Kitabı oku: «Steh auf und geh», sayfa 2

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Die Weinberggleichnisse

In ihrem Kern vergleichen die Weinberggleichnisse etwa bei Jesaja,14 Lukas,15 und Johannes16 Gott mit einem Gärtner, der mit sehr viel Liebe, Einsatz und Geduld darum bemüht ist, seine Pflanzungen fruchtbar werden zu lassen. In kirchlichen Kanzelreden ist dieses Bild leider mehrfach zu Gerichtsdrohungen umgearbeitet worden, sodass das „Fruchtbringen“ mit einem erhobenen Zeigefinger ausgestattet allzu sehr im Sinne von zu erbringender Leistung gedeutet wurde. Dabei würde ein Blick auf die Natur überdeutlich zeigen, dass Früchte wachsen und nicht gemacht werden, sie entfalten ihr inneres Potenzial und machen sichtbar, woraufhin sie angelegt sind. „Wachsen“ hat mehr mit „gelingen“ als mit „machen“ zu tun. Darin liegt ein erheblicher Unterschied, den der moderne Mensch nicht mehr ohne Weiteres verstehen kann, weil sein Interesse hauptsächlich leistungs- und „wettbewerbsorientiert“ zu sein scheint.

In der momentan herrschenden „Weltordnung“ steht der Lauf auf die besten Plätze nach wie vor im Vordergrund. Ohne Ehrgeiz kein Sieg! Ohne Wettbewerb kein Wachstum! Ohne Wachstum keine Weiterentwicklung! Der springende Punkt dieses gefährlichen Kurzschlusses besteht darin, dass das, was wir bisher für „Weiterentwicklung“ gehalten haben, im Grunde nur „Spezialisierung“ ist. Durch Wettbewerb wird diese Spezialisierung immer weitergetrieben zu etwas, das immer spezieller wird. Um in dieser „Spezialisierungsspirale“ erfolgreich zu sein, braucht man, wie uns Gehirnforscher versichern, nicht viel Hirn, weil wir immer nur mehr von dem tun, was bis jetzt schon gut funktioniert hat. Was uns aber mehr Hirn abverlangt und was wir im Kleinen wie im Großen dringend bräuchten, wäre eine gemeinsame Konzentration auf das „Gelingen“.

Dabei käme es allerdings darauf an, dass Menschen miteinander eine Kultur des Gelingens entwickeln wollten. Das wäre dann eine Kultur, in der nicht mehr länger Konkurrenten um immer knapper werdende Ressourcen kämpfen, sondern sich um eine Beziehungskultur kümmern, in der Menschen einander einladen, ermutigen und begeistern, ein größeres Gemeinsames miteinander zu fördern. Das setzt allerdings bei allen Beteiligten die Bereitschaft für neue, bisher so noch nicht gemachte Erfahrungen voraus. Zum Gelingen kann man aber niemand zwingen! Begeisterung ist nicht durch Verordnung zu verordnen. Deshalb kann Begeisterung nur spürbar werden, wenn Menschen einerseits wissen, was für sie selbst wichtig und dann aber auch, was für alle Beteiligten bedeutsam ist. Ohne ein solches Einverständnis kann Gemeinsames nicht gelingen.

„Gelingen“ ist ein wunderbares Wort, das es im Englischen nicht gibt. Dort spricht man von „success“, von „Erfolg“. Aber „successful“ meint etwas anderes als „gelungen“. Durch Wettbewerb entstehen Leistungssportler und Fachleute, die – je gründlicher, umso mehr – zu „Fachidioten“ werden, die ausschließlich ihren Erfolg im Sinn haben, wobei sehr oft die Betonung auf „ihren Erfolg“ liegt. Um hier besonders erfolgreich zu sein, braucht es eine Welt, die genau so aussieht, wie wir sie im Moment fast überall vorfinden: Wir brauchen nur auszublenden, was uns daran hindert, im Wettbewerb auf Kosten anderer unsere Siege einzufahren. „Wer kurzfristig denkt und möglichst egozentrisch seine Interessen verfolgt, der wird erfolgreich sein“, sagt der Gehirnforscher Gerald Hüther. Was uns aber mehr Hirn abverlangt, ist nicht der Erfolg, sondern unsere Konzentration auf das Gelingen. Während der Wettbewerb nämlich auf die Ressourcenausnutzung konzentriert bleibt, geht es beim Gelingen um die Potenzialentfaltung. Was unsere Gesellschaft dringend braucht, damit möglichst viele ihr Leben als „gelungen“ und „geglückt“ erleben können, ist ein höchst fälliger Wandel von einer „Ressourcenausnutzungskultur“ hin zu einer „Potenzialentfaltungskultur“. Und genau das ist das zentrale biblische Anliegen der Weinberggleichnisse.

Was wir mit „gelingen“ umschreiben, kann man im Grunde gar nicht machen, es muss wachsen. Ich kann mein Bestes geben, kann für optimale Rahmenbedingungen sorgen, weiß aber vorher nie, ob es gelingt. Das Wort „Gelingen“ ist so betrachtet vielleicht auch so etwas wie eine gediegene Umschreibung für das Wort „Nachhaltigkeit“. Gemeinsames kann gelingen, wenn Menschen ihre in jeweils unterschiedlichen Lebenswelten gemachten Erfahrungen so zusammenbringen, dass sie mit einer neuen Vorstellung davon, worauf es im Leben ankommt, wieder auseinandergehen. Das wäre dann ein gelungenes Gemeinsames, von dem viele leben können, auf das aber die großen „Macher“ keinen direkten Zugriff haben.

Zuversicht, Freude, Begeisterung oder Gelassenheit sind „Früchte“, die mit aller Willensanstrengung nicht erzwungen werden können, es sind Effekte, die sich unter bestimmten Voraussetzungen einstellen. Hermann Hesse sagte einmal in diesem Zusammenhang: „Das ist das Herrliche an jeder Freude, dass sie unverdient kommt und niemals käuflich ist!“ So betrachtet ist die Rede von Gott als Gärtner in der Bibel nachhaltig-klug, denn von dem, was wachsen kann, hängt zunächst und zuallererst das ab, was Menschen „Lebensqualität und seelische Gesundheit“ nennen. Paulus schreibt an die Korinther:

„Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber ließ wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern nur Gott, der wachsen lässt.“ 17

Die Saatengleichnisse

Eine zweite in diesem Zusammenhang wichtige Gruppe sind die Saatengleichnisse, wie wir sie wieder bei Jesaja18 oder bei Markus19 finden. Auch hier geht es darum, dass Gepflanztes fruchtbar werden soll. Der Akzent ist hier allerdings anders gesetzt. Im Gleichnis vom Sämann20 steht das unterschiedliche Schicksal der Saat im Vordergrund.







Was aus ihr wird, ist abhängig von den „Bodenbedingungen“, eine eminent wichtige psychologische Aussage, die heute durch die Erkenntnisse der Epigenetik ihre Bestätigung erhält. Das Bild vom Samen der Bergföhre, der auf ganz spezielle und individuelle Umweltbedingungen reagieren muss, als Veranschaulichung der Selbstwerdung findet hier seine biblische Entsprechung.21

Einen anderen Hinweis liefert das Gleichnis bei Markus22 von der selbstwachsenden Saat. Hier wird betont, dass zum Fruchtbarwerden zwar das eigene Zutun erforderlich ist, dass aber das Entscheidende wie von selbst geschieht und in seinem inneren Kern auch nicht durchschaubar ist.

Auch das sind anschauliche Bilder für alles, was „Selbstwerdung“ meint und bestätigt die psychologische Erkenntnis, dass Selbstwerdung ein Prozess ist, der sowohl eigenes Zutun erfordert, in entscheidendem Maße aber Effekt ist wie die Frucht in den Weinberggleichnissen. In beiden Bildmotiven geht es um die reife Frucht der Selbstwerdung, um Entfaltung und Verwirklichung der inneren Potenziale eines Menschen. Im Buch der Weisheit heißt es dazu: „Gott hat … keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen.“23 Biblische Texte stehen unter diesem unbedingten „Ja“ zu allem, was lebt.24

Nach innen hören

Als entscheidende Voraussetzung, den Weg der Selbstwerdung überhaupt beschreiten zu können, wird in der Bibel immer wieder das Hören auf die Stimme Gottes genannt. Ich glaube nicht, der Bibel Unrecht zu tun, wenn wir in dieser Stimme Gottes unsere „ur-eigene innere Stimme“ erkennen.

Das „Wahrnehmungsorgan“ allerdings für diese Stimme ist nicht das Ohr, sondern das „reine Herz“ eines Menschen25, seine „unverbildete“, unverdorbene Mitte. Diese Mitte findet sich nicht in erster Linie bei Weisen und Klugen, sondern, wie es bei Matthäus heißt, bei „Unmündigen“26 oder, wie vorher in den „Seligpreisungen“, bei den „Armen im Geiste“27, bei denen also, die wissen, dass ihr Leben ein Geschenk und nicht das Ergebnis einer persönlichen Leistung ist. Die im Unterschied zu den anderen Quellen bei Matthäus auftretende Erweiterung der Armen „im Geist“ bezieht sich wohl auf Menschen, die in ihrem lauteren Herzen geradezu sokratisch weise wissen, dass sie nichts wissen und deshalb beim Versuch, den Grund ihres Lebens zu verstehen, mit leeren Händen dastehen.

Ich scheue mich in diesem Zusammenhang nicht, aus der Sicht der Psychologie diese innere Stimme mit unserem Unbewussten in Verbindung zu bringen. Dort schlummern nämlich die Potenziale eines Menschen wie im Keller vergessene in der Zwischenzeit zur Kostbarkeit herangereifte Weine, die darauf warten, entdeckt und genossen zu werden. Der Prozess der Selbstwerdung, den der Theologe „Glaube“ nennt, lebt davon, sich von innen her getragen und geführt zu wissen. Gegen den Vorwurf, hier werde Gott „verpsychologisiert“, wandte schon C. G. Jung ein, dass dieses Selbst nie und nimmer an die Stelle Gottes zu setzen wäre, sondern vielleicht ein Gefäß für das ist, was die Theologen „göttliche Gnade“ nennen.28 Das entspricht auch dem Hinweis bei Lukas29, dass die „Gottesherrschaft“ in uns selbst zu finden ist.

Unzählige Legenden aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen belegen diese menschliche Grundüberzeugung. Eine dieser Geschichten berichtet von zwei Mönchen, die aus ihrer Klosterzelle aufbrechen, weil ihnen versichert wird, wenn sie nur gründlich genug suchten und dabei die ganze Welt durchwanderten, würden sie am Ende das Tor zum Himmel finden können. Alt und erschöpft stehen sie zu guter Letzt tatsächlich vor dieser geheimnisvollen Tür, hinter der sie den Himmel vermuten, stoßen sie erwartungsvoll auf – und stehen in der Klosterzelle, aus der sie vor Jahren ausgezogen sind.

In der Vorrede zu Friedrich Nietzsches Buch „Die fröhliche Wissenschaft“30 findet sich unter der Überschrift „Unverzagt“ ein kurzes, aber in diesem Zusammenhang bedeutsames Gedicht, ein leidenschaftlicher Aufruf, dort, wo wir stehen, zu suchen und dabei nicht auf andere, sondern unverzagt in uns selbst hineinzuhorchen:

Wo du stehst, grab tief hinein!

Drunten ist die Quelle!

Lass die dunklen Männer schrein:

„Stets ist drunten — Hölle!“ 31

Dem Autor geht es hier um Wahrheits- und Selbstfindung. Der Blick wird vom Suchen zum Finden und von oben nach unten gewendet. Nietzsche nennt es „die Treue zur Erde“ und versteht darunter das Ja-Sagen zum Diesseits in all seiner Widersprüchlichkeit und seinem Leiden. Nicht mehr der Himmel, die Erde ist der Ort der Suche und des Findens, die Quelle, um die sich alles dreht. Und es ist unschwer zu erraten, dass mit den „dunklen Männern“ die in schwarze Talare gehüllten Beamten des Himmels gemeint sind. Es mag verwundern und einige Theologen durchaus verärgern, wenn wir in diesem Zusammenhang Friedrich Nietzsche ein gründlicheres Bibelverständnis attestieren müssen als so manchem Kanzelredner, dessen Argumentation eher dem Blick hinauf und weg von der Erde das Wort redet.

Nach innen wandern

„Reisen wir. Aber wohin?

Frage ich.

‚Heimwärts‘

Aber wo ist das?

Frage ich.

‚Innen‘

Sagt die Stimme.“ 32

Viele Menschen haben Angst vor ihrem Innenleben. Dort könnte ja tatsächlich „die Hölle“ zu finden sein. Schon Blaise Pascal33 meinte, dass das Unglück des Menschen damit beginne, dass er nicht mit sich allein in einem Zimmer bleiben könne.34 Wer nie gelernt hat, bei sich zu sein und dort zu bleiben, wer die Kunst nie geübt hat, sich selbst im Nichtstun zu ertragen, wird es schwer haben, die lange und spannende Wanderung in sein Inneres anzutreten. In jedem Fall tut Hilfe durch einen Menschen gut, der in wachsendem Vertrauen ein Stück des Weges in das weite Land des eigenen Inneren mitgeht. Dort schwirren ungeordnet Gedanken und Gefühle herum, deren Sinn zunächst nicht erkannt werden kann. Die psychokriminologische Bedeutung unserer Gedanken und Gefühle erschließt sich nicht ohne Weiteres. Erst nach und nach – je mehr wir darauf achten, umso eher – schließt sich, wenn wir Glück haben, der Kreis des Verstehens und wir finden Wegbegleiter, die in ihrer unverwechselbaren Art und Weise dafür sorgen, dass es uns wie Schuppen von den Augen fällt:

Im vierten Kapitel des Johannesevangeliums35 wird berichtet, dass Jesus „um die sechste Stunde“, also zur Mittagszeit „müde von der Reise“ zum Jakobsbrunnen kommt und sich dort allein hinsetzt, um auszurasten. Da kommt eine Frau, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagt zu ihr: „Gib mir zu trinken!“ Die Frau antwortet ihm: „Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten?“ „Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern.“ In einer anderen Übersetzung heißt es: „Die Juden benutzen nämlich nicht dieselben Schöpfgefäße wie die Samariter.“ Jesus antwortet ihr: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: ‚Gib mir zu trinken!‘, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Sie sagt zu ihm: „Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser?“ Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden?“

Der noch heute erhaltene Jakobsbrunnen ist 32 Meter tief. Mit „lebendigem Wasser“ ist zunächst „fließendes“ und nicht abgestandenes, stehendes Wasser gemeint. Im Ersten Testament wird dieser Brunnen nicht erwähnt. Jesus antwortet ihr: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“

Da sagt die Frau zu ihm: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.“ Er sagt zu ihr: „Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her!“ Die Frau antwortet: „Ich habe keinen Mann.“ Jesus antwortet: „Du hast richtig gesagt: ‚Ich habe keinen Mann.‘ Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt.“ Die Frau sagt zu ihm: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.“

Diese Szene im Evangelium des Johannes ist aus mehreren Gründen sonderbar. Ein Brunnen ist im Orient weit mehr noch als in unserem Kulturkreis ein Ort des Lebens und des Überlebens, der in den Psalmen oft besungene „Ruheplatz am Wasser“: für Nomaden und ihre Herden eine Art Paradies. Brunnen sind Orte der Begegnung. Aber das Ungewöhnliche an dieser Begegnung zwischen Jesus und der Frau ist der Zeitpunkt. Niemand geht um die Mittagszeit in glühender Hitze zum Brunnen, um Wasser zu holen, es sei denn, er/​sie will, aus welchen Gründen auch immer, von den anderen nicht gesehen werden.

Darum nehmen die Exegeten unter Verweis auf den Inhalt des Gesprächs an, dass es sich bei dieser Frau um eine Prostituierte handeln könnte, die deshalb zur Unzeit zum Brunnen geht, um dadurch den verächtlichen Blicken anderer Frauen zu entkommen. Diese Frau also sucht Wasser – und findet in ihrem Gesprächspartner einen Menschen, der um sie weiß, der sie durch und durch zu kennen scheint. Ein außerhalb der Bibel überliefertes Jesuswort sagt: „Begegnet dir ein Mensch, begegnet dir Gott.“ Immer dort, wo einem Menschen ein Mensch begegnet, der sich diesem Menschen als Mensch erweist, verändert sich die Welt und der Horizont beider. Wem es gegönnt ist, durch persönliche Begegnung so vor sich und seinem Leben zu stehen zu kommen, der wird mit einem neuen Blick in die Zukunft schauen können. Die Frucht aus solcher Begegnung ist nicht mehr die Angst, durchschaut zu werden, sondern eine neue Zuversicht im Blick nach vorne.

Die Samariterin am Jakobsbrunnen sucht Wasser und findet einen Menschen. Dieser verblüfft sie nicht mit seinem „Wissen“, sondern damit, dass er „um sie weiß“, um ihr bisher gelaufenes Leben, um ihre Geschichte. Sie fühlt sich durchschaut, aber nicht durchleuchtet, erkannt, aber nicht bloßgestellt. Gerade dadurch kann sie selbst mit neuen Augen ihren Blick auf ihr Innerstes, auf ihre unverwechselbare bisher gelaufene Lebensgeschichte richten. Jesus belehrt nicht, er konfrontiert. So öffnet sich ihr eine allzu lange nicht mehr betretene Landschaft. Sie nennt ihn einen „Propheten“ und meint damit wohl einen „Engel“, wie auch wir jemanden bezeichnen, der uns guttut, einen Boten Gottes, dessen vornehmliche Eigenschaft nicht in erster Linie in „hellseherischer Fähigkeit“ besteht, sondern in seiner Art, den Blick auf das im Innersten Versteckte zu lenken, damit es „entdeckt“ und „freigearbeitet“ werden kann.

Der Brunnen wird so zum Ort der Begegnung und die Begegnung zum Ausgangspunkt einer neuen Standortbestimmung. Egal, was war und gleichgültig, was geschehen wird: Die menschliche Begegnung wird zum Moment der Vergebung und zum Ort der Gnade. Wo das spürbar ist, erntet jeder, obwohl er nicht gesät hat und es wird ihm geschenkt, wofür er nicht gearbeitet hat: Aus seinem Inneren beginnt „lebendiges Wasser“ zu fließen. Das in der christlichen Verkündigung so oft ausschließlich auf Jesus bezogene Wort bei Johannes „Wer Durst hat, komme zu mir und trinke. Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“36 kann guten Gewissens von jedem Menschen behauptet werden, dem es gelingt, in der Begegnung mit anderen Menschen Hebammendienste zu leisten, damit der andere mit neuen Augen ermutigt wird, der zu sein, der er ist und zu werden, was er sich bisher nicht zugetraut hat.

Die vielen Begegnungsgeschichten des Jesus von Nazareth tragen beinahe ausschließlich diese Handschrift. Lukas berichtet: „Und viele Leute suchten ihn festzuhalten, denn eine Kraft ging von ihm aus, und er heilte alle.“37 Die „Lehre“ Jesu hat mit Belehrung nichts zu tun, sie lebt aus der Begegnung und der damit einhergehenden Veränderung im Inneren des anderen. Was er dabei zu sagen hat, ist manchmal durchaus nicht angenehm, aber wohltuend ermutigend, heilsam, im besten Sinn des Wortes „therapeutisch“, getragen von Achtsamkeit und Wertschätzung. „Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, … und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden.“38 Und wenn einige Kapitel später berichtet wird, dass Jesus die Zwölf aussendet „zu predigen und zu heilen“39, dann ist es im Grunde der Auftrag, mit dem Wort so umzugehen, dass es Wirkung zeigt, Spuren hinterlässt, Hoffnung gibt und Linderung bewirkt. „Predigen“ heißt dann, so lange sich mit einem Menschen zu befassen, bis er glauben und spüren kann: Da geht es ja um mich!

Es ist dieser Zusammenhang von Religion und Therapie für Jesus so wesentlich, dass er im 6. Kapitel des Markusevangeliums sagt, die Jünger sollten in die Dörfer Galiläas gehen und die Dämonen austreiben, die Krankheiten heilen und dann davon reden, wie nah Gott den Menschen sei. Da ist es für Jesus ein und dasselbe, ein religiös motiviertes Vertrauen zu bilden und dem Menschen die Angst zu nehmen, die, wird sie nicht beseitigt, ihren Niederschlag in körperlichen Leiden findet. Dabei geht es zuallererst um die Ermutigung, endlich auszusprechen, was viel zu lange unausgesprochen darauf gewartet hat, in Erscheinung treten zu können, an die Oberfläche zu kommen, vernehmbar zu werden. Und mit dem Aussprechen ist eine Art „Schöpfungsakt“ vollzogen, eine Art „Befreiungsschlag“ gelungen. Gewiss: „Gesagt“ ist noch nicht „getan“, aber ein erster Schritt in eine unumkehrbare Richtung ist gesetzt, den viele Patienten immer wieder mit dem Gefühl beschreiben, „endlich auf- und durchatmen zu können“, „wie neu geboren“ zu sein. Der Boden, auf dem solches „Neugeborenwerden“ wachsen kann, besteht in der Grundhaltung der unverdienten und bedingungslosen Akzeptanz des anderen Menschen. Kein „du sollst“, kein „du musst“, auch kein „du wirst jetzt!“, sondern einfach nur von Angesicht zu Angesicht „du da“, der eine dem anderen in Augenhöhe gegenüber, als Auftakt der Begegnung und Ausgangspunkt kommender Hilfe und Heilung.

Der biblische Zuruf „Steh auf und geh!“ bezieht sich also zuallererst auf den inneren Weg, auf die Suche, dort, wo ich stehe. Erst dadurch wächst der Kompass, den ich brauche, um „aus mir heraus“ und auf andere zuzugehen. Weil der Mensch ein soziales Wesen ist und ohne den anderen Menschen nicht leben kann, wird er auch auf diesem Weg in sein Inneres verlässliche Wegbegleiter brauchen. Nicht Menschen, die ihn gängeln und ihm sagen, was zu tun wäre, sondern Menschen, die ihn ermutigen, seinen unverwechselbaren eigenen Weg zu gehen.

Ganz im Sinne des Wanderpredigers aus Nazareth hatte vor ihm bereits Sokrates in dieser Weise Schüler um sich versammelt. Sie waren gekommen, weil sich die wohltuende Wirkung dieses Sonderlings in ärmlicher Kleidung auf dem Marktplatz von Athen herumgesprochen hatte. Im Umgang mit seinen Schülern war Sokrates davon überzeugt, dass sich die Wahrheit aus einem Menschen herausarbeiten, gleichsam „herausschöpfen“ lasse, dass sie ihm nicht von außen „hineingesagt“ werden müsse. Eine ähnliche Überzeugung finden wir rund 800 Jahre später auch bei Augustinus von Hippo, der in seinem Werk „De vera religione“40 schreibt: „Geh nicht nach draußen! Kehr wieder ein bei dir selbst. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“ Darum soll der Weise von Athen seinen Schülern, die von ihm lernen wollten, zugerufen haben: „Sprich, damit ich dich sehe!“ – „Tu’ deinen Mund auf und zeig mir, wer du bist!“ Erst dann, wenn du sagen kannst, was dich herführt, kann ich dir helfen zu erkennen, was dich weiterbringt. Das Instrument dieses Hebammendienstes ist das (endlich) gesprochene Wort, zu dem jemand, der Rat und Hilfe sucht, ermutigt wird.

Es ist keine Psychotherapie denkbar, die nicht von der Voraussetzung ausginge, dass die Wahrheit in der menschlichen Person selber liege und dort zu finden sei. So ist es nach dem Credo der Psychotherapie möglich, in einem ruhig verlaufenden Gespräch einem Menschen zu zeigen, dass er das, was er sucht, in sich trägt und dort finden kann. Lediglich durch seine eigene Ungeübtheit in der Freiheit des Denkens und des bisher verlaufenen Lebens hatte sich bis jetzt noch nicht entfalten können, was im Menschen darauf wartet, hebammengleich ans Licht zu kommen. Diese Überzeugung ist für jede Art von Psychotherapie essenziell. Die Technik der freien Assoziation, die Sigmund Freud vor über hundert Jahren entwickelte, läuft auf ein unbeweisbares Vertrauen hinaus, dass der Mensch von Grund auf nicht so böse ist, wie er scheinen mag. Selbst das Schlimmste an ihm lässt sich auflösen durch die Macht des Verstehens. Nicht mithilfe des erhobenen Zeigefingers oder eines Moralisierens mit Druck und Zwang, sondern einzig durch ein Begleiten, durch Da-Sein und Gewähren-Lassen. Dabei wird der Verlauf eines Lebens und sein biografischer Hintergrund so lange angeschaut, betrachtet und von allen Seiten bedacht, bis sich klären lässt, woran die Seele leiden mag. Die Seele des Menschen erscheint in dieser Perspektive als ein Organ, das genau weiß, was es braucht, wenn man es sich nur frei artikulieren lässt.

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