm (Art. 46 Abs. 1 S. 2 GG, § 37 S. 2 StGB).
II. Leerstellen
1. Übersicht
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Zwar waren die Straftatbestände im Reichsstrafgesetzbuch exakt formuliert und die Strafrahmen gegenüber dem preußischen Strafrecht erheblich abgemildert, doch wies das Gesetz im Bereich der Sanktionen und des Strafvollzugs erhebliche Leerstellen auf. Spezialpräventive Gedanken fanden allenfalls am Rande Eingang, so bei der Erwähnung der Einzelhaft (§ 22 RStGB), der Einführung des Instituts der vorläufigen Entlassung (§§ 23–25 RStGB) sowie der Möglichkeit, jugendliche Täter in Erziehungs- oder Besserungsanstalten bzw. in gesonderten Anstalten unterzubringen (§§ 56 Abs. 2, 57 Abs. 2 RStGB). Während der eigentliche Strafvollzug reichsrechtlich ungeregelt blieb (Rn. 25), mangelte es für den Bereich der Kleinkriminalität an flexiblen Reaktionsmöglichkeiten. Geldstrafen spielten zunächst eine untergeordnete Rolle, das Institut der Strafaussetzung auf Bewährung fehlte (Rn. 26), ebenso ein gesondertes Jugendstrafrecht (Rn. 27). Die regelmäßig verhängte Sanktion waren Freiheitsstrafen, wobei ein kurzzeitiger Freiheitsentzug von unter drei Monaten dominierte.[97] Ihr Anteil lag in den 1880er Jahren für einfachen Diebstahl bei ca. 90 %.[98] Nicht weniger lückenhaft blieben die Reaktionsmöglichkeiten auf bestimmte Formen der Schwerkriminalität. Sozialgefährliche Delinquenten konnten nicht länger festgehalten werden, als es die schuldvergeltende Strafe erlaubte. Schuldunabhängige Maßregeln blieben dem Gesetz – und dem wissenschaftlichen Diskurs seiner Entstehungszeitzeit – fremd. Erst mit Franz v. Liszts „Marburger Programm“ (1883) und seinen publizistischen Wegbereitern begannen der „Kampf gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe“ und die Kontroverse über neuartige, der Gefährlichkeit des Täters angepasste Sanktionsformen.[99]
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