Kitabı oku: «Die neue Gesellschaft», sayfa 15
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Wie Leo und Cäcilie die Wahrheit erfuhren
Frau Helbing ging einfach auf das zuständige Polizeibüro und meldete unter Vorlegung ihres Buches den Tatbestand.
Der Wachtmeister nahm ein langes Protokoll auf und begab sich, nachdem auch er sich vor Lachen tüchtig ausgeschüttelt hatte, am nächsten Morgen in die Berndtsche Villa.
Es war sehr früh. Leo und Cäcilie lagen noch in den Betten. Der Wachtmeister aber ließ sich nicht abweisen.
»Sagen Sie nur, es handelt sich wegen ihrer Tochter,« trug er dem Diener auf. »Dann werden sie vor Schreck schon aus den Betten fliegen.«
Und der Diener, der glaubte, einem Familiengeheimnis auf die Spur gekommen zu sein, richtete aus:
»Der Herr Wachtmeister läßt sagen, es sei sehr wichtig und handle sich um dem gnädigen Herrn seine Tochter.«
»Was?« rief Cäcilie und sprang auf. »Du hast eine Tochter, von der ich nichts weiß?«
»Wie weit die gnädige Frau daran beteiligt sind, hat der Herr Wachtmeister nicht gesagt.«
»Raus!« brüllte Cäcilie, schlüpfte aus dem Bett in die Matinee und stand, noch ehe Leo die verklebten Augen geöffnet hatte, auch schon vor dem Wachtmeister.
»Was sind das für geheimnisvolle Dinge, von denen ich nichts weiß?« fuhr sie ihn an.
Der Wachtmeister lachte. Zunächst noch über die ganze Geschichte; dann aber über den Aufzug Cäciliens, der so gut in diese Komödie paßte.
»Also?« wiederholte Cäcilie ihre Frage.
»Nicht so hastig, Frau Berndt! Sie haben es einundzwanzig Jahre lang nicht gewußt, da wirdʼs auf fünf Minuten länger wohl auch nicht ankommen. – Ich möchte ersuchen, daß Ihr Mann dabei ist, wenn ich den Tatbestand mitteile.« – Und dabei öffnete er den blauen Aktendeckel und griente auch schon wieder über das ganze Gesicht.
»Leo!« kreischte Cäcilie in den Korridor. Und als sich ein Diener zeigte, fuhr sie ihn an: »Mein Mann soll kommen. Ganz gleich, in welchem Aufzug!«
Leo glich einer zerknitterten Vogelscheuche, die Wind und Regen zerzaust hatten. – Ängstlich trippelte er den Korridor entlang, das letzte Stück im Laufschritt, da Cäcilie ihm zurief:
»Tempo! Leo, Tempo!« Und als er endlich vorn war, sah sie ihn an und sagte:
»Gut siehst du aus!«
Leos Blick, der an Cäcilie hing, sagte dasselbe. Aber er sprach es nicht aus und dachte: man sieht es auch so.
»Also, denn los!« begann der Wachtmeister. »Aber setzen Se sich lieber, sonst fallen Se womöglich noch um. Es sind zwar nur ʼn paar Worte. Aber se habenʼs in sich.«
Leo setzte sich. Cäcilie, die drohend vor ihrem Mann stand, sagte:
»Ich bleibe stehen.«
»Wie Se wollen Also« – und er las:
»Nach der eidesstattlichen, durch Vorlegung ihres Buches bestätigten Aussage der ärztlich geprüften Hebamme Elise Helbing, sind die am 2. Mai 1916 ehelich geborenen Kinder Günther Linke und Frida Berndt vertauscht bezw. verwechselt worden.«
Es folgt die Schilderung des Vorgangs. Sodann heißt es in dem Protokoll weiter:
»Die beiderseitigen Eltern haben unverzüglich die Berichtigung in den Standesamtsregistern zu beantragen und anzugeben, ob ihre am 2. Mai 1916 geborenen Kinder die ihnen von unbefugter Seite gegebenen Rufnamen weiterführen sollen. Die Kgl. Staatsanwaltschaft ist von dem Vorfall gebührend in Kenntnis gesetzt. Die Untersuchung wird ergeben, ob sich die Täter wegen fahrlässiger oder qualifizierter Kindesunterschiebung und intellektueller Urkundenfälschung zu verantworten haben werden. – Die Täter sind vorläufig auf freiem Fuß zu belassen.«
»So!« sagte der Wachtmeister, klappte den blauen Aktendeckel zu und sah auf.
Cäcilie war auf einen Divan geglitten, von dem aus sie sich im Spiegel beobachten konnte. Sie brachte hastig und unruhig ihr Haar in Ordnung.
Leo war aufgestanden und dicht an den Wachtmeister herangetreten.
»Ich gebʼ Ihnen mein Wort, wir sind unschuldig,« sagte er zitternd.
»Darüber wird das Gericht entscheiden,« erwiderte der.
»Kann es schlimm werden?« fragte Leo ängstlich.
»Ich glaube kaum.«
Das beruhigte Leo.
»Wenn Sie wüßten, was uns der Junge gekostet hat. Bekommt man die Auslagen ersetzt?«
Der Wachtmeister zog die Schultern hoch, wandte sich um und ging. —
Als er draußen war, wandte sich Cäcilie zu Leo und sagte:
»Was wird nun?«
»Vor allem darf niemand etwas von der Geschichte erfahren.«
»Selbstredend! Man macht sich ja lächerlich!«
»Und auf das Geschäft wirktʼs schließlich auch zurück.«
»Du mußtest ja durchaus Kinder in die Welt setzen!«
»Hattest du dir nicht immer einen Jungen gewünscht?«
»Gewiß! Aber was haben wir nun?«
»Ein Mädchen.«
»Von einundzwanzig Jahren.«
»Und verheiratet ist sie auch!«
»Und wie! Mit einem Konzertsänger, den niemand kennt.«
»Schämen muß man sich! Bei Domestiken ist sie groß geworden. So etwas bleibt haften. Den Arme-Leute-Geruch wird sie nie los.«
»Eine nette Geschichte.«
Cäcilie dachte nach:
»Am Ende . . .«
Leo sah sie an
»Was meinst du?« fragte er.
»Nu, ich meinʼ nur, am Ende läßt sich das vertuschen. Das Mädchen hat ihren Mann und heißt gottlob nicht mehr Berndt, sondern Menotti. Wir geben den beiden Zulage und dafür müssen sie sich verpflichten, jede verwandtschaftliche Annäherung zu unterlassen.«
»Das ginge zu machen.«
»Na, und Günther wird einfach adoptiert. Ihm wird die Wahl zwischen uns und Linkes nicht schwer fallen.«
»Aber Linkes, ob die damit einverstanden sein werden?«
»Ich bittʼ dich! Was spielt ein Kind mehr oder weniger bei solchen Leuten für eine Rolle? Schlimmstenfalls kaufen wir ihn ihm ab.«
Leo brabbelte etwas vor sich hin.
»Was sagst du?« fragte Cäcilie.
»Ich meinʼ nur, lieber wärʼs mir schon, wir bekämen ihn so. Man hat Ausgaben genug.«
»Wir werden sehen.« – Sie stand vom Divan auf. »Alle Tage neue Aufregungen! Man wird alt und häßlich dabei.«
Leo wandte sich zur Tür.
»Wo willst du hin?« fragte sie
»Mich anziehen. Und dann ins Geschäft. Es geht schon auf neun.«
»Und was wird aus der Geschichte hier?«
»Liebes Kind, das ist deine Sache. Du kennst unsere Abmachung: ›Ich bring das Geschäft in die Höhe, du den.‹ . . .«
Er stutzte.
»Du siehst, es trifft nicht mehr zu,« erwiderte Cäcilie. »Wenigstens so lange nicht, bis Ordnung in die Konfusion gebracht ist.«
»Was soll ich also tun?«
»Ich sehʼ schon, ich muß das wieder machen. – Also gut! Gehʼ du ins Geschäft, ich werde mit Linke sprechen.«
Leo war froh und ging. In der Tür blieb er stehen.
»Was ist noch?« fragte Cäcilie.
»Wegen der Zulage für diese . . . Wie heißt unsere Tochter doch?«
»Frida Menotti.«
»Richtig! – Reichlich oft hat sie ja ihren Namen gewechselt. Wenn ich bedenke: Berndt – Linke – Ury – Menotti. Jedenfalls: machʼ das mit dem Mädchen direkt ab. Nicht durch den Maestro. Sonst kostet es wieder doppelt.«
»Wenn du meinst, daß du es billiger machst,« erwiderte Cäcilie, »bitte!«
»Nein! nein!« wehrte Leo ab und wollte sich eben aus dem Staube machen, als vom Flur her laute Stimmen zu ihnen drangen.
Ehe sie noch feststellen konnten, wer am frühen Morgen so in ihrem Hause lärmte, stürmte Frida Menotti geborene Berndt, gefolgt von Enrico, dem Gatten und Tenor, ins Zimmer.
Frida warf sich Leo an den Hals und rief:
»Papa! Mein guter Papa!« während Enrico seine Arme um Cäcilie schlang, sie mit sizilianischer Leidenschaft an sich drückte, küßte und ein über das andre Mal: »Madre! guteste Madre!« rief.
Das setzten sie eine Zeitlang fort. Dann vertauschten sie ihre Opfer. Frida wandte sich der Madre, Enrico dem Papa zu, umarmten und küßten sie, nahmen sie bei den Händen, bildeten einen Kreis und tanzten wie ausgelassene Kinder übermütig mit ihnen durch das Zimmer.
Papa und Madre waren außer Atem.
Frida aber gab ihrem Glück lautesten Ausdruck
»Das hätte ich ahnen sollen!« rief sie. »Aber das hole ich nach. Mama, das mußt du mir versprechen, euer Leben darf von heute ab nur noch einen Zweck kennen: alles, was ihr durch euer Versehen an mir verschuldet habt, zehnfach wieder gutzumachen!«
»Das werden die lieben Eltern schon von selbst tun!« schnurrte Enrico und drückte noch immer die Hand seiner Schwiegermutter Cäcilie.
»Das hast du dir gestern auf dem Standesamt nicht träumen lassen, was für eine Glanzpartie du machst!« rief Frida ihrem Enrico zu.
Cäcilie sah Leo an und stöhnte:
»Was soll nun werden?«
Leo wandte sich an das junge Paar und sagte:
»Am besten, Sie gehen erst ʼmal, wie Sie es sich vorgenommen hatten, auf vier Wochen in den Harz.«
»Das sollte mir einfallen!« rief Frida. »Für Linkes Tochter war der Harz als Hochzeitsreise allenfalls akzeptabel. Berndʼs Tochter macht es nicht unter Ägypten.«
»Egitto!« wiederholte Enrico und strahlte über das ganze Gesicht.
»Aber,« fuhr Frida fort, »fürs erste verschieben wir ʼmal unsere Hochzeitsreise, bis wir uns hier richtig eingewöhnt haben. Nicht wahr, Mama, du willst doch auch etwas von deiner Tochter haben, die man dir einundzwanzig Jahre lang vorenthalten hat.«
»Was soll also werden?« wiederholte Cäcilie verzweifelt.
Leo zog die Schultern hoch und sagte:
»Ich habʼ mein Geschäft!«
Cäcilie faßte sich ein Herz.
»Vor allem muß doch erst einmal festgestellt werden,« sagte sie, »daß die Angaben dieser Person da auch auf Wahrheit beruhen.«
»Das ist ganz sicher,« erklärte Frida. »Sie war eben bei uns. Papa – ich meine jetzt den andern, also Linke – hat seinen Irrtum ja bereits zugegeben«
»Kunststück!« sagte Cäcilie.
»Und dann: ich habe es ja längst gefühlt, wie viel mehr ich zu euch gehöre als zu diesen Linkes – Da, Enrico!« rief sie plötzlich und faßte den ahnungslosen Berndt ans Ohr, »Sieh her! Meine angewachsenen Ohrläppchen! Papa ist genau so degeneriert wie ich! – Herrlich! Das hätte ich ahnen sollen! Da hat man sein halbes Leben da unten im Leutehaus verbracht und hätte die ganze Zeit hier die hohe Tochter spielen können.«
Dann stürzte sie auf Cäcilie, die ratlos und in Gedanken stand, nun aber erschreckt auffuhr:
»Da, sieh nur, Enrico,« rief sie und wies auf Cäciliens Gesicht, »derselbe melancholische Zug um den Mund, den du an mir so liebst! Das heißt, bei dir, Mama, ist er mehr eine Rinne. Das machen die Jahre! – Großer Gott!« rief sie plötzlich. »Wenn ich am Ende in vierzig Jahren aussehe wie du, Mama!« – Sie legte den Arm um ihren Mann und sagte: »Armer Enrico!«
Leo hatte sich wieder bis zur Korridortür vorgepirscht. Er drückte leise die Klinke hinunter, öffnete behutsam, trat auf die Schwelle, drehte sich um, rief:
»Du ordnest das wohl!« und verschwand.
»Leo!« rief ihm Cäcilie mit Verzweiflung in der Stimme nach.
Leo hörte es wohl; es schnitt ihm auch ins Herz, und sie tat ihm leid. Aber er wandte sich da nicht um. Nie war er so schnell angezogen, die Treppe hinunter und aus dem Hause.
»Höchste Geschwindigkeit!« rief er seinem Chauffeur zu und überließ Cäcilie ihrer neuen Familie.
Die wich nicht mehr, richtete sich häuslich ein, kehrte alles von oben nach unten und lähmte durch die Selbstverständlichkeit, mit der das alles geschah, jeden Widerspruch aufseiten Cäciliens.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Vater und Sohn
Linke zermarterte sich während der Fahrt nach Tübingen das Gehirn mit der Frage, wie er Günther die Nachricht beibringen sollte. Er entwarf ein Programm nach dem andern und verwarf es wieder. Schließlich entschied er sich dafür, ihn ganz allmählich auf das Ereignis hinzuführen, bis von selbst in ihm die Ahnung aufstieg. Und er war entschlossen, nötigenfalls tagelang in Tübingen zu bleiben.
Seine Ersparnisse reichten aus, um ihn und seine Familie, auch ohne daß er hinzuverdiente, zu ernähren. Daß es ihm unmöglich war, bei Berndts zu bleiben, empfand er deutlich. Wie sollte das Verhältnis von Frida zu ihm, wie das Günthers zu Berndts sich gestalten? Diese letzte Erwägung gab den Ausschlag. Schon unterwegs setzte er ein Telegramm an Leo Berndt auf:
»Infolge der veränderten Verhältnisse erbitte meine sofortige Entlassung
Gehorsamst Franz Linke.«
Irgend eine Art Beschäftigung fand er immer. Vielleicht, daß sich sein Traum, auf dessen Erfüllung er seit dreißig Jahren hinarbeitete und der in der Bewirtschaftung einer Klitsche bestand, die sein war – vielleicht, daß dieser Traum sich schon jetzt verwirklichen ließ. Das hing nicht zuletzt von Günther ab, den er aus seinem Studium nicht herausreißen wollte, sofern er selbst den Wunsch hatte, es fortzuführen.
Als er die Treppen zu Günthers Wohnung hinaufstieg, schlug ihm das Herz so stark, daß er mehrmals stehen bleiben und Atem holen mußte. Im dritten Stock hing an einer schmalen Tür ein Schild, darauf stand: »Günther Berndt«. Noch als er den Klingelzug in der Hand hielt, überlegte er. In seinem Kopf drehte sich alles. Die ersten Worte, die er sich zurechtgelegt und wohl ein Dutzend Mal laut aufgesagt hatte, waren plötzlich in seinem Gedächtnis wie ausgelöscht. – Als er den hellen Ton der Glocke hörte, fuhr er zusammen und war sich im ersten Augenblick nicht klar, daß er es war, der ihn verursacht hatte. Erst als er im Flur Schritte hörte und gleich darauf ein saubergekleidetes Mädchen vor ihm stand, fand er zu sich zurück und sagte:
»Ist wohl der junge Herr zu sprechen?«
»Ich bedaure,« war die freundliche, aber bestimmte Antwort. »Er ist zwar zu Haus, sitzt aber bei der Arbeit, und ich darf ihn nicht stören.«
Linke überlegte.
»Wenn Sie ihm sagen, daß ein Freund aus Berlin . . . .«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Ich habe strenge Instruktion. Und von Berlin will er schon gar nichts hören.«
»Ich habe seinetwegen die weite Reise gemacht.«
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich heiße Linke.«
»Etwa Franz Linke?«
»Ja! Sie kennen mich?«
»Aus Reden des jungen Herrn.« – Sie sah ihn prüfend an: »Sind Sie das auch wirklich?«
»Mein Wort darauf! Aber was ändert das?«
»Möglich, daß er für Sie zu sprechen ist.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Gott, man spürt das doch so heraus, wenn man alle Tage um einen Menschen herum ist, wen er mag und wen nicht.«
Sie ahnte nicht, wie wohl sie Linke mit den paar Worten tat.
»Also dann . . .?« fragte er.
»Ich denke,« erwiderte das Mädchen. »Bitte, warten Sie, ich werdʼs versuchen.«
Sie verschwand hinter einer der Türen, die Linke nun mit seinen Augen umfaßte, als wenn sich hinter dieser Tür sein Schicksal erfüllen sollte.
»Aber selbstredend!« sagte da drinnen eine helle, freundliche Männerstimme. Warm trafen die beiden Worte Linkes Herz.
»Aber selbstredend!« wiederholte er. Und diese beiden Worte blieben für ihn eine Erinnerung, an der er hing, solange er lebte.
Das Mädchen öffnete die Tür, lächelte und sagte:
»Bitte!«
Und Franz Linke trat über die Schwelle in Günthers Zimmer.
Günther stand aufgerichtet im Zimmer und nickte ihm zu. Er sagte auch irgend was. Aber es ging in Linkes Aufschrei verloren.
»Junge! Mein Junge!« rief Linke laut, hob beide Arme hoch und stürzte auf Günther zu.
Das kam so aus dem Herzen, so viel Liebe lag in den Worten, daß Günther, statt sich zu wundern, bewegt war, seinen Arm auf Linkes Schulter legte und sagte:
»Sie guter Mensch!«
Linke war mit seiner Beherrschung zu Ende. Er klammerte sich an Günther fest, schluchzte laut und wiederholte ein über das andre Mal:
»Mein Junge! Du, mein Junge!«
Jetzt erst stutzte Günther. – Was konnte diesem nüchternen Menschen, der nie seine Ruhe verlor, zugestoßen sein, dachte er, daß er in dieser Verfassung zu ihm kam und sich ihm an den Hals warf? Hatten die Eltern ihn aus dem Hause gejagt? – Nein! Nein! sagte er sich. Er hätte mehr Würde. Er würde nicht betteln. Nicht einmal beklagen würde er sich. – Oder war einem von seinen beiden Eltern etwas zugestoßen? Und Linke kam, um ihn vorzubereiten? – Auch das konnte der Grund nicht sein. Denn – das fühlte er deutlich – dieser Gefühlsausbruch ließ weder auf Not noch Jammer schließen. Es schien vielmehr, als wenn aus ihm ein Glück sprach, das sich aus irgend einem Grunde noch nicht recht hervorwagt.
»Was ist Ihnen, Linke?« fragte Günther freundlich, legte seinen Arm um ihn und führte ihn zum Sofa. »Kommen Sie! Hier setzen wir uns dicht nebeneinander! – So! Und nun weinen Sie sich erst einmal richtig aus. Schämen Sie sich nicht! Und dann erzählen Sie!«
Linke bot seine ganze Kraft auf, nahm Günthers Hand und sagte:
»Also – heraus muß es! Und viel Worte machen kann ich nicht – denn es sitzt mir in der Kehle – und jetzt, wo ich hier stehe, da erscheint es mir wie ein großes Glück. – Nur, wie es auf dich wirkt, das ist die Frage. Aber ich habʼs so im Gefühl, als müßte sich da irgendwas losreißen in dir, was nicht stimmte – oder, am Ende, da trifftʼs dich und du fällst aus allen Himmeln. – Wie?« – Er stand auf, trat dicht vor Günther hin und sah ihm fest in die Augen: »Also, daß duʼs weißt, Junge!« – Seine Augen strahlten – »Du gehörst mir! Mir allein! Und hast nichts zu schaffen mit denen da! Denn du bist mein Kind! Mein Kind bist du! – Und das Mädchen, die Frida, das ist Berndt ihrs. – So, nun weißt duʼs! Und wenn dich jemand fragt: von heutʼ ab, da heißt du Linke. Genau wie ich und wie wir alle! Mein Sohn bist du! und warst es von der ersten Stunde ab. – Du bist ein braver Kerl, Günther! – So! Nun ist es heraus!«
Die dicken Tränen liefen ihm über das Gesicht, und er drückte die Hand Günthers immer fester.
Günther hielt sich die Hand vor die Augen, preßte die Finger an die Schläfen – alles in ihm war in Bewegung. Erst schien es, als wenn er in sich zusammensänke, er beugte den Kopf nach vorn und ließ die Schultern herabfallen – eine ganze Zeitlang stand er so. Dann aber ging ein Ruck durch den ganzen Körper, alle Nerven spannten sich, er richtete sich auf, stand kerzengerade, hob den Kopf, sah dem alten Linke fest ins Gesicht, holte tief Atem und sagte breit:
»Gott sei Dank!«
Linke schlug die Hände zusammen und rief freudig:
»Günther!«
Und Günther wiederholte:
»Gott sei Dank!«
Er breitete die Arme aus, dehnte und streckte sich, ließ sich auf das Sofa fallen und stieß tief aus dem Innern das Wort hervor, das sein Herz enthüllte:
»Frei!«
Linke stand strahlend vor ihm. Er sagte nichts, sah ihn nur immer an. Aber auf seinem Gesicht standen stolz die Worte:
»Mein Junge!«
Nach einer Weile stand Günther auf, nahm Linkes beide Hände und sagte:
»Ich bin so froh! Und es wird mir nicht schwer fallen; mit meinen Gefühlen mich zu euch zu finden. – Bitte, laßʼ mich ein paar Stunden allein, du begreifst, daß ich sie brauche.«
Linke ließ ihm den halben Tag. Als er gegen Abend wieder läutete, stand Günther schon an der Tür.
»Kommʼ nur! Kommʼ nur!« rief er ihm freudig zu und zog ihn übermütig ins Zimmer. »Wenn du einen glücklichen Menschen sehen willst – hier, sieh mich an!«
Und Linke sah in ein Gesicht, aus dem laut das Glück sprach.
»Vater!« sagte er und drückte ihm die Hand.
»Es ist das erste Mal! Wie gut, daß du mir trotz allem nie ein Fremder warst.«
»Also zufrieden?« fragte Linke.
»Vater, wenn du nur ein klein wenig von dem fühlst, was ich fühle, dann bin ich schon froh.«
»Ich freuʼ mich wie du!«
»Nun wird alles gut!« rief Günther.
»Was meinst du, daß nun wird?« fragte Linke.
»O vieles! vieles! Was bisher nicht werden konnte!«
»Du meinst dein Studium?«
»Auch das.«
»Du wirst es fortführen. Ich bin in der Lage .«
»Halt! Halt!« unterbrach ihn Günther. »Ich würde von dir nehmen, wenn ich es brauchte und keiner von euch dadurch etwas entbehren müßte. Wirklich, ich täte es! Weil ich fühle, daß ich in meinem Fach was erreiche und es euch später einmal mit mehr als nur mit Dankbarkeit vergelten könnte. Aber ich brauche es nicht! Ich verdiene mit meinen Artikeln, was ich benötige. Freilich, ich brauche nicht viel. Und habe trotzdem neben meinem Studium noch Zeit für ein wissenschaftliches Werk gefunden, in dem freilich mehr Gefühl als Wissen steckt.«
Er nahm ein dickes Manuskript auf und zeigte es Linke.
»Ich hoffe, ich hoffe,« sagte er, »daß ich es mir damit erringe.«
»Was willst du dir erringen?« fragte Linke.
»Eine Professur?«
»Das kommt später! Erst ʼmal was anderes, was wichtiger ist als das!«
»Nämlich?«
»Mein Glück!«
Linke sah ihn fragend an.
»Ist das,« sagte Günther und wies auf das Manuskript, »eine Leistung, wohlverstanden eine, die eine Zukunft verspricht, dann Vater, weißt du, was ich dann tue?«
»Nun, Junge?«
»Dann holʼ ich sie mir!«
»Wen holst du dir?«
»Meine Braut!«
»Deine Braut?« wiederholte Linke, dachte an Frida und sah ängstlich zu ihm auf.
»Ja!! – Suse Röhren.«
»Junge, du bist verrückt!«
»Frei bin ich!« jubelte Günther. »Und habe keine Rücksicht mehr auf Berndts zu nehmen. Kann alles sagen, alles, was ich da mit mir herumtrage. – Hier ist das erste Geständnis! Es schlägt den wahren Ideen der ›Neuen Gesellschaft‹ ins Gesicht.«
Linke beugte sich über das Manuskript und las den Titel: »Das soziale Gewissen. – Eine Studie zur Vertiefung des Nationalgefühls.«
»Junge, das ist mir zu hoch!« sagte er.
»Das scheint nur so. Denn alles, was da drin steht, das fühlst du, ohne es zu wissen, längst. Und Röhrens, die fühlen es auch. Jeder fühlt es, der ein Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitmenschen in sich spürt. – Nur, wer seine Person über alles stellt, Egoisten, deren Erbauungslektüre das Hauptbuch ist, pietätlose Emporkömmlinge, für die es keine Wunder gibt außer ihnen selbst, denen alles, was ihre Vernunft nicht faßt, unvernünftig erscheint, denen nichts heilig ist als ihre Person – kurz, was sich um die neue Gesellschaft schart, fühlt anders.«
»Das mag ja sein. Und so weit ich imstande bin, dir zu folgen, gebʼ ich dir recht. Aber was hat das soziale Gewissen denn mit Suse Röhren zu tun?«
das Mädchen war auf den Zehen ins Zimmer gekommen und hatte die Post auf Günthers Schreibtisch gelegt. Dann war sie ebenso behutsam wieder hinausgegangen.
Günther hatte ein Telegramm herausgegriffen, es geöffnet, gelesen und dann laut aufgelacht
»Was ist?« fragte Linke.
»Hier ist die Antwort auf das, was du mich eben fragtest,« sagte er und reichte ihm die Depesche.
Linke las:
»Erfahren soeben, daß Linke Dich heimsucht. Fürchte nichts. Wir halten Dich und adoptieren Dich von Linkes á tout prix. Laßʼ Dich auf nichts mit ihm ein. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß wir Frida anerkennen müssen, was infolge ihrer Ehe aber kaum noch eine Wirkung hat. Der Welt gegenüber bleibst Du unser leibhaftiger, lieber Sohn, während Frida, die noch bockig Situation ausnutzt und Preis in die Höhe treibt, als adoptiert gilt. Bedenke die Unmöglichkeit für Röhrens, ihre einzige Tochter mit einem Domestikenkinde zu verehelichen. Sie dürfen nie etwas von Deiner obskuren Abstammung erfahren. Drahte sofort Dein Einverständnis, und daß wir in Dir auch ferner unseren lieben, hoffnungsvollen Sohn umarmen. Deine heimgesuchten Eltern Leo und Cäcilie Berndt.«
»Und was wirst du antworten?« fragte Linke. Günther, der, während Linke las, die Antwort bereits aufgesetzt hatte, reichte ihm daß Formular. Da stand:
Werde immer dankbar gedenken, was Ihr in Eurer Art Gutes an mir tatet. Da es mich aber mit allen Gefühlen dahin zieht, wo ich von Natur aus hingehöre, so muß ich Eure Vorschläge mit Dank, aber Bestimmtheit, ablehnen. Ich setze mein Studium hier fort und werde mich über gute Nachrichten von Euch stets freuen.«
»Und dabei bleibtʼs?« fragte Linke.
»Mein Wort darauf!«
»Und was hat das mit Suse Röhren für eine Bewandtnis?«
Günther erzählte seinem Vater den Hergang. Auch von dem Besuch Frau Röhrens, über den Cäcilie ihm ausführlich geschrieben hatte, sprach er. Von seiner Liebe und von seinem Verzicht, für den er ihm als hauptsächlichen Grund seine innere Gebundenheit nannte, seine Rücksicht auf Berndts, die seine Entwicklung gehemmt und ein solches Maß von Nichtachtung vor sich selbst in ihm erzeugt habe, daß er sich unwürdig einer Ehe mit Suse Röhren erschienen sei. Am meisten aber habe er sich des Schwindels, der mit seinem Namen bei den beiden Operetten getrieben worden sei, geschämt.
Linke folgte bewegt seinen Worten. Er verstand alles.
»Ich sage dir eins, mein Sohn: wie Röhrens sich zu dir stellen werden, wenn sie erfahren, wer du bist, weiß ich nicht. Eins aber weiß ich: daß es schlimm um das Mädchen stehen muß, wenn Frau Röhren sich zu dem Schritt bei Frau Berndt entschlossen hat.«
»Ich bin mir dessen bewußt.« sagte Günther. »Mir war mein Weg vorgeschrieben: zu arbeiten, etwas zu leisten und mich dann zu emanzipieren. So nur wurde vor meinem Gewissen der Weg, der mich zu Suse führte, frei. Der Arbeit und der Leistung war ich mir sicher.« – Er wies wieder auf das Manuskript – »Vielleicht, daß das damit schon erreicht war. Die Emanzipation von meinen Eltern, so wenig mich innerlich mit ihnen verband, war mir kein leichter Gedanke. Die aber hat sich nun von selbst vollzogen. In einer Form, über die ich jubeln könnte. – Mir ist zumute, als wenn tausend Fesseln von mir fielen.« – Er rief das Mädchen —
»Schnell! schnell! packen Sie meine Sachen! Es geht nach Berlin!«
Linke sah ihn fragend an.
»Oder glaubst du, daß ich nun noch warte? Jede Stunde länger wäre ein Verbrechen an Suse.«
»Junge, hast du dir das auch alles überlegt?«
»Da gibtʼs nichts mehr zu überlegen. Wenn, wie hier, die Natur Schicksal spielt, dann ist der Weg der richtige.«
»Tu, was dir dein Gewissen sagt. Bis zum Abend aber mußt du dich schon gedulden. Früher können wir nicht fahren.«
»Dann kommʼ ins Freie, Vater! Die Räume hier sind mir zu eng. Ich muß wo sein, wo ich meine Freude laut hinausschreien kann. Herrgott! bin ich glücklich!«
Er nahm Linke unter den Arm. Sie stiegen in einen Wagen und ließen sich aus der Stadt hinausfahren. Dann gingen sie ein paar Stunden weit Hand in Hand. Günthers Stimmung war ein einziger Freudenrausch. Eine Fülle von Gefühlen brach mit der Leidenschaft seiner einundzwanzig Jahre hervor. Und als Linke fast ängstlich fragte:
»Junge, was ist dir bloß?« da warf er die Arme hoch und rief:
»Ja. Vater, siehst duʼs denn nicht? Ich feiere meine Menschwerdung! – Ich habe ja alles, alles die Jahre über zurückdrängen müssen und fühlte dabei, wie alles in mir wurde und sich äußern wollte und doch nicht durfte. – So voll zu sein von Gedanken und Gefühlen und nichts von sich geben dürfen! Wenn du wüßtest, wie arg das ist!«
Linke lächelte und dachte: Wie verliebt er ist! Aber er fühlte doch, daß es noch etwas anderes war, was ihn bewegte. —
Als sie heimkehrten, fanden sie schon ein Antworttelegramm von Cäcilie vor.
»Lies du!« sagte Günther und reichte Linke das Formular. »Ich habe so das Gefühl, als stände etwas Taktloses darin. Ich vertragʼ das jetzt nicht. Ich will mir meine Freude rein erhalten.«
Linke öffnete und las. – Günther sah seines Vaters ernstes Gesicht und fragte:
»Nun? Hatte ich recht?« Deinem feierlichen Gesicht nach zu urteilen: ja!«
»Toll!« sagte Linke. »Sie lernen es nie!«
»Was heißt das?«
»Eigentlich sollte man lachen, so komisch ist es.«
»Lachen?« rief Günther. »Dann gib her!«
Er nahm das Telegramm und las:
»Bedauern für dich gemachte Aufwendungen. Undankbarer! Brechen alle Brücken zu dir ab. Frida nimmt deine Stelle ein. Auch in unseren Herzen. Man soll niemanden zu sich emporziehen wollen. Leben Sie wohl. Leo Berndt und Frau.«
Günther lachte nicht. Er schüttelte den Kopf und sagte:
»Sie tun mir leid!«
Eine halbe Stunde später saßen Linke Vater und Sohn im Zuge nach Berlin.