Kitabı oku: «Ach du Schreck! AD(H)S», sayfa 2
Auswirkungen auf das Leben Betroffener
Was wissen wir über die Auswirkungen von AD(H)S auf das Leben Betroffener? Die Antwort muss lauten: beinahe täglich mehr. Die Informationsflut zu diesem Thema ist enorm und kann deshalb an dieser Stelle nur in Auszügen wiedergegeben werden. Vergessen Sie dabei bitte nicht, dass es sich im Folgenden um statistische Aussagen und Tendenzen handelt, um die Darstellung erhöhter Risiken, nicht um zwangsläufig eintretende Ereignisse im Leben von Betroffenen. Gerade die Lebensgeschichte von Arno Backhaus zeigt, dass und wie das Leben eines erheblich von AD(H)S Betroffenen gelingen kann. Das war auch für meine Frau und mich ein starkes Motiv, an diesem Buch mitzuwirken. Wir wollen AD(H)S-Betroffenen Hoffnung geben. So ist es mein Wunsch, dass die folgenden Aussagen immer im Blick auf diese Hoffnung gelesen werden.
Begleitstörungen
Etwa 70 %3 der Kinder mit der Diagnose AD(H)S und 80 % der betroffenen Erwachsenen weisen mindestens eine weitere psychische Störung auf, haben Lernstörungen und Teilleistungsschwächen oder Beeinträchtigungen in umschriebenen Bereichen ihrer Entwicklung, beispielsweise der Sprache. Die häufigsten psychischen Begleitstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind Störungen des Sozialverhaltens (um die 50 %), depressive Störungen und Ängste. Zu den häufigsten psychischen Begleiterkrankungen bei Erwachsenen gehören Depressionen (bis zu 60 %), Angststörungen (20 – 60 %), Suchterkrankungen (bis zu 60 %) und Persönlichkeitsstörungen (10 – 20 %). Während beim hyperaktiv-impulsiven AD(H)S-Subtyp vermehrt Störungen des Sozialverhaltens auftreten, sind beim unaufmerksamen Subtyp, der insbesondere bei Mädchen und Frauen vorkommt, häufiger Depressionen, Ängste und Lernstörungen zu finden.
Der Begriff Begleitstörungen will ausdrücklich nicht nahelegen, dass es sich bei diesen Störungen um Folgen von AD(H)S handelt, sondern lediglich beschreiben, dass die Störungen gleichzeitig bestehen. Dennoch scheint die Entwicklung einiger wesentlicher Begleitstörungen durch eine ausgeprägte AD(H)S-Symptomatik mehr oder weniger stark begünstigt zu werden. Das gilt besonders für Störungen des Sozialverhaltens.
Art und Ausmaß der Begleitstörungen entscheiden in hohem Maße über die Langzeitprognose des Betroffenen.
Laut Prof. Russell A. Barkley, einem der führenden Experten zum Thema AD(H)S in den USA, ist das Risiko für die Entwicklung von oppositionellem Verhalten bei Kindern mit AD(H)S elffach höher als bei Altersgenossen ohne. Prof. Dr. med. Gerd Lehmkuhl und Prof. Dr. Manfred Döpfner von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Köln berichten von etwa zehn Mal häufigerem dissozialen oder aggressiven Verhalten.
Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Begleitstörungen bei Kindern mit AD(H)S steigt, wenn deren Eltern auch psychische Störungen aufweisen – etwa AD(H)S, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. Sie scheinen auch vermehrt aufzutreten in Familien, die über ein vergleichsweise geringes Einkommen verfügen, nicht intakt sind und lediglich ein eingeschränktes Interesse an der Entwicklung ihrer Kinder zeigen.
Art und Ausmaß der bestehenden Begleitstörungen entscheiden in hohem Maße über die Langzeitprognose des einzelnen Betroffenen. So haben beispielsweise Kinder und Jugendliche mit AD(H)S und einer begleitenden, besonders früh einsetzenden, ausgeprägten Störung des Sozialverhaltens ein deutlich höheres Risiko für spätere Straffälligkeit, Drogensucht und die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.
»AD(H)S bedeutet für die Betroffenen, dass sie oft nicht das auf die Reihe kriegen, was sie sich vornehmen oder gerne schaffen würden. Das geht jedem von uns einmal so. Aber wenn das Scheitern zum Lebensmotto wird, hat das schwerwiegende Folgen.
AD(H)Sler haben meist ein schlechtes Selbstbewusstsein. Infolge der zahlreichen Fehlschläge in ihrem Leben trauen sie sich nichts mehr zu. Manche AD(H)Sler werden zu Außenseitern und Einzelgängern, manche leben auch eine Art Doppelleben, nur um die chaotische Seite ihres Alltags zu verbergen. Aus dieser Spannung heraus kommt es häufig zur Abhängigkeit von Alkohol, Zigaretten, Tabletten, Drogen, dem Glücksspiel, dem Internet etc.«
ARNO BACKHAUS
Andere Negativentwicklungen
Zur systematischen Aufklärung der Folgen von AD(H)S für ein Leben wurde in der bereits erwähnten Milwaukee-Studie untersucht, wie sich eine in der Kindheit diagnostizierte Störung bis zum 27. Lebensjahr entwickelt. Bei AD(H)S-Betroffenen fanden sich im Vergleich zu Gesunden unter anderem häufiger Arbeitsplatzwechsel, finanzielle Probleme, Partnerschaftskrisen, seelische Krisen, Suizidversuche, Krankenhausaufenthalte und Vorstrafen. Darüber hinaus müssen in diesem Zusammenhang auch noch eine erhöhte Unfallgefährdung, Beeinträchtigungen der Fahrsicherheit und vermehrte Probleme im Bereich der Sexualität erwähnt werden. So ist es nicht verwunderlich, wenn die Lebenszufriedenheit betroffener Erwachsener in den Bereichen Familienleben, Partnerschaft, soziales Leben, Berufsleben und Erreichen von Zielen statistisch auffallend nach unten abweicht.
»So schwer AD(H)S für die Betroffenen zu ertragen ist, so schwer ist es auch für die Menschen in ihrer Umgebung. Einen Menschen mit AD(H)S in der Familie zu haben fordert extrem viel von allen Beteiligten. Mit einem AD(H)Sler verheiratet zu sein ist eine außergewöhnliche Herausforderung! Banale Dinge wie miteinander reden oder planen sind eben plötzlich nicht mehr so banal. Viele Ehepartner berichten, dass sie sich nach einiger Zeit einfach nicht mehr geliebt fühlen, weil der AD(H)SBetroffene ständig unzuverlässig ist und wichtige Termine oder Erledigungen vergisst. Die daraus entstehenden zwischenmenschlichen Verletzungen können erheblich sein.«
ARNO BACKHAUS
Auswirkungen von AD(H)S in Schule und Berufsleben
Sehr starke negative Auswirkungen hat AD(H)S in der Schule. Dieser Lebensbereich stellt besondere Anforderungen an die Lern- und Selbstregulationsfähigkeit des Einzelnen. Die Schulleistungen von AD(H)S-Kindern sind durchschnittlich schlechter und ihre Produktivität ist geringer. Spezielle Lernstörungen, wie eine Lese- und Rechtschreibschwäche, treten gehäuft auf. Probleme beim Einhalten von Regeln und negative Beziehungen zu den Klassenkameraden sind leider keine Ausnahme, sondern eher der Normalfall.
»AD(H)S-Kinder langweilen sich im Unterricht sehr schnell, wenn sie nicht unmittelbar am Geschehen beteiligt sind. Sie versuchen dann, ihre eigene Aufmerksamkeit zu erhöhen, indem sie herumhampeln, mit den Beinen wippen, andere Kinder ärgern oder anderen kreativen Selbstbeschäftigungen nachgehen. Damit stören sie den normalen Unterricht. Deshalb ist es wichtig, dass der Unterricht interessant und abwechslungsreich gestaltet ist. Die Aufmerksamkeit von AD(H)S-Kindern wird durch alles erhöht, was ihre Emotionen anspricht. Hilfreich ist auch, wenn sie möglichst nah am Lehrer sitzen (sofern es ihnen nicht wie eine Bestrafung erscheint, ruhig auch an einem Einzeltisch), sodass der Lehrer öfter Blickkontakt zu ihnen auf nehmen kann. Sitzen AD(H)S-Kinder in den hinteren Reihen, besteht die Gefahr, dass sie ständig abgelenkt werden von dem, was sich direkt vor ihnen abspielt.«
ARNO BACKHAUS
Von Gleichaltrigen wird das Verhalten von Kindern mit AD(H)S als störend oder unangemessen empfunden. Folglich haben die Betroffenen weniger Freunde, werden weniger wertgeschätzt und öfter abgewiesen, besonders von Kindern mit hohem Ansehen in der Gruppe. Es ist erschreckend, wie schnell AD(H)S-Kinder auffallen und in der Gefahr stehen, ausgeschlossen zu werden! Bei Untersuchungen in einem Sommercamp erfuhren sie schon am Ende des ersten Tages verstärkt Ablehnung. Ein anderes Mal beklagten sich Gruppenmitglieder bereits nach wenigen Minuten über das Verhalten eines neu hinzugekommenen AD(H)S-Kindes.
»Da AD(H)S-Kindern oft Ablehnung entgegengebracht wird, machen sie sehr früh die Erfahrung: Ich bin anders! Das wirkt sich auf ihr Selbstwertgefühl aus, verursacht ein negativ geprägtes Selbstbild und macht es für sie besonders anstrengend, in Gemeinschaft zu leben. Diese Anstrengung führt bei ihnen schnell zu seelischer und körperlicher Erschöpfung.«
ARNO BACKHAUS
Stichwort: Identität und Selbstwert (S. 167)
Lernschwierigkeiten und Verhaltens- und Sozialprobleme von AD(H)S-Kindern sind in der Regel dicht miteinander verwoben. Zusammen erklären sie die negativen Folgen: gehäuftes Wiederholen einer Klasse, seltenere Schul- und Universitätsabschlüsse, ein insgesamt niedrigeres Ausbildungsniveau und Berufe mit geringerem sozialen Status. Im Berufsleben geht es dann oft weiter mit höheren Entlassungsraten und häufigerem Stellenwechsel.
»Neben den hyperaktiven gibt es allerdings auch die stilleren AD(H)S-Kinder. Das sind Kinder, die – wenn der Unterricht langweilig oder besonders schwierig wird oder Daueraufmerksamkeit gefordert wird – aussteigen und träumen, nicht stören, sondern ihren eigenen Gedanken nachhängen. Sie fallen oft erst in der späteren Schulzeit auf, wenn sie mit ihren Leistungen weit unter ihrem Intelligenzniveau bleiben oder wenn sie zu Hause und im Leben einfach nicht vorankommen.«
VISNJA LAUER
Behandlungsmöglichkeiten
Wenden wir uns nun den Behandlungsmöglichkeiten von AD(H)S zu. Insbesondere die medikamentöse Behandlung der Störung ist immer wieder Gegenstand hitziger Debatten.
Medikamentöse Therapien
Derzeit gibt es keine Störung in der Psychiatrie, die so gut behandelbar ist wie AD(H)S. Das liegt vor allem an der sehr guten Wirksamkeit der Medikamente.
Prof. Russell A. Barkley zufolge gibt es derzeit keine Störung in der Psychiatrie, die so gut behandelbar ist wie AD(H)S. Das liegt vor allem an der sehr guten Wirksamkeit der eingesetzten Medikamente. Es werden in erster Linie Psychostimulanzien verabreicht, die den Dopaminstoffwechsel im Gehirn beeinflussen. Sie verbessern die Verfügbarkeit dieses Botenstoffs für die Informationsweiterleitung von Nervenzelle zu Nervenzelle und gleichen damit den relativen Mangel an Dopamin in den betroffenen Regelkreisen aus. Zu diesen Wirkstoffen gehören Methylphenidat (MPH), vielen als Ritalin bekannt, und D-L-Amphetamin, die beide seit Mitte des letzten Jahrhunderts verwendet werden. Bei optimaler Dosierung profitieren etwa 85 % der behandelten Kinder von diesen Medikamenten. MPH stellt dabei das Mittel der ersten Wahl für die medikamentöse Behandlung dar.
Die Wirksamkeit medikamentöser und nichtmedikamentöser Therapien im Vergleich
Die wichtigste von Barkley und anderen durchgeführte MTA-Studie ist hier aufschlussreich: Dort wurde eine auffallende Überlegenheit der Wirkung einer medikamentösen Behandlung mit MPH auf die AD(H)S-Symptomatik und auf oppositionell-aggressives Verhalten festgestellt. Selbst die Ergänzung der MPH-Therapie durch eine Verhaltenstherapie brachte keinen zusätzlichen Effekt! Bei allem Psychotherapie-Optimismus kann und darf man dieses Ergebnis nicht vom Tisch wischen.
Nebenwirkungen treten bei der Behandlung mit MPH im normalen Dosisbereich nur selten und überwiegend in der Einstellungsphase auf. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören: Appetitminderung, Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen, Missstimmung, Weinerlichkeit oder, seltener, das Auftreten oder die Verschlechterung von Tics. Diskutiert wird, ob und in welchem Ausmaß MPH das Längenwachstum beeinträchtigt. Im Widerspruch zu zahlreichen Medienberichten in den letzten Jahren konnten in Langzeitstudien bisher keine negativen psychischen oder körperlichen Auswirkungen durch die Therapie mit Stimulanzien festgestellt werden.
»Jede AD(H)S-Symptomatik hat ihr eigenes Gesicht und ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie muss deshalb durch qualifizierte Fachärzte sehr genau diagnostiziert werden. Da bei AD(H)S ein relativer Mangel an Dopamin in bestimmten Regionen des Gehirns besteht, kann man mit Medikamenten einiges erreichen. Vielen AD(H)S-Betroffenen können Medikamente helfen, sich zu konzentrieren, das Wirrwarr im Kopf zu ordnen und endlich zur Ruhe zu kommen, und sie kommen gut damit zurecht. Man sollte aber unbedingt einen kompetenten Facharzt für die Behandlung mit entsprechenden Medikamenten aufsuchen. Der Arzt muss diese sehr genau, gemäß seinen Untersuchungen, auf den Patienten einstellen und abstimmen. Grundsätzlich gilt: Medikamente können helfen, aber die biologische Ursache nicht heilen.«
ARNO BACKHAUS
Stimulanzien und Suchtentwicklung
Die Verordnung der Psychostimulanzien erfolgt auf einem BTM-Rezept, da sie den Bestimmungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung unterliegt. Das mag einige schockieren, hat aber mehr historische Gründe. Die Gabe von Stimulanzien galt lange als Risiko für eine spätere Suchtentwicklung. In Studien wurde jedoch gezeigt, dass die Einnahme von MPH nicht zu einer Abhängigkeitsentwicklung führt oder beiträgt. Vielmehr scheint sie das Risiko für eine frühzeitige Nikotin-, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sogar zu vermindern.
In Studien wurde gezeigt, dass die Gabe von MPH nicht zu einer Abhängigkeitsent wicklung führt oder beiträgt. Vielmehr scheint sie das Risiko für eine frühzeitige Nikotin-, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit zu vermindern.
Auch bei Erwachsenen stellt der Einsatz von MPH nach deutschen Leitlinien die medikamentöse Behandlung der ersten Wahl dar. Untersuchungen belegen eine gute Wirksamkeit. Allerdings ist MPH noch nicht für die Behandlung ab 18 Jahren zugelassen; das entsprechende Genehmigungsverfahren läuft zurzeit. Die Verschreibung ist aber dennoch erlaubt. Man spricht dann von Off-Label-Use. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten in der Regel nicht.
Atomoxetin
Seit 2005 wird in Deutschland auch der Wirkstoff Atomoxetin eingesetzt, der sich in Studien ebenfalls als effektiv erwiesen hat. Atomoxetin wirkt im Gegensatz zu MPH über 24 Stunden. Dafür tritt die volle Wirkung erst einige Wochen nach Einnahmebeginn ein. Als Nebenwirkung soll besonders auf das Auftreten von Suizidgedanken und Leberwerterhöhungen geachtet werden. Die Wirkstärke von Atomoxetin ist nicht so hoch wie die von MPH. Aber unter bestimmten Umständen, beispielsweise wenn eine 24-Stunden-Wirkung dringend erforderlich erscheint oder bei begleitender Tic- oder Angststörung, kommt es als Wirkstoff der ersten Wahl infrage.
Für den Einsatz bei Erwachsenen ist Atomoxetin nur dann zugelassen, wenn die Behandlung vor dem 18. Geburtstag begonnen wurde. Die Verschreibung kann aber als Off-Label-Use dennoch erfolgen, wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird.
Andere Wirkstoffe
Auf weitere Medikamente soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Sie werden nur bei einem wesentlich kleineren Prozentsatz der Betroffenen eingesetzt, bei denen die beschriebenen Wirkstoffe nicht den gewünschten Effekt haben, nicht angewendet werden dürfen oder bei denen Begleiterkrankungen bestehen. Vorzugsweise bei Erwachsenen werden zum Beispiel spezielle Antidepressiva verordnet.
»Es gibt Menschen, die Hanna und mir gesagt haben, dass sie ihrem Kind nie mehr Ritalin geben werden. ›Da will ich lieber einen Zappelphilipp als einen so vor sich hin träumenden Jungen, den ich gar nicht mehr wiedererkenne.‹ Bei anderen hat nach der Einnahme von Medikamenten das Leben wieder Einzug gehalten. Ob eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, richtet sich vor allem nach dem Leidensdruck des Patienten und seiner Umwelt. Kommt ein Patient gut damit zurecht, kann es ihm ein ganz neues Lebensgefühl vermitteln. Es hat mal jemand gesagt, die Wirkung der Medikation könne etwa so dramatisch sein wie ›eine Brille bei einem Kurzsichtigen‹.
ARNO BACKHAUS
Die multimodale Therapie
Ich habe nun so viel über Medikamente geschrieben, dass ein falscher Eindruck entstehen könnte. Natürlich wäre es wünschens- und erstrebenswert, ohne jegliche »Chemie« auszukommen. Dennoch lässt sich die Gabe von Medikamenten durch beratende Gespräche oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht vermeiden.
Die Leitlinien der Fachgesellschaften sehen die Einbettung einer medikamentösen Behandlung in ein multimodales Behandlungskonzept vor. Ein solches Konzept soll alle beeinträchtigenden Verhaltensweisen und Problembereiche des Patienten berücksichtigen und die zu deren Therapie erforderlichen verschiedenen Behandlungsmethoden kombinieren.
Grundlage einer multimodalen Behandlung sind eingehende Gespräche – nicht nur mit den Eltern, sondern auch mit den Kindern, sofern sie ein entsprechendes Alter erreicht haben, und gegebenenfalls mit Erziehern oder Lehrern. Diese Basismaßnahme wird Psychoedukation genannt. Sie beinhaltet die Aufklärung über die Störung, deren Entstehung, Behandlungsmöglichkeiten und Verlauf. Außerdem findet in der Psychoedukation eine Erörterung und Vermittlung von hilfreichen Verhaltensweisen im Umgang miteinander statt, die die AD(H)S-spezifischen Besonderheiten des Kindes berücksichtigen.
Die in der Psychoedukation entwickelten Handlungsstrategien werden bei Bedarf durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen vertieft. Idealerweise sollte die Verhaltenstherapie konkret an den problematischen Verhaltensweisen ansetzen und diese dort bearbeiten, wo sie auftreten: im Kindergarten, in der Schule und/oder in der Familie. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, ist spätestens jetzt der Zeitpunkt für eine medikamentöse Behandlung gegeben. Bei stark ausgeprägter Symptomatik mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Patienten oder seines Umfeldes sollte jedoch sofort damit begonnen werden.
Wann verhaltenstherapeutische Maßnahmen sinnvoll sind
In der öffentlichen Meinung wird eine Behandlung mit Psychostimulanzien ohne begleitende Verhaltens- oder sonstige Psychotherapie nicht selten sehr kritisch gesehen und mitunter tendenziell schon fast als Kunstfehler erachtet. Dieser Bewertung muss mit Nachdruck widersprochen werden. Wenn die Kombination aus psychoedukativen Gesprächen und Medikamenteneinnahme gut wirkt und keine wesentlichen Beeinträchtigungen mehr bestehen, sind zusätzliche Interventionen nicht erforderlich. Dennoch halte ich persönlich begleitende verhaltenstherapeutische Maßnahmen grundsätzlich für sinnvoll und erstrebenswert. Mit dem IntraActPlus-Konzept von Fritz Jansen und Uta Streit, einem videogestützten Therapieansatz, habe ich in dieser Hinsicht sehr gute Erfahrungen gemacht.4 In einer Minderzahl der Fälle können verhaltenstherapeutische Maßnahmen in Verbindung mit psychoedukativen Beratungen als Behandlung für die AD(H)S-Problematik ausreichen. Die Verhaltenstherapie hat darüber hinaus einen hohen Stellenwert, wenn die Effekte der medikamentösen Behandlung nicht zufriedenstellend sind, die Störung stark ausgeprägt ist oder Begleitstörungen auftreten. Dann kommen natürlich auch zahlreiche andere Psychotherapieverfahren zum Einsatz.
»Ich selbst habe nie ein AD(H)S-Medikament eingenommen und komme bisher meistens gut zurecht. Allerdings arbeite ich auch schon seit meinem 16. Lebensjahr intensiv an meinem Verhalten. Unser Sohn Fabian hat Medikamente nur während seiner Ausbildungszeiten eingenommen.«
ARNO BACKHAUS
Andere Behandlungsansätze
Auf andere Behandlungsansätze werde ich nicht näher eingehen. Sie haben sich entweder als nicht oder nur sehr gering wirksam (wie die Homöopathie), als gefährlich (wie AFA-Algen) oder als in ihrer Wirkung noch nicht abschließend beurteilbar (wie die Gabe bestimmter Nährstoffe, etwa Omega-3-Fettsäuren) erwiesen. Auch die in einzelnen Studien beschriebene gute Wirksamkeit eines Neurofeedback-Trainings, eines Biofeedbackverfahrens, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Vielleicht ist der eine oder andere von Ihnen überrascht, dass die Ergotherapie bisher mit keinem einzigen Wort erwähnt worden ist. Sie hat einen unbestreitbaren Stellenwert bei der Behandlung der verschiedenen Entwicklungsstörungen, die bei Kindern mit AD(H)S gehäuft auftreten. Es gibt aber keine kontrollierten Studien, die eine eindeutige Verbesserung der Kernsymptome belegen. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen hier andere Erfahrungen gemacht. Das würde mich persönlich nicht verwundern, vor allem, wenn ein Ergotherapeut sein Vorgehen streng nach den Lerngesetzen ausrichtet. Er arbeitet dann aber eigentlich verhaltenstherapeutisch, wie die Ergotherapeuten, die das IntraActPlus-Konzept von Jansen und Streit anwenden.