Kitabı oku: «Ach du Schreck! AD(H)S», sayfa 3
Persönliche Erfahrungswerte
Vor etwa 14 Jahren ist mir klar geworden, was AD(H)S eigentlich bedeutet. In gewisser Weise war das eine kognitive und emotionale Erleuchtung. Ich begegnete damals auf einem Spezialseminar betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern, hörte und verstand erstmals deren Probleme, Nöte und Enttäuschungen. Übereinstimmend wurde von den betroffenen Familien über unzählige Therapieversuche mit den verschiedensten Behandlungsverfahren berichtet. Die Eltern waren mit ihren Kindern ohne Erfolg von Pontius zu Pilatus gelaufen und über ein normales Maß hinaus bemüht und engagiert gewesen.
Eine medikamentöse Behandlung mit MPH erbrachte nicht mehr für möglich gehaltene Verbesserungen der Symptomatik und eine erhebliche Entlastung der Betroffenen und ihrer Familien.
Dabei hatten sie sich durchgehend Vorhaltungen ausgesetzt gesehen, durch ihre Erziehung für die Ausprägung der Störung zumindest erheblich mitverantwortlich zu sein. Verzweiflung und Resignation hatte sich bei einigen breitgemacht. Dann aber hatten die meisten doch noch einen Durchbruch erlebt: Eine medikamentöse Behandlung mit MPH erbrachte nicht mehr für möglich gehaltene Verbesserungen der Symptomatik und damit einhergehend eine erhebliche Entlastung der Betroffenen und ihrer Familien.
Ich möchte betonen, dass es sich damals nicht um eine von der Pharmaindustrie gesponserte Veranstaltung handelte. Zu dieser Zeit war die pharmazeutische Industrie in Deutschland überhaupt nicht aktiv in Sachen AD(H)S und medikamentöser AD(H)S-Behandlung. Das einzige damals auf dem deutschen Markt angebotene Fertigarzneimittel war das Methylphenidatpräparat Ritalin. Von der Herstellerfirma wurde es aber nicht aktiv bei Ärzten etc. beworben. Das hat sich erst in den letzten Jahren dramatisch geändert. In der Zwischenzeit hat man mehrere Nachahmerpräparate auf den Markt gebracht, vermehrt auch Zubereitungen, die den Wirkstoff verzögert freisetzen und seltener am Tag verabreicht werden müssen.
In meinem Berufsalltag wiederholte sich das Erleben der oft durchschlagenden, positiven Wirkung von MPH im Leben Betroffener ständig.
Dass es aber überhaupt so weit kam und die Pharmaindustrie ein großes Geschäft zu wittern und zu handeln begann, lag an den stark gestiegenen Verordnungszahlen von MPH durch eine noch überschaubare Zahl von Ärzten, zu denen auch ich gehörte. Diese Kollegen hatten vermutlich dieselben Erfahrungen wie ich gemacht.
Erfolg medikamentöser Therapien
In meinem Berufsalltag wiederholte sich das Erleben der oft durchschlagenden, positiven Wirkung von MPH im Leben Betroffener ständig. Das, was ich seinerzeit auf dem oben beschriebenen Seminar staunend und fragend zugleich erlebt hatte, wurde auch in meinem beruflichen Alltag beinahe uneingeschränkt bestätigt, wenn die Kinder richtig eingestellt, also nicht über- oder unterdosiert waren. Es beeindruckt auch Ärzte stark, wenn Kinder in ihrem Leben wieder in die richtige Spur finden, Schulwechsel, Sonderbeschulungen, die Herausnahme von Kindern aus Familien verhindert werden, Kinder wieder Freude am Leben und Freunde finden, Eltern wieder Hoffnung entwickeln und Spaß im Umgang mit dem Nachwuchs haben. Können Sie ermessen, was das für diese Kinder und deren Familien bedeutet? Da bekommt das Leben in positiver Weise eine neue Richtung, und das oft so einschneidend, wie bei kaum einer anderen Behandlungsform.
Rückmeldung einer Mutter
Ich möchte an dieser Stelle die E-Mail-Rückmeldung einer Mutter wiedergeben. Wenige Tage zuvor hatte sie mit der medikamentösen Therapie ihres Sohnes begonnen. Sie hatte geweint, als ich ihr eine solche Maßnahme nahelegte. In der Vergangenheit hatte sie sich erfolglos durch verschiedene alternative, »ganzheitliche« Therapieansätze Hilfe erhofft. Eine Behandlung mit MPH stand ganz im Gegensatz zu ihrer bisherigen Sichtweise und ihrem Lebenskonzept:
Michael (Name geändert) ist im Ganzen viel ruhiger und zentrierter. Das ständige Zappeln der Beine hat ganz aufgehört. Er ist nicht mehr so impulsiv, wenn es darum geht, seine Bedürfnisse durchzusetzen. Vor der Einnahme der Tabletten äußerte sich das in Wutanfällen, jetzt wirkt er eher nachdenklich und ist empfänglich für Gegenargumente und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass er versteht, was ich ihm sage. Er sagt selbst, dass es ihm mit den Tabletten besser geht und dass er seinen Tag besser regeln kann. Am Wochenende hat er sehr ausdauernd Mathematik für die anstehende Arbeit geübt. In dieser Form habe ich das noch NIE!!! bei ihm erlebt. Er wirkt viel entspannter und fröhlicher, ist nicht mehr so »getrieben«. In der Schule hat er sich von den Krawallmachern distanziert.
Nicht wenige Menschen haben Bilder ruhiggestellter, dumpf auf Ansprache reagierender Personen mit starrem Gesichtsausdruck vor Augen, wenn von Medikamenten die Rede ist, die die Psyche beeinflussen. Diese Vorstellung lässt sich in den Beschreibungen der Mutter nicht wiederfinden. Sie berichtet von einem Kind, das befreit wirkt. Wie viele tief greifende Verhaltensänderungen des Jungen beschreibt sie in diesem kurzen Abschnitt! Seine Chancen, mit guten (Selbstwert-) Gefühlen in gelingenden Beziehungen zu leben, sind durch die medikamentös bewirkten Veränderungen seines Verhaltens gestiegen und ihm und seinen Eltern wird es ungleich viel besser gehen.
Ein Energieproblem: mehr Anstrengung für die gleiche Leistung
Kritiker sprechen immer wieder skeptisch von oberflächlichen Wirkungen eines Medikamentes. Was meinen sie damit, wo die Wirkungen doch oft so tief greifend sind? Bezieht sich der Ausdruck »oberflächlich« womöglich darauf, dass nur bei einer bestimmten Wirkstoffkonzentration eines eingenommenen Medikamentes im Blut anderes Verhalten gezeigt wird, scheinbar ohne bewusste, angestrengte und zielgerichtete Mitarbeit des Betroffenen als Ausdruck seiner Motivation und inneren Haltung von Eigenverantwortlichkeit?
AD(H)S-Betroffene haben ein Energieproblem. Im Vergleich mit Nichtbetroffenen braucht ihr »Motor« mehr »Kraftstoff« für die gleiche Leistung. Medikamente können diese Beeinträchtigung grundlegend vermindern und das Leben erleichtern.
Jedes menschliche Tun, egal ob Handeln, Denken oder Fühlen, hinterlässt Spuren im Gehirn.
AD(H)S-Betroffene haben unter dem Strich ein Energieproblem. Im Vergleich mit Nichtbetroffenen braucht ihr »Motor« mehr »Kraftstoff« für die gleiche Leistung. Er arbeitet mit geringerem Wirkungsgrad, weshalb AD(H)S-Betroffene zum Erlernen und Beherrschen vieler lebenswichtiger Kompetenzen und schulischer Inhalte in der Regel mehr Anstrengung und Energie aufbringen müssen. Sie müssen also ohnehin stärker motiviert sein, um im Idealfall das Gleiche zu erreichen. Die bereits beschriebenen Medikamente, die auf bestimmte neuronale Funktionsabläufe einwirken, können diese Beeinträchtigung grundlegend vermindern und Lernen – und in der Folge das Leben – erleichtern. Auch im Rahmen einer Psychotherapie kann dann wirkungsvoller gelernt und neues Verhalten aufgebaut werden.
»Eines der schwierigsten Dinge im Leben eines Menschen mit AD(H)S ist es, einen Anfang zu finden. AD(H)Sler schieben zu erledigende Aufgaben endlos vor sich her – oft so lange, bis eine Katastrophe unausweichlich ist. Extremer Druck kann dann entweder den ›Kick‹ bringen, endlich in die Gänge zu kommen, oder den Betroffenen schier verzweifeln lassen. Dieser Mangel an Motivation hat aber nichts mit Disziplinlosigkeit zu tun. Er kann nicht ›mit etwas gutem Willen‹ behoben werden. Ein Mensch mit AD(H)S braucht ein überdurchschnittliches Maß an Stimulation und Eigenmotivation, um gute Leistungen zu erbringen. Begeisterung kann einen AD(H)Sler in die Lage versetzen, außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen, was bei Außenstehenden zu der üblichen Reaktion führt: ›Siehst du, du kannst ja, wenn du nur willst.‹«
ARNO BACKHAUS
Verhalten beeinflusst die Struktur und Funktion des Gehirns
Ein weiterer Gedanke ist mir in diesem Zusammenhang aber noch wichtiger. Menschlichem Verhalten liegen bestimmte Strukturen und Funktionsabläufe im Gehirn zugrunde. Dabei handelt es sich aber keinesfalls um eine Einbahnstraße. Das Gehirn steuert das Verhalten, aber jedes menschliche Tun, egal ob Handeln, Denken oder Fühlen, hinterlässt auch Spuren im Gehirn! Es war bereits davon die Rede, dass Interaktionen mit der Umwelt auf Struktur und Funktion des Gehirns einwirken. Das gilt im selben Maße für das eigene Verhalten. Je häufiger bestimmte Verhaltensweisen wiederholt werden, desto schneller, ökonomischer und automatischer laufen sie ab. Das kennen Sie alle, beispielsweise vom Erlernen des Autofahrens, einer Sportart oder einer Sprache. Diese Beschleunigung und Automatisierung von Abläufen ist das Ergebnis neuronaler Umbauprozesse. Dabei unterscheidet das Gehirn nicht zwischen gut oder schlecht. Wenn Handlungsweisen, egal ob günstige oder ungünstige, oft wiederholt werden, scheinen sie wichtig zu sein, und deshalb wird die Effizienz der zugrunde liegenden Hirnfunktionsabläufe verbessert. Das ist biologisch ja überaus sinnvoll. In letzter Konsequenz macht jede Wiederholung eines bestimmten Verhaltens in einer speziellen Situation eine erneute Wiederholung noch wahrscheinlicher. Ausgelebte Wut bahnt neuer Wut den Weg, empfundene Traurigkeit neuer Traurigkeit. Nichtanstrengung bei Anforderungen bringt Nichtanstrengung, Unaufmerksamkeit bringt Unaufmerksamkeit hervor. Auf diese Art und Weise wird ein Mensch so, wie er lebt. Der Actus (das Handeln) wird zum Habitus (der inneren Haltung), schrieb der bekannte Psychiater Viktor Frankl schon in einer Zeit, in der man dem Gehirn noch nicht durch bildgebende Verfahren quasi beim Arbeiten zuschauen konnte oder von neuronalen Umbauprozessen wusste.
Wenn wir mit diesem Wissen zu unserem »Beispielkind« Michael zurückkehren, wird deutlich, wie unterschiedlich sich seine mit oder ohne Medikamente stark differierenden Verhaltensweisen auf sein Gehirn und damit auf sein Leben und Wesen auswirken werden. Allein durch permanente Wiederholung! Das ist einer der Gründe, weshalb ich persönlich die Wortwahl »nur oberflächliche Wirkungen eines Medikaments« nur schwer ertragen kann.
In letzter Konsequenz macht jede Wiederholung eines bestimmten Verhaltens eine erneute Wiederholung noch wahrscheinlicher.
Unter diesen Gesichtspunkten werden Sie vielleicht nachvollziehen können, warum ich mich bei entsprechenden Symptomen bei einem Kind auch dann zu einer medikamentösen Behandlung entschließe, wenn seine Eltern wenig Bereitschaft zeigen, ihr eigenes Verhalten zu verändern oder sich für das Kind anzustrengen. Kinder darf man nicht für die Unreife und das Versagen ihrer Eltern verantwortlich machen. Man darf ihnen wirksame Hilfe nicht vorenthalten, zumal sie in diesem Alter biologisch noch nicht in der Lage sind, in vollem Umfang Verantwortung für sich selbst zu tragen.
Die Bedeutung unserer heutigen Lebensgewohnheiten
Vor dem Hintergrund der Zusammenhänge von Verhalten und strukturellen und funktionellen Veränderungen des Gehirns lassen sich einige eindeutige Aussagen über die mögliche Bedeutung unserer heutigen Lebensgewohnheiten auf die Entstehung und Ausprägung von AD(H)S treffen. Was wird beispielsweise trainiert, wenn Menschen beim Essen herumlaufen oder bei allen möglichen Gelegenheiten nebenbei essen?
Wir leben paradoxerweise in einer Zeit, die die Entwicklung von AD(H)S-Symptomen einerseits eindeutig fördert, sie andererseits aber den Betroffenen immer weniger verzeiht.
Wenn sie ganz allgemein mehrere Dinge gleichzeitig tun, beim Fernsehen herumzappen, sich nicht in die Augen schauen, wenn sie sich begrüßen, die Hand geben oder miteinander reden, Filme mit immer schnelleren Bildwechseln ansehen oder bei Computerspielen teilweise stundenlang in rasantem Tempo unmittelbar und schnell auf kurze und intensive Reize reagieren? Wenn in Schulen gezielt Themen- und Medienwechsel eingesetzt werden, um die Konzentration der Schüler aufrechtzuerhalten oder neu zu gewinnen? Aufmerksamkeit, vor allem Daueraufmerksamkeit, wird bei diesen Tätigkeiten sicher nicht eingeübt. Bei vielen wird Unaufmerksamkeit sogar regelrecht trainiert! So leben wir paradoxerweise in einer Zeit, die die Entwicklung von AD(H)S-Symptomen einerseits eindeutig fördert, sie andererseits aber den Betroffenen immer weniger verzeiht.
»Einer Studie von Wissenschaftlern des Children’s Hospital and Regional Medical Centre in Seattle zufolge scheint Fernsehkonsum im Alter zwischen ein und drei Jahren, also in einer Zeit, in der das Gehirn stark wächst, zur Enstehung von Aufmerksamkeitsproblemen beizutragen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Kinder im Alter von einem Jahr durchschnittlich 2,2 Stunden, im Alter von drei Jahren durchschnittlich 3,6 Stunden am Tag vor dem Fernseher saßen. Sie fanden heraus, dass für ein Kind, das im Alter von einem Jahr eine Stunde pro Tag länger als der Durchschnitt fernsieht, die Wahrscheinlichkeit um 28 % zunimmt, im Alter von sieben Jahren unter Aufmerksamskeitsdefiziten zu leiden. Gleiches ließ sich über Kinder im Alter von drei Jahren sagen.5
Dazu kommt, dass Kinder ihre Aggressionen und ihren Bewegungsdrang früher im Freien abbauten. Heute spielen viele Kinder nicht mehr selbst, sie lassen spielen – im Fernsehen, auf DVDs, in Computerspielen. Sie können ihre Aggressionen nicht mehr draußen abreagieren und lassen sie deshalb an den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung aus.«
ARNO BACKHAUS
Neulich hatte ich ein kurzes, aber erhellendes Gespräch mit einer 22-Jährigen. Sie ist Deutsche, im Sudan geboren, in Kenia aufgewachsen, und hat Deutschland nach ein oder zwei Semestern Studium in Richtung Holland verlassen. Sie habe sich an vielen Stellen anders verhalten als die jungen Menschen in ihrer Umgebung, berichtete sie. Man habe ihr Verhalten als unangemessen empfunden, wo sie doch so deutsch aussehe und einen urdeutschen Namen trage. Einer fremd Aussehenden hätte man vermutlich mehr verziehen.
AD(H)S-Betroffene sehen aus wie Sie und ich, aber sie verhalten sich überdurchschnittlich oft unangemessen. Von der Umgebung wird das sehr sensibel und fein registriert und bewertet – ganz überwiegend unbewusst – und häufig mit Ablehnung quittiert.
Worterklärungen
Aggressiv-dissoziale Störungen.
Das Hauptmerkmal der aggressivdissozialen Störungen des Sozialverhaltens ist ein sich wiederholendes und durchgängiges Verhaltensmuster, bei dem die grundlegenden Rechte anderer sowie wichtige altersentsprechende soziale Normen und Regeln verletzt werden.
Antisoziale Persönlichkeitsstörung .
Sie ist gekennzeichnet durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und ein herzloses Unbeteiligtsein an den Gefühlen anderer. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Die Frustrationstoleranz ist gering und die Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten ist niedrig.
Oppositionelle Verhaltensstörungen .
Hauptmerkmal der oppositionellen Verhaltensstörungen ist ein Muster von wiederkehrenden ablehnenden, trotzigen, ungehorsamen und feindseligen Verhaltensweisen gegenüber Autoritätspersonen, das mindestens sechs Monate lang andauert. Die Kinder werden schnell wütend, streiten sich sehr häufig mit Erwachsenen, widersetzen sich aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen und weigern sich, diese zu befolgen. Sie verärgern andere vorsätzlich und schieben die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere. Sie sind reizbar, reagieren häufig zornig, ärgern sich schnell und lassen sich von anderen leicht ärgern.
Persönlichkeitsstörungen.
Persönlichkeitsstörungen sind verschiedene überdauernde Erlebens- und Verhaltensmuster mit Beginn in der Kindheit und Jugend, die von einem flexiblen, situationsangemessenen (»normalen«) Erleben und Verhalten in jeweils charakteristischer Weise abweichen. Sie sind durch relativ starre gedankliche Reaktionen und Verhaltensformen gekennzeichnet, vor allem in Situationen, die für die jeweilige Person konflikthaft sind. Die persönliche und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit ist meistens beeinträchtigt.
Tic.
Ein Tic ist eine kurze und unwillkürliche, regelmäßig oder unregelmäßig wiederkehrende motorische Kontraktion (Zusammenziehung) einzelner Muskeln oder Muskelgruppen, in einfacher Form z. B. als Stirnrunzeln, Augenblinzeln, Hochziehen der Augenbrauen, Räuspern, Hüsteln oder Schniefen. Die schwerste und deshalb eindrücklichste Verlaufsform wird als Tourette-Störung bezeichnet.
Eine Kindheit mit AD(H)S
1950 bin ich in Frankenberg an der Eder geboren, einem gemütlichen Städtchen zwischen Kassel und Marburg. Dort blieb ich mit meinen Eltern und meiner neun Jahre älteren Schwester bis zu meinem 5. Lebensjahr.
Immer in Bewegung, ständig »auf Schuss«
Meine Schwester erzählte mir mal, dass sie mit mir jeden Sonntag, während meine Eltern den Gottesdienst besuchten, ins Kino gehen musste. Das war der einzige Ort, an dem ich ruhig war. Im Gottesdienst war ich wegen der Eintönigkeit zu unruhig und mischte nach kurzer Zeit die Leute auf. Auch erzählte mir meine Schwester, dass meine Mutter mich manchmal zu Hause festband, damit sie in Ruhe arbeiten konnte.
»In Arnos Leben lernen wir die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit Hyperaktivität in ihrer typischen Ausprägung kennen. Darum sind die Symptome und Ereignisse in Arnos Leben nicht auf alle AD(H)S-Betroffenen übertragbar, vor allem solche, die eine Aufmerksamkeits-Defizit-Störung ohne Hyperaktivität oder mit geringer Ausprägung haben.«
VISNJA LAUER
Streit mit der Schwester
An die Frankenberger Zeit habe ich nicht viele Erinnerungen, nur die, dass ich mich mit meiner Schwester heftig gezankt, gestritten und geschlagen habe. Sicher habe ich sie auch oft provoziert und geärgert, sodass es ständig zu Konflikten kam. Da ich sehr schnell und wendig war, lief ich immer um unseren Wohnzimmertisch herum, und hier hatte meine Schwester kaum eine Chance, mich zu erwischen. Wenn sie mich festhalten konnte, musste ich natürlich einiges einstecken; sie kratzte mich mit ihren Fingernägeln, und ich riss an ihren Haaren. Wenn der Streit mit ihr aussichtslos war, biss ich manchmal auch in ihre Hand.
Spiel mit dem Feuer
Auf unserem Wohnzimmertisch stand zur Weihnachtszeit ein Adventskranz mit vier Kerzen, und über unserem Tisch hing eine Lampe mit langen Fransen. Irgendwann spielte ich mal wieder mit den Kerzen herum, kam an die Fransen, und die Lampe brannte lichterloh. Zum Glück konnte mein Vater den Brand löschen, kurz bevor es zu einer Katastrophe kam.
Talfahrt
Als Kind (und ganz besonders als AD(H)Sler, was ich damals natürlich noch nicht wusste) war ich ständig »auf Schuss«. Unser Haus stand am Berg, und der war ideal zum Runterfahren.
Ich fiel mehr als ich ging, und ich blutete ständig irgendwo.
Ich stellte mich auf einen Handwagen, klappte die Deichsel hoch und rollte dann den Berg herunter. Dabei überschlug ich mich oft oder fiel und rutschte den Schotterabhang hinunter. An die Schmerzen der kleinen Schottersteine in meinen Beinen (als Kind trug ich fast nur kurze Hosen) kann ich mich noch heute sehr gut erinnern. Überhaupt fiel ich mehr als ich ging, und ich blutete ständig irgendwo.
»Was Arno aus seiner frühen Kindheit erzählt, ist für AD(H)S-Kinder mit der hyperaktiven Ausprägung leider nicht ungewöhnlich. Er war nur dort ruhig, wo etwas Interessantes stattfand, er war ununterbrochen in Bewegung, und die Mutter wusste nie, ob ihm nicht etwas in den Sinn kam, was für ihn und auch für andere gefährlich werden konnte. Hinzu kamen die Streitereien mit der Schwester, wo er sich, einmal in Fahrt geraten, nicht mehr zurücknehmen konnte. Alles zusammen bedeutete für die gesamte Familie ein erhöhtes Stressniveau im Alltag. Mit der Zeit stellten sich wahrscheinlich schon bei dem Gedanken an Arno ungute Gefühle ein. So lässt sich zumindest nachvollziehen, wie Arnos Mutter, die häufig in eine Situation geriet, die sie überforderte, impulsiv zu schädlichen Reaktionen ihrem Kind gegenüber kommen konnte – auch wenndas auf keinen Fall eine Entschuldigung für den beschriebenen Umgang mit Arno sein soll!«
VISNJA LAUER
Stichworte: Aktivierung (S. 152); Die exekutiven Funktionen (S. 153); Die unbewusste Verarbeitung von Informationen (S. 159); Familiensituation (S. 169)
Einzelgänger
Von meiner Mutter bin ich nie getröstet, sondern immer nur mit Vorwürfen überschüttet worden. Diese Erfahrung und viele andere, die im Laufe der Zeit dazukamen, haben in mir ein ganz tiefes Einsamkeitsgefühl und Urmisstrauen entstehen lassen. In entscheidenden Momenten konnte ich mich auf keinen verlassen oder zurückgreifen. Ich musste lernen, allein klarzukommen. Dieses Gefühl hatte zur Folge, dass ich immer mehr zum Einzelgänger und Einzelkämpfer wurde. Das führte dann dazu, dass ich es in einem Team später immer schwer hatte, bzw. die anderen es mit mir schwer hatten, wie etwa die Band von »Arno & Andreas«, mit der ich 20 Jahre lang auf Tour war, aber auch die unterschiedlichen Teams in unserer Kirchengemeinde. Ich wollte lieber eigene Wege gehen. Bei mir wusste ich wenigstens, woran ich war.
Das Gefühl: Ich bin »falsch«
Von Geburt an habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich nicht auszuhalten bin, dass ich störe und »falsch« bin. Das hat sich ganz tief in mich eingebrannt, wie ein Brandmal, eine Narbe: Alles, was ich mache, ist falsch, schlecht, nicht gut genug, zu spät, zu schnell, zu laut, zu leise, zu teuer, zu aggressiv, zu kurz, zu lang.
Es war ja doch alles falsch, was ich anfasste.
Nichts passte, nichts stimmte. Um mit diesen Vorwürfen und dieser Grundbefindlichkeit klarzukommen, baute ich mir meine eigene Welt auf. Meine eigenen Vorstellungen waren für mich der Maßstab. Ich hörte auf keinen mehr, es war ja doch alles falsch, was ich anfasste. Es dauerte sehr lange, bis ich gelassener, kooperativer und teamfähiger wurde.
Stichwort: Identität und Selbstwert (S. 167)
Gefährliche Experimentierfreude
Als wir später in Kassel wohnten, schickten meine Eltern mich regelmäßig in den Osterferien zu meinem Onkel und meiner Tante nach Frankenberg, sicher zu ihrer Entlastung und auch zu meiner Entspannung. Aber ganz so locker ging es da nicht zu. Mein Onkel und meine Tante, die direkt an der Eder, einem kleinen Fluss, wohnten, waren natürlich mit meinem Tatendrang und meiner Experimentierfreude überlastet. Sie konnten nicht ständig hinter mir her sein. Zweimal bin ich in diesen Ferien beim Spielen in die Eder gestürzt und wäre als Nichtschwimmer fast ertrunken.
»In Zeiten, in denen wenig Interessantes geschieht, sind AD(H)S-Betroffene energetisch auf einem niedrigen Niveau und fühlen sich dabei unwohl. Dieses negative Gefühl verschwindet in dem Moment, wo wieder etwas los ist. Wie Arno sind viele AD(H)S-Betroffene deshalb unbewusst auf der Suche nach starken Reizen und ständig in Bewegung. Dabei verletzen sie sich häufig, da sie von
Haus aus eine beeinträchtigte Fähigkeit zur motorischen Kontrolle haben. Sie können ihre Bewegungen schlecht feinabstimmen. AD(H)S-Betroffene haben auch Schwierigkeiten, ihre Handlungen zu beobachten und die Konsequenzen daraus abzuschätzen. So kann eine Suche nach interessanten Beschäftigungen schnell gefährlich werden.«
VISNJA LAUER
Stichworte: Aktivierung (S. 152); Die exekutiven Funktionen (S. 153); Die unbewusste Verarbeitung von Informationen (S. 159); Familiensituation (S. 169)
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