Kitabı oku: «Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes», sayfa 4
Wenn einer eine Reise tut
Das Jahr 1914 war hereingebrochen. Es fing an wie jedes andere und niemand ahnte, daß es eines von jenen werden sollte, in dem die Weichen der Weltgeschichte herumgeworfen werden sollten.
Ende Juni war Schulschluß. Eine Woche später wollten wir fahren. Am 28. Juni wurde der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Gattin in Sarajevo ermordet. Eine Woche verging und eine zweite. Die Lage war zwar gespannt, wir sahen jedoch keinen Grund, warum wir unsere geplante und so gründlich vorbereitete Reise nicht antreten sollten.
Meine Eltern waren in Karlsbad zur Kur. Ich fuhr hin, um mich zu verabschieden. Mit Paul war vereinbart, daß wir uns im Zug von Karlsbad nach Eger treffen würden, falls ich ihn beim Einsteigen nicht entdecken sollte. Der Zug hielt nur kurz. So stieg ich ein, belegte in einem Abteil zwei Plätze und ging los, ihn zu suchen. Ich ging den ganzen Zug ab bis zum ersten Wagen – nichts. So ging ich den ganzen Zug wieder zurück bis ans Ende – wieder nichts! Ich war beunruhigt. Sollte ich in Eger aussteigen oder bis Nürnberg weiterfahren? Aber wie ihn dann finden? Grübelnd drehte ich mich um und rannte in jemanden hinein. Pa- (rdon wollte ich sagen und) –ul wurde daraus!
Die Lösung des Rätsels war einfach: Wir waren knapp hintereinander nach vorne gegangen. Paul vor mir. Im ersten Wagen war er für einen Moment auf dem WC verschwunden, sodaß ich ihn nicht gut entdecken konnte. Zurück war er dann wiederum mir auf den Fersen bis zum letzten Wagen gefolgt, wo wir dann zusammenstießen. Zum Überfluß stellte sich noch heraus, daß auch er zwei Plätze belegt hatte – und das im selben Abteil wie ich.
Unsere erste Station war Nürnberg, wo wir einen Tag blieben. Dort angekommen konstatierte ich, da es regnete, daß ich meinen Regenschirm im Zug gelassen hatte. Im Hotel in Nürnberg ließ ich zum Andenken mein Nachthemd zurück. Dann ging es weiter bis Frankfurt. Im Zug vergaß diesmal Paul seinen schönen neuen Girardihut. Er kaufte dort einen neuen, während ich im Hotel diesmal meine Zahnbürste zurückließ. Von Bingen an machten wir die Rheinreise. In Koblenz wechselten wir auf die Bahn über. Der Loreleifelsen enttäuschte uns, da ein unter ihm vorbeifahrender Zug ihn mit einer schwarzen Rauchwolke zum Teil verhüllte. Dagegen imponierte uns die große Anzahl von Burgen. Es stimmte mich jedoch nachdenklich, daß bei so einer großen Konkurrenz die Geschäfte der Raubritter wohl nicht die besten gewesen sein dürften. Ich stellte mir vor, daß ich an ihrer Stelle ein Kartell mit genauen Statuten organisiert hätte. Vielleicht hatten sie es auch getan, ich habe jedoch in keinem Geschichtsbuch etwas Derartiges finden können.
In Köln erleichterte ich mein Gepäck um meine Hausschuhe. Auch diese schöne Stadt erledigten wir an einem Tag. Wir waren ja doch noch Kinder, die für die Kunstschätze noch kein Verständnis hatten. Wenn ich es richtig überlege, so wundere ich mich nicht über die Amerikaner, die in wenigen Tagen ganz Europa »machen« – sie sind eben große Kinder, die bei den Raubrittern auch nur an die Profitrate denken.
Ostende erreichten wir ohne weitere Gepäcksreduzierungen. Nur an der deutsch-belgischen Grenze erlebten wir einen großen Schrecken. Um elf Uhr sollten wir weiterfahren und der Zug stand und stand und wollte sich nicht in Bewegung setzen. Als ich nervös auf meine Armbanduhr blickte, fuhr mir der Schrecken in die Glieder und ich in die Höhe. Sie zeigte auf fünf vor zwölf! Wir sprangen auf, zerrten unser Gepäck aus dem Zug, und als wir auf dem Bahnsteig standen, kam gerade der Schaffner die Waggontüren zu schließen. Wir fragten ihn in unserem Schulfranzösisch, wann der nächste Zug nach Brüssel gehe. Er zeigte auf den, aus dem wir eben ausgestiegen waren. Als wir ihn verblüfft ansahen, ging ihm ein Licht auf und er zeigte auf die Bahnhofsuhr, die gerade über unseren Köpfen hing. Sie zeigte eine Minute vor elf! Wir hatten vergessen, daß von der Grenze an westeuropäische Zeit galt. So warfen wir unser Gepäck wieder in den Wagen und stiegen ein. Die Türe wurde hinter uns zugeschlagen und der Zug setzte sich in Bewegung.
In Ostende sahen wir, daß die See recht bewegt war. Draußen krönten weiße Wellenkämme die recht hochgehenden Wogen. Mein Freund Paul hatte schreckliche Angst vor der Seekrankheit. Ich lachte ihn aus. Kaum daß wir den Hafen verlassen hatten, weigerte sich mein Magen den senkrechten Bewegungen des Schiffdecks zu folgen. Meine Gesichtsfarbe wechselte von weiß in grün über. Ich fand noch rechtzeitig einen schönen Platz an der Reling. Der tückische Paul stand neben mir und amüsierte sich köstlich. Er war einer der wenigen, der die Fahrt ohne Fische gefüttert zu haben überstand. Von Zeit zu Zeit verschwand er im Speisesaal und erzählte mir dann breit und ausführlich, was er gegessen habe. So ein Sadist!
In Dover begann der Jammer. Wir konnten uns von unserem Französisch nicht so schnell auf die englische Sprache umstellen. Ständig verwendeten wir französische Wörter, die wir englisch aussprachen. Zollbeamte und Träger sahen uns verwundert an und schüttelten die Köpfe. Schließlich saßen wir aber doch im richtigen Zug nach Folkestone und landeten im Tressilian, wo uns die Besitzer Mr. und Mrs. Dell, ein älteres Ehepaar, herzlich empfingen.
Wir gingen vormittags an den Strand, am Nachmittag unternahmen wir entweder einen Ausflug zu Lande oder mit einem Fischer in seinem Segelboot, immer in Gesellschaft von jungen Mädchen, die wir am Strand kennengelernt hatten und mit denen wir uns zumeist mit Händen, Füßen und unserem Liliputwörterbuch verständigten. Das Anbandeln besorgte meist Paul. Ich war dazu zu scheu und schüchtern Mädchen gegenüber.
Nach einigen Tagen – es war der 23. Juli – lasen wir in der Zeitung die fettgedruckte Kopfzeile, daß Österreich an Serbien ein Ultimatum gestellt habe. Diese Bagatelle regte uns nicht sonderlich auf und wir gingen wie gewöhnlich an den Strand. Wir zweifelten keinen Augenblick daran, daß das kleine Serbien klein beigeben würde. Nun waren täglich merkwürdige Nachrichten in den Morgenblättern. In diesen Tagen lernten wir einen jungen Holländer von circa zwanzig Jahren kennen.
Eine Dame rief: »Paul!« Darauf ging mein Freund auf sie zu. Vor ihr stieß er mit diesem zusammen. Er hieß Paul mit seinem Familiennamen. Er sprach fließend außer Holländisch auch Englisch und Deutsch. Er übersetzte uns aus den Zeitungen alles, was uns interessierte: Kriminalfälle, Gesellschaftstratsch und sogar auch die wichtigsten politischen Ereignisse.
Am fünften Tag brachten dann die Zeitungen die Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Selbst diese Nachricht brachte uns nicht aus unserer Ruhe. Das war doch eine lokale Affäre. Wie lange konnte schon das kleine Serbien der Weltmacht Österreich-Ungarn widerstehen? Das konnte doch nur einen kleinen Spaziergang einiger weniger Regimenter bedeuten und nach wenigen Tagen kehrten unsere Helden mit Lorbeeren geschmückt wieder heim. Wir gingen weiter täglich an den Strand und flirteten mit den englischen und holländischen Mädchen.
Am 1. August kamen uns doch gewisse Bedenken, als wir die Kriegserklärung an Rußland in der Zeitung lasen und Mr. Paul die Überzeugung äußerte, daß laut den Vertragsbedingungen nun fraglos auch Frankreich in den Krieg eintreten würde. Seiner Ansicht nach könne so ein Krieg aber nur vier, fünf bis höchstens sechs Monate dauern. Das war auch die Ansicht der meisten Engländer. So beschlossen wir, das Kriegsende in Folkestone abzuwarten.
Dann aber kamen Schreckensnachrichten auf Schreckensnachrichten. Aufruhr in Prag. Gemetzel unter den Tschechen, die für Rußland demonstrierten. Die Moldau rot vom Blut der Opfer. An all dem war, wie ich nach meiner Rückkehr konstatierte, kein Wort wahr. Die Moldau hatte nach wie vor ihre schmutziggelbe Farbe. Es waren einzelne tschechische Soldaten, aber auch ganze Bataillone des Prager Achtundzwanziger-Regiments übergelaufen. Diese wurde daher aufgelöst und die Mannschaft auf andere verläßliche Regimenter aufgeteilt.
Nach dem Kriegsausbruch mit Frankreich am 3. August entschloß ich mich endlich wenigstens meinen Kreditbrief bei der Filiale der Deutschen Bank in London einzulösen, da meine Barmittel auf ein Minimum zusammengeschmolzen waren.
Ich setzte mich also früh in den Zug und fuhr voller Erwartung zum ersten Mal in diese Riesenstadt, neben der Prag ein mittelalterliches Dorf war. Am Bahnhof nahm ich mir ein Cab. Das war ein ganz absonderliches Vehikel, eine englische Spezialität. Der Fahrgast saß vorne direkt hinter dem Pferd. Wenn dieses aus einem inneren Drange den Schweif hob, bekam man den Duft – sagen wir aus erster Hand, wenn dieses auch anatomisch nicht ganz richtig ist. Der Kutscher saß hoch oben hinter dem Gast in sicherer Entfernung. Ich gab ihm die Adresse der Deutschen Bank an. Als ich dort ausstieg, sah ich am Tor einen größeren weißen Zettel kleben. Dieser sagte in kurzen drei Worten auf Deutsch und Englisch: »WEGEN KRIEGSAUSBRUCHS GESCHLOSSEN«
Verstört las ich die wenigen Worte immer wieder.
Eine Ewigkeit von vielleicht fünf Minuten war ich wie gelähmt. Ich wurde mir dessen bewußt, daß ich mich mittellos im feindlichen Ausland befand. Wie im Traum wanderte ich den recht langen Weg vom Charing-Cross-Bahnhof zurück und fuhr mit dem nächsten Zug nach Folkestone.
Soviel war mir inzwischen klar geworden, daß der Krieg nicht mehr nur ein kurzer Spaziergang der »glorreichen österreichischen Armee« nach Serbien war, sondern ein Brand, der ganz Europa erfaßt hatte und viel Blut – Ströme von Blut – und Tränen kosten würde.
Ein Chauvinismus* war mir fremd. Kannte ich doch viele Tschechen, die durchwegs Panslavisten waren und dabei genau so anständige Menschen, wie meine deutschen Freunde. Dazu befand ich mich im feindlichen Ausland und konnte nur feststellen, daß sich alle Engländer – von den Engländerinnen zu schweigen – freundlich und in jeder Beziehung korrekt zu uns verhielten, und das nicht nur die Zivilisten sondern auch die Beamten und Polizisten auf dem Revier, wo wir uns jede Woche melden mußten. Nur einmal stänkerte uns ein Mann auf der Promenade, als wir deutsch sprachen, an. Da kam ein Polizist zu ihm und sagte nur: »You are a gentleman! Don’t forget!« Uns riet er dann, wenn wir schon deutsch sprächen, es möglichst leise zu tun.
Zum Glück hatte Paul seine Travellerschecks. So lebten wir einige Wochen beide von diesen. Ich hoffte, daß mein Vater inzwischen Mittel und Wege finden würde, uns mit Moneten zu versehen. Wir lebten unbesorgt weiter, gingen täglich an den Strand und unterhielten uns besser als zuvor. Waren wir doch jetzt als feindliche Ausländer eine Sensation und als »Les autres chiens«* und keine Reichsdeutschen bei den Mädchen recht beliebt.
Daß ich damals nicht bereits meine Jungfernschaft verloren habe, verdanke ich einem mangelnden Schulunterricht in Englisch und der Unvollständigkeit unserer Wörterbücher. Wir konnten nicht herauskriegen, wie Präservativ auf Englisch heißt. Mr. Paul war leider inzwischen abgereist. Begreiflicherweise hatten wir Hemmungen in der Drogerie mimisch klar zu machen, was wir wünschten. Da wir uns nicht einigen konnten, wer von uns sich dieser Aufgabe unterziehen solle, losten wir. Das Los fiel auf mich. Also zog ich los. Ich brachte eine Zahnpasta nach Hause. In der Drogerie bediente ein Mädchen! Da die Tube mit Zahnpasta für die von uns intendierten Zwecke nicht recht geeignet war, zog Paul los – nicht ohne einige hämische Worte voller Verachtung vergeudet zu haben. Er brachte ein Dutzend Rasierklingen und eine Toiletteseife mit einiger Verlegenheit heim! Er war in zwei Läden gewesen. Im ersten kam gerade, als er mit seinen mimischen Vorführungen beginnen wollte, eine Dame herein, im zweiten war ebenfalls ein Mädchen als Verkäuferin angestellt. Eine vierte Drogerie konnten wir nicht entdecken. So blieb es beim Platonischen, bestenfalls beim Küssen.
Nach vier Wochen wurden wir immer stiller und nervöser. Wir saßen meist im Gesellschaftsraum des Tressilian und sparten jeden Penny. Mr. Dell war ein guter Menschenkenner. Eines Tages kam er zu uns und sagte: »Ich weiß, daß Sie aus gutem Hause sind, und kann mir vorstellen, daß Sie anfangen knapp bei Kasse zu werden, denn Sie haben ja mit einem so langen Aufenthalt nicht gerechnet. Machen Sie sich keine Sorgen. Solange Sie werden dableiben müssen, sind Sie meine Gäste. Zahlen werden Sie mir nach dem Kriege, sobald eine Möglichkeit bestehen wird«, und nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, »Da Sie ja außer meiner Rechnung auch noch Ausgaben haben werden, bekommen Sie von mir pro Tag jeder einen Shilling.«
Ein Shilling war damals viel Geld. Wie ich mich erinnere, kostete ein Eis oder eine Banane einen Penny. Für einen Shilling konnte man also zwanzig Portionen Eis oder sonst alles Mögliche bekommen! Das war eine ganz große Geste mit einer solchen Selbstverständlichkeit ausgesprochen, daß wir wirklich fassungslos waren und kaum uns bedankt haben.
Wir mußten uns einmal wöchentlich als feindliche Ausländer auf der Polizeistation melden, bekamen einen Permit* mit Photographie und Fingerabdrücken, den wir immer bei uns tragen mußten und der uns erlaubte, uns im Umkreis von fünf Meilen frei zu bewegen. Wenn wir weiter – zum Beispiel nach London – wollten, mußten wir einen separaten Durchlaßschein beheben, der für vierundzwanzig Stunden galt. Diesen bekamen wir aber immer ohne die geringsten Formalitäten oder Schwierigkeiten.
Gegen Ende September wurde das Wetter unfreundlich. Es kam Regen und Nebel. Mitunter auch so heftige Stürme, daß wir das Haus überhaupt nicht verlassen konnten. Folkestone leerte sich. Unsere Mädchen waren bereits alle fort. Im Tressilian blieben wir als einzige Gäste zurück. Es fing an, schrecklich langweilig zu werden. Ich hatte bereits alle Bände der Hotelbibliothek von Shakespeare bis Jerome K. Jerome und Conan Doyle ausgelesen. Dann borgte ich mir in einem Musikinstrumentengeschäft eine Geige aus. Sowohl das Instrument als auch vor allem der Bogen waren derart miserabel, daß ich das Gekratze den Dells, ja nicht einmal Paul zumuten konnte. Ich gab sie nach zwei Tagen wieder zurück.
Ein Lichtblick war, als eines Tages ein Mädchen aus Richmond, das vor drei Wochen von Folkestone heimgefahren war, mir brieflich vorschlug, uns in London zu treffen. Ich verabredete nach Studium des Londoner Planes ein Rendezvous um drei Uhr des nächsten Tages beim Victoriadenkmal vor dem Buckinghampalast. Ich kam nur um eine Viertelstunde zu bald – ich komme immer zu bald –, sie nur um eine Viertelstunde zu spät, sodaß ich nicht allzu lange warten mußte. Natürlich gingen wir, nachdem wir bei Lyons einen Tee getrunken hatten, ins Kino. Als ich am nächsten Tag meinen Passierschein ablieferte, sagte mir der Beamte schmunzelnd, wann und wo ich mich mit einem Mädchen getroffen habe, gab mir ihre genaue Beschreibung und sagte mir genau, in welchem Lyons-Betrieb wir waren und unter genauer Zeitangabe in welchem Kino. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, daß wir beschattet worden wären.
Eines Tages bekam ich von der Midland Bank ein Schreiben, in dem ich ersucht wurde, dort vorzusprechen. Voll freudiger Vorahnung eilte ich hin. Meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Der Filialleiter empfing mich sehr freundlich und teilte mir mit, daß von einer holländischen Reismühle für mich fünfzig Pfund Sterling eingetroffen seien. Der Direktor der Mühle hätte auch um einen Bericht gebeten, wie es mir ginge und ob ich nichts sonst benötige. Nachdem ich ihm eine beruhigende Antwort gegeben und ihn um die Adresse des Absenders gebeten hatte, um mich bedanken zu können, ersuchte er mich »rein aus formalen Gründen«, wie er mir versicherte, ich möge mich irgendwie ausweisen, damit er mir den Betrag auszahlen könne. Mir blieb nichts anderes übrig, als ins Tressilian zu laufen und Mr. Dell zu ersuchen, er möge meine Identität bestätigen. So bekam ich meine fünfzig Pfund in schönen, goldenen Sovereigns ausgezahlt. Zuerst beglich ich meine und Pauls Schuld bei Mr. Dell, dann meine bei Paul, wonach mir noch immer ein recht ansehnlicher Betrag übrigblieb. So war ich meine ärgsten Sorgen los.
So gegen Ende Oktober laß ich in der Zeitung, daß nicht wehrpflichtige Österreicher (soweit ich mich erinnere, waren dieses, Frauen und Kinder bis siebzehn Jahre sowie Männer über fünfzig) ausgetauscht werden. Die Betreffenden werden aufgefordert sich auf der Botschaft der Vereinigten Staaten, welche die Interessen der Österreicher vertrat, zu melden. (Die USA waren damals noch lange nicht im Krieg.)
Ich beriet mit Paul hin und her, was wir machen sollen. Ich war vor circa einem Vierteljahr zwar bereits siebzehn Jahre alt geworden. Da damals jedoch kein Paßzwang bestand, konnte ich riskieren, mich um einige Monate jünger zu machen. Paul war um zwei Monate älter als ich und viel männlicher. Er wollte in England bleiben. Er war eben kein so spätreifes Kind wie ich.
Also ließ ich mir auf der Polizei einen Durchlaßschein für London geben und fuhr zur amerikanischen Botschaft. Dort herrschte ein Rieseandrang von Frauen mit kleinen Kindern, alten Männern und Krüppeln. Über drei Stunden mußte ich warten, dann kam auch ich endlich an die Reihe.
Ich hatte mich auf »Knaben« hergerichtet, meinen Schnurrbartanflug abrasiert, Knickerbockers und ein Tennishemd mit Schillerkragen angezogen. Zusammen mit meiner Unschuldsmiene sah ich so jung aus, daß es mich nicht gewundert hätte, wenn mir eine der jungen Mütter einen Schnuller in den Mund gesteckt hätte.
Schließlich war diese Klippe überwunden, nach einem kurzen Kreuzverhör bekam ich meinen Schein. Ich fuhr zurück und behob aufgrund dieses so wertvollen Papiers auf der Polizei in Folkestone meine Ausreisebewilligung. Mit dieser kam ich ins Hotel, wo ich den Abend zusammen mit Paul als Gast von Dells ein festliches Abschiedsessen bekam.
Wie ich festgestellt hatte, ging mein Schiff am nächsten Tage um elf Uhr von der Landungsbrücke in Folkestone nach Vlissingen. Mrs. Dell sorgte geradezu mütterlich für mich.
Am Morgen hatte sie einen großen Korb mit Proviant vorbereitet, der genügt hätte, um die Sahara zu durchqueren und dabei noch mir begegnende Giraffen, Löwen und Eisbären zu füttern. Ich packte nach der Einstampfmethode, um zehn nahm ich rührenden Abschied von meinen Gastgebern und Paul. Ich versprach so bald als möglich, nach dem Krieg wiederzukommen. Um zwölf Uhr war ich wieder da!
»Was ist? Ist der Krieg schon aus?«, fragte Mr. Dell verwundert.
Nein – der Krieg war noch nicht aus, aber Folgendes hatte sich ereignet: Als ich mich so um halb elf herum der Landungsbrücke näherte, sah ich gerade noch den Schwanz einer langen Schlange von Auswanderern, die nur sehr langsam auf die Bude der Paß- und Gepäckskontrolle sich vorwärts schob. Ich war der letzte. Als ich endlich kurz vor elf an die Reihe kam, um meine Papiere vorzuzeigen, fragte der Beamte, ob ich etwas Geschriebenes bei mir habe. Ja – leider! Ich hatte die gesamten Briefe meiner Eltern, eines holländischen Mädchens in deutscher Sprache sowie einiger Engländerinnen in englischer Sprache in meinem Gepäck. Ich mußte alles auspacken. Ein Beamter lauste diese durch, während ein Dolmetsch dem Chefkontrolleur die deutschen Briefe Wort für Wort übersetzte. Dann las er noch lächelnd die englischen Briefe. Endlich durfte ich alles wieder einpacken und meine Papiere nehmen. Ich stürzte hinaus – es war ein Viertel nach elf – und sah den Dampfer so rund hundert Meter weit – vielleicht waren es einige Meter weniger oder mehr, was in diesem Fall überhaupt keine Rolle spielte – dem Festland zusteuern. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mein ganzes Gepäck wieder den Berg hinaufzuschleppen, um das Ganze am nächsten Tag ohne Briefe und um eine Stunde früher zu wiederholen.
Ich ging auf die Polizei, um eine neue Ausreisegenehmigung für den nächsten Tag zu bekommen. Nachdem ich den versammelten Beamten mein Mißgeschick erzählt hatte, bekam ich den neuen Schein. Sie nahmen von mir herzlich Abschied und wünschten mir eine glückliche Heimkehr – mir dem feindlichen Ausländer!
Am nächsten Tag schleppte ich mit Pauls Hilfe nach einem neuerlichen Abschied von Dells mein Gepäck bereits um neun Uhr zur Landungsbrücke – diesmal ohne Korrespondenz. Schade, die Briefe meines Vaters hätten mir später gute Dienste geleistet. Als die Landungsbrücke in Sicht kam, atmete ich erleichtert auf. Noch kein Mensch da. Diesmal würde ich der Erste sein und bestimmt mitkommen. Als wir nahe genug gekommen waren, sah ich neben dem Zugang zur Brücke eine Tafel.
Als wir vor dieser standen, las ich: »Wegen Minengefahr verkehrt das Schiff nach Vlissingen ab heute von Tilburydock in London.«
Sprachlos sahen wir einander an. Für heute war es bereits zu spät. Also neuerdings mit dem Gepäck ins Tressilian, dann neuerlich auf die Polizei. Als mich die Beamten wiedersahen, lachten sie aus vollem Halse. Ich bekam eine neue Ausreisebewilligung, diesmal ab Tilburydock, mit den besten Wünschen, daß es mir diesmal glücke.
Ich fuhr vorsichtshalber schon am Nachmittag nach London. Trotzdem, das Schiff erst am nächsten Morgen um acht Uhr abfahren sollte, entschloß ich mich, nicht in London zu übernachten, sondern nahm einen Wagen und fuhr direkt zum Fenchurchstreet-Bahnhof und von da direkt zu den Tilburydocks. Ich wollte lieber trotz nieselndem Regen die ganze Nacht auf meinem Koffer sitzend verbringen, als zu riskieren, wieder nicht mitzukommen. Ich kam dort schon bei vollkommener Dunkelheit an. Keine Lampe brannte. Es war Verdunkelung wegen der Zeppelingefahr. Ich schleppte mein Gepäck, über Schienen stolpernd, in Regenpfützen stampfend, daß es nur so spritzte, ohne es auch nur für einen Moment abstellen zu können, ohne daß es ganz durchweicht worden wäre, bis ich nach einer Ewigkeit in der Dunkelheit eine dunkle Masse mehr fühlte als sah. Ich war endlich bei meinem Schiff angelangt, vor dessen Fallreep sich bereits eine Menge von Auswanderern angestaut hatte.
Meinen Koffer stellte ich behutsam auf den meines Vordermannes, während ich den Freßkorb ständig aus einer Hand in die andere überwechselte. Es dürfte so um elf Uhr nachts gewesen sein. Um zwei war ich endlich an Bord und atmete auf. Da es hieß, daß wir einen weiten Bogen machen müßten, um den Minen auszuweichen, bereitete ich mich seelisch auf eine diesmal länger dauernde Seekrankheit vor. Tatsächlich fuhren wir, um rechtzeitig in Vlissingen anzukommen, statt um acht bereits um sechs Uhr ab. Hätte ich mich auf den Fahrplan verlassen, wäre ich zum dritten Mal zurückgeblieben!
Die Seereise dauerte tatsächlich über zwölf Stunden, die See war aber so ruhig, wie um diese Jahreszeit seit Menschengedenken nicht mehr, sodaß es mir nur so ganz-ganz klein wenig gelang seekrank zu werden, daß es kaum erwähnenswert ist. Ich zog aber ein Sandwich nach dem anderen aus meinem Korb.
In Vlissingen verlief die Paß- und Gepäckskontrolle bei uns Durchreisenden ganz glatt. Eine Stunde später fuhr unser Zug ab. In der Nacht passierten wir die holländisch-deutsche Grenze. Da sah ich die ersten mit grober Leinwand überzogenen deutschen Pickelhauben und spürte den ersten Hauch des Krieges. Doch auch hier passierte ich die Grenze ohne jede Schwierigkeit. Vormittags kam ich in Köln an. Da erfuhr ich, daß es wegen Truppen-, Waffen- und Munitionstransporten keine regelmäßigen Fahrpläne gäbe. Man fuhr in der gewünschten Richtung von Station zu Station, wie sich eine Möglichkeit ergab. So ging ich vorerst einmal in das Bahnhofrestaurant, um etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Auf der Speisekarte entdeckte ich Wiener Schnitzel. Das war etwas für mich. Das hatte ich durch Monate nicht gegessen. Wie entsetzt war ich, als ich es, in einer Tunke ganz aufgeweicht, serviert bekam.
So arbeitete ich mich langsam durch zwei Tage von Ort zu Ort in überfüllten Zügen nach Osten weiter, bis ich endlich in Eger an der österreichischen Grenze ankam. Die deutsche Grenzkontrolle ließ mich glatt durch, die meiner Heimat jedoch wollte mich absolut nicht hereinlassen. Hätte ich da einen von den Briefen meines Vaters vorzeigen können auf dem Briefpapier mit dem aufgedruckten Briefkopf der Fabrik, vielleicht hätte ich mir erspart, die Nacht im Raum des Niemandslandes zwischen Österreich und Deutschland zu verbringen, bis morgens der Bahnhofsoffizier erschien, der mich nach einem gründlichen Verhör, ob ich kein englischer Spion sei, passieren ließ. Als ich jedoch mit einem Rundreisebillett zum Zug auf den Bahnsteig wollte, hielt mich der Zerberus in seiner Box an und erklärte mir, daß meine Fahrkarte über Furt im Walde gelte und nicht über Eger. Die eine Strecke wäre eine Staatsbahn, die andere noch die letzte Privatbahn im alten Österreich. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich durch das Bahnhofrestaurant auf den Bahnsteig zu mogeln und mit dem nächsten Zug entlang dem halben Böhmerwald auf dem Klosett eingesperrt mitsamt meinem Gepäck bis Furt zu fahren. Dort wartete ich den nächsten Zug nach Prag ab und fuhr nun legal nach Hause.
In Prag kam ich etwas nach ein Uhr mittags bei einem recht wilden Schneegestöber an, bekleidet mit einem leichten kurzen Überzieher und auf dem Kopf einen Girardihut. Alle Leute drehten sich nach dem Narren um, der im Winter mit Strohhut und Sommermantel daherspaziert. Mit Herzklopfen läutete ich endlich an unserer Wohnungstür.
Unsere dicke Köchin öffnete und schrie aus: »Jessus unser junger Herr ist da!«
Da kam auch das Stubenmädchen – es war ein neues, das ich noch nicht kannte – begutachtete mich und half rufen: »Jessus Marie, Jessus Marie!« Ich warf mein Gepäck hin und eilte ins Speisezimmer, wo die ganze Familie versammelt saß.
Meine Mutter war aufgesprungen. Mein Vater sah mich nur entgeistert an und sagte: »Du Trottel, was machst du da?!«