Kitabı oku: «Justizmord », sayfa 9
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Der Anstaltsdirektor war es gewöhnt, daß der Verurteilte zusammenfuhr, wenn er die Mörderzelle betrat. Er gab sich Mühe, jovial zu erscheinen, trat an Marot heran, klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter und fragte:
»Guten Morgen! – na, wie fühlen Sie sich?«
»Ist es denn schon soweit?« fragte Marot ängstlich.
Der Direktor sah nach der Uhr und erwiderte:
»Dreizehn Minuten vor fünf.«
»Hat denn niemand nach mir gefragt?« fragte Marot den Direktor erregt.
»Doch! dieser aufdringliche Amerikaner.«
Marot atmete auf und sagte:
»Gott sei Dank!«
»Dreimal hat er mich schon des Nachts im Schlaf gestört.«
»Ja – und?«
»Ich habe ihn abgewiesen.«
»Abgewiesen?« wiederholte Marot entgeistert.
»Und ihm sagen lassen, er soll sich zum Teufel scheren!«
»Wenn er doch aber– «
»Es ist eine Frechheit, mich des Nachts anzurufen.«
»Wenn es doch um das Leben eines Menschen geht.«
»Meine Besuchszeit ist vormittags von elf bis eins. So ein Amerikaner denkt, wenn er pfeift, tanzt unsereiner.«
»Aber morgen um elf bin ich doch längst. . .« – Er schüttelte sich vor Entsetzen.
Der Direktor klopfte ihm abermals auf die Schulter und sagte:
»Seien Sie tapfer, Voisin!«
»Der Amerikaner kommt in meiner Angelegenheit. Es ist etwas Wichtiges.«
»Ich kenne das. Zehn Minuten vor Toresschluß fällt den Leuten plötzlich was ein.«
»Ich beschwöre Sie, hören Sie ihn an!« rief Marot erregt, und der Direktor erwiderte, ohne eine Miene zu verziehen:
»Vermutlich will er zusehen, wie man Sie köpft – um eine Sensation für seine amerikanischen Blätter zu haben. Dazu gebe ich Sie nicht her.«
»Er will mich retten!«
»Ein Befreiungsversuch?«
»Es kann Ihr Glück sein.«
»Gar eine Bestechung? – So einem Amerikaner traue ich alles zu.«
»Er wird Ihnen alles aufklären.«
»Aufklären?« erwiderte der Direktor und schien enttäuscht. »Dazu hatte er wochenlang Zeit. – Wenn ich alle anhören würde, die mich unter richtigem oder falschem Namen in der Nadu vor einer Hinrichtung sprechen wollen, um mir Märchen zu erzählen und die Vollstreckung hinauszuziehen, brauchte ich den Hörer überhaupt nicht aus der Hand zu legen.«
»Aber in diesem Falle . . .«
»Jeder hält da seinen Fall für einen besonderen. Aber zu etwas Wichtigerem: Lehnen Sie den Zuspruch des Geistlichen noch immer ab?«
»Das hat doch Zeit, wenn es soweit ist.«
»Es ist soweit!«
»Das ist nicht wahr!« rief Marot entsetzt, stürzte auf den Wächter zu und rief: »Was ist die Uhr?«
Der fuhr erschrocken auf und wiederholte:
»Die Uhr?« – Dann sah er nach und sagte:
»Drei Minuten vor fünf.«
Der Direktor stellte fest:
»Demnach fehlen noch eine halbe Stunde und drei Minuten.«
». . . und Harvey ist noch nicht da!« rief Marot verzweifelt.
Der Direktor wandte sich an den Wächter und fragte:
»War er die ganze Zeit über so aufgeregt?« »Herr Direktor brauchen sich keine Sorgen zu machen,« erwiderte der Wächter, um den Direktor zu beruhigen – »ich sorge schon dafür, daß er nicht schlappmacht.«
Der Direktor wandte sich wieder an Marot und fragte:
»Wie ist es mit Ihrem letzten Willen? Haben Sie ein Testament gemacht?«
»Lassen Sie es nicht dazu kommen aber wenn . . .«
In diesem Augenblick schlug es draußen, um die volle Stunde anzudeuten, erst kurz viermal – es herrschte Totenstille – sie zählten alle drei mit – dann langsam fünfmal hintereinander.
»Fünf Uhr!« sagten sie gleichzeitig.
»Ich werde verrückt!« rief Marot und der Direktor fragte vollkommen ruhig:
»Also wie ist es mit Ihrem letzten Willen?«
»Alles gehört Dorothée!«
»Wer ist Dorothée?«
»Meine Frau!«
»Was für eine Frau?«
»Frau Marot natürlich.«
»Frau Marot vermachen Sie Ihr Letztes. Es wird ja nicht viel sein – immerhin, es kommt einem Geständnis gleich und zeugt von Reue, daß Sie mit Ihrem letzten Gedanken bei der Frau Ihres Opfers sind,« erwiderte der Direktor und fuhr, zu dem Wächter gewandt, fort: »Vergessen Sie nicht, es zu notieren.«
»Jawohl, Herr Direktor!«
»Es wird ein gutes Licht auf Sie werfen, wenn es morgen in den Zeitungen steht.«
»Nach meinem Tode?«
»Ein guter Ruf ist auch nach dem Tode etwas wert.«
»Führen Sie mich zum Staatsanwalt!« verlangte Marot.
»Den werden Sie in einer halben Stunde draußen treffen.«
»Gerechtigkeit!« schrie Marot, der jetzt wie verwandelt schien: »Ich habe ein Geständnis abzulegen.«
»Endlich!« sagte der Direktor – sofort verändert im Ton, und trat nahe an ihn heran. »Also, mein lieher Voisin, Sie haben Marot ermordet?«
»Nein! machen Sie mich nicht verrückt.«
Draußen an der Tür wurde geschlossen. – Marot fuhr zusammen. – Der Direktor sah nach der Uhr und sagte:
»Es ist ja erst drei Minuten vor viertel sechs.« Dann fuhr er zum Wächter gewandt fort: »Sehen Sie mal nach, wer da ist.«
Der Wächter ging zur Tür, die eben von außen geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand Frau Turel.
»Ihr Verteidiger«, sagte der Direktor, wandte sich zur Tür, grüßte Frau Turel und flüsterte ihr zu: »Ich lasse Sie mit ihm allein. Er ist sehr aufgeregt. Vielleicht gelingt es Ihnen, ihn zu beruhigen.«
Dann ging er hinaus.
Frau Turel erwiderte den Gruß kaum, trat an Marot heran und drückte ihm die Hand.
»Sie haben sich große Mühe mit mir gegeben«, sagte Marot.
»Ich habe nur meine Pflicht getan leider ohne Erfolg.«
»Wenn ich Sie in Ihrer Verteidigung unterstützt hätte. . .«
Frau Turel fiel ihm ins Wort und fragte:
»Warum haben Sie es nicht getan? Sie haben geschwiegen – auch auf die Fragen, die Sie entlasten konnten.«
»Ich hatte meine Gründe.«
»Die Sie mir bis heute verschwiegen haben.«
»Weil Sie mir nicht helfen können.«
»Von wem erwarten Sie noch Hilfe, wenn nicht von mir?«
»Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen« er trat dicht an Frau Turel heran und flüsterte ihr zu: »von Mister Harvey.«
»Auf den setzen Sie Ihre Hoffnung?« erwiderte Frau Turel und schüttelte den Kopf.
»Ja«
»Dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie verraten sind.«
»Verraten?« rief Marot erregt.
»Er hat den Staatsanwalt auf Ihre Spur gelockt.«
»Ach so!« erwiderte Marot – und war im selben Augenblick schon wieder ruhig.
»Sie wissen das?« fragte Frau Turel erstaunt – und Marot erwiderte kurz:
»Ja!«
»Aber daß er sich in mein Vertrauen schlich und mir in der Hauptverhandlung Direktiven gab, die Ihre Verurteilung herbeiführten, wissen Sie nicht.«
»Weshalb sind Sie ihm denn gefolgt?« fragte Marot vollkommen ruhig.
»Weil er mir glaubhaft machte, daß er Ihnen beistehen will.«
»Sehen Sie!«
»Die Folge war Ihre Verurteilung zum Tode.«
»Wenn Sie ihm glaubten, wie können Sie sich dann wundern, daß auch ich ihm glaubte?«
»Ich bin seiner Suggestion erlegen.«
»Genau wie ich.«
»Ich bin eine Frau – und dann: es war meine erste Verteidigung!«
»Genau wie es meine erste Anklage wegen Mordes war.«
»Er hat auch noch nach Ihrer Verteidigung auf mich eingewirkt.«
»Was hat er getan?«
»Er hat mich veranlaßt, auf die Einlegung der Revision zu verzichten.«
»Mit welcher Begründung?«
»Er hat es verstanden, mir klarzumachen, daß ich damit Ihre Qualen nur verlängern würde.«
»Hat er nicht recht?«
»Wenn es nur darauf ankam, Sie so schnell wie möglich vom Leben zum Tode zu befördern, dann hätten Sie sich am besten selbst geholfen, indem Sie sich eine Kugel in den Kopf jagten.«
Marot richtete sich auf und sagte:
»Ich will aber leben!«
»Das sagen Sie eine Viertelstunde vor Ihrem Tode.«
Marot fuhr zusammen und wiederholte tonlos:
»Eine Viertelstunde . . .« Dann raffte er sich auf und fragte:
»Und wo ist Mister Harvey jetzt?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Frau Turel.
»Aber er ist in Marseille?« fragte Marot und schien beruhigt.
»Ich glaube nicht.«
»Suchen Sie ihn!« drängte Marot.
»Wo soll ich ihn suchen? – Wenn er Ihnen helfen wollte, wäre er hier.«
»Sie . . . wissen . . . ja gar nicht!« rief Marot in großer Erregung – und Frau Turel trat dicht an ihn heran und sagte eindringlich:
»Rechnen Sie nicht auf ihn.«
»Ich muß.«
»Vertrauen Sie sich mir an! – Ich weiß, hinter dem Mord steckt ein Geheimnis. – Reden Sie endlich.«
»Ich habe mein Wort gegeben.« »Denken Sie jetzt an sich.«
»Mein Ehrenwort!« rief Marot in höchster Erregung.
»Von dem Sie Gott angesichts des Todes entbindet.«
Marot schien zu überlegen. – Einen Augenblick lang schien es, als wenn er reden wollte. – Dann aber rief er plötzlich laut und bestimmt:
»Nein! nein! nein!«
als wenn er sich gegen eine innere Stimme wehren wollte, die ihm zurief, eine Erklärung abzugeben.
»Sie müssen vor allem Zeit gewinnen!« beteuerte Frau Turel.
»Zeit?« wiederholte Marot und sah sich in der Zelle um. Dann fuhr er resigniert fort: »Als wenn ich noch Herr meiner Zeit wäre.«
Frau Turel griff in ihre Aktentasche und holte ein Schriftstück heraus.
»Ich werde die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen«, sagte sie.
»Wie wollen Sie das begründen?« fragte Marot. »Sehr einfach!« erwiderte sie, entfaltete hastig ein Aktenstück, blätterte um und las:
»Auf Grund dieser neuen Tatsachen ergibt sich folgendes Bild: Mister Harvey verliebte sich in Frau Dorothée. Der Liebe stand die Ehe mit Marot im Wege. Was lag näher, als dies Hindernis zu beseitigen? »Das stimmt ja alles nicht!« »Aber es könnte stimmen – und wir gewinnen Zeit.«
»Von einer Liebe«, rief er empört, »zwischen Harvey und meiner – . Er stutzte, besann sich und führte die Hand zum Mund.
»Was wollten Sie sagen?« drängte Frau Turel fragend auf ihn ein: »Zwischen Harvey und Ihrer . . .?«
»Nichts!« erwiderte Marot und wehrte ab.
»Wenn es Ihre war, dann ist Frau Dorothée also Ihre Geliebte – und Sie haben Marot umgebracht, weil er Ihnen im Wege war.«
»Denken Sie, was Sie wollen.«
Frau Turel wies auf das Aktenstück und fragte:
»Und was soll mit diesem Gesuch geschehen?«
»Lassen Sie es mir«, bat Marot und nahm es ihr aus der Hand. Dann sah er sie groß an und fuhr fort: »Falls Mister Harvey nicht kommt. . .«
»Er wird nicht kommen.«
»Was dann?«
In diesem Augenblick drehte sich draußen der Schlüssel im Schloß. Marot gewann sofort seine Haltung zurück.
»Das ist er!« rief Marot – und Frau Turel erwiderte:
»Wenn Sie sich nur nicht täuschen!«
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Aber statt Harvey, wie Marot erwartet hatte, trat abermals der Direktor in die Tür und fragte:
»Voisin! Wollen Sie Frau Marot sehen?«
Marot, enttäuscht und doch zugleich erfreut, fuhr leicht zusammen und erwiderte:
»Gewiß – will ich – Frau Marot sehen.«
»Es zeugt von Christenliebe und großer Selbstüberwindung, daß die Frau Ihres Opfers noch den Wunsch hat. Ihnen Trost zu bringen«, sagte der Direktor – und ließ Dorothée, die nicht mehr in Trauer, sondern in eleganter Straßentoilette war, an sich vorbei.
»Darf ich hinein?« fragte Dorothée und der Direktor erwiderte:
»Bitte sehr!«
Frau Turel wandte sich zur Tür. Und als sie an Frau Dorothée vorüberging, maß sie sie mit einem langen Blick und sagte:
»Was Sie wohl herführen mag?«
Dann ging sie eilig hinaus, gefolgt von dem Direktor, der dem Wächter noch zurief:
»Passen Sie auf, daß er sich der Dame gegenüber gesittet benimmt. – In vier Minuten bin ich wieder da.«
»Zu Befehl, Herr Direktor«, rief der Wächter ihm nach und wollte eben die Tür schließen, als ein Gerichtsdiener ein Tablett mit dem Essen brachte.
Schon die ganze Zeit über war der Wächter in Erwartung des Weines und der Mahlzeit, wie der Tiger vor der Fütterung in seinem Käfig, unruhig und mit langen Schritten an der Tür auf und ab gegangen. Jetzt riß er dem Gerichtsdiener das Tablett aus der Hand, eilte damit an den Tisch und stürzte sich über das Essen.
Der Gerichtsdiener schüttelte den Kopf und schloß die Tür. Der Wächter saß mit dem Rücken zur Wand – und ganz dem Genuß des Essens und des Weines hingegeben, sah und hörte er nichts mehr von dem, was hinter ihm vorging.
Als der Gerichtsdiener die Tür geschlossen hatte, eilte Dorothée auf Marot zu und warf sich ihm an den Hals. – Marot umschlang sie mit beiden Armen.
»Wo ist Harvey?« war seine erste Frage.
Dorothée ließ ihn los, sah ihn entsetzt an und fragte:
»Er war nicht hier?«
»Nein!«
»Und er hat nichts von sich hören lassen?«
»Er hat den Anstaltsdirektor angerufen.«
»Wann?«
»Heute nacht.«
»Er ist in Marseille?«
»Von Paris aus.«
»Was hat er dem Direktor gesagt?«
»Der Direktor hat sich nicht an den Apparat bemüht.«
»Andrée!«
»Und hat ihm sagen lassen, seine Sprechstunde sei vormittags von elf bis eins.«
»Morgen vormittag? Andrée da bist du ja . . .«
»Das fürchte ich allmählich auch.«
»Nein! nein! Harvey liebt Sensation. Er wird im letzten Augenblick . . .«
»Dieser letzte Augenblick ist da.«
»Du glaubst doch nicht, daß er . . .?«
»Was meinst du, Dorothée?«
»Er treibt sein Spiel zu weit. Es hat nicht jeder die Nerven wie er.« – Sie stutzte. »Oder!« rief sie. Ihr schoß ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf.
»Was ist dir?« fragte Marot.
»Wenn es gar kein Spiel ist?«
»Dorothée!«
»Wenn er es ernst meint und das Ganze nur in Szene gesetzt hat, um dich aus dem Wege zu schaffen.«
»Ja – wo – bin ich ihm denn – im Wege?« fragte Marot erstaunt.
»Bei mir!« erwiderte Dorothée.
»Bei – dir?«
Dorothée sah Marots entsetztes Gesicht. Leichenblaß stand er da und quälte sich, zu begreifen, was Dorothée meinte.
Marot begriff.
»Du!« rief er.
»Aber nein!« erwiderte Dorothée und versuchte, ihn zu beruhigen. »Das war nur so eine Idee von mir – die mir einen Augenblick lang durch den Kopf schoß.«
Aber Marot wehrte ab und rief:
»Doch! doch! – du hast recht! – so ist es – jetzt verstehe ich alles.«
»Du irrst, Andrée! – Mister Harvey liebt Frau Turel.«
»Zum Schein – und nur, solange ich lebe – in einer Stunde wird er es dir selber sagen.«
Dorothée sah ihn ängstlich an:
»Du sprichst im Fieber, Andrée! Das Milieu und die letzten Wochen haben dich krank gemacht.«
»Der Gedanke kam von dir!« rief Marot – und Dorothée erwiderte:
»Ich habe ihn längst verworfen.«
»Aber ich nehme ihn auf!« – Er trat dicht an sie heran und sagte empört: »Dorothée!«
»Was ist dir?«
»Wenn Frau Turel . . .«
»Was ist mit Frau Turel?«
Er faßte ihre Gelenke und rief drohend:
»Wenn Frau Turel recht hat?«
»Was behauptet sie?«
»Daß Harvey und du . . .«
Dorothée rief empört:
»Andrée!«
Marot hielt noch immer ihre beiden Handgelenke fest umspannt und sagte:
»Du hintergehst mich!«
Dorothée riß sich los, wich ein paar Schritte zurück und rief:
»Du weißt ja nicht, was du sprichst.«
Marot drang auf sie ein:
»Sage die Wahrheit!«
»So komm doch zu dir!« bettelte Dorothée.
»Sein Geld – seine Stellung – , du warst immer für ein Leben im großen Stil.«
»An deiner Seite!«
»Er hat dich überredet!«
»Nein!« rief Dorothée wütend.
»Er hat sich mit dir verlobt!«
»Das weißt du ja!«
»Er wollte dich heiraten.«
»Nie war davon die Rede!«
»Lüg' nicht!«
»Du brauchst einen Arzt!«
»Für den habt ihr gesorgt!«
»Wir?« fragte Dorothée.
»Harvey und du!«
»Ich verstehe dich nicht!«
Marot wies zum Fenster und rief:
»Der Arzt steht draußen.«
»Wo?«
»Die Guillotine!«
»Andrée!« rief Dorothée und wandte sich an den Wächter, der eben seine Mahlzeit beendet hatte und sich mit beiden Händen den Mund abwischte: »So holen Sie doch den Arzt! Sie sehen doch, daß er den Verstand verliert.«
Der Wächter blieb vollkommen ruhig, stand auf, sah sich Marot an und sagte:
»Das bißchen?« – Da sind wir hier an ganz anderes gewöhnt.«
»Ich will keinen Arzt«, sagte Marot und der Wächter erwiderte:
»Der ist vernünftiger als Sie!«
»Ich beschwöre Sie!« rief Dorothée verzweifelt.
Marot hob den Kopf und sagte:
»Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden.«
»Bravo!« erwiderte der Wächter. »So vernünftig hat hier noch keiner fünf Minuten vor seiner Hinrichtung gesprochen.«
Dorothée führte die Hände vor das Gesicht und rief:
»Ich werde wahnsinnig!«
»Mir scheint auch eher, Sie brauchen einen Arzt«, sagte der Wächter.
Marot trat einen Schritt vor und fragte:
»Ist es noch nicht soweit?«
Der Wächter sah nach der Uhr und erwiderte:
»Wir können uns schon immer fertig machen.«
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Dorothée verlangte immer dringender, daß man einen Arzt holte. Aber der Wächter lehnte es ab und erwiderte vollkommen ruhig:
»Ich darf mich hier nicht wegrühren.«
»Es geht um ein Menschenleben.«
»Ich weiß. – Aber wenn Sie jetzt noch was wollen, dann müssen Sie sich schon an den Scharfrichter direkt wenden.«
Dorothée konnte sich nicht länger beherrschen. Sie trat an den Wächter heran und sagte laut:
»Also ich will es Ihnen gestehen!« Sie wies auf Marot: »Er ist mein Mann!«
»Seh ich so blöd' aus, daß Sie glauben, mir das einreden zu können?«
»Sag' du es ihm!« rief sie Marot zu.
»Quälen Sie den Mann doch nicht«, sagte der Wächter.
»Andrée!« bettelte Dorothée – und Marot, dessen Nerven versagten, und der völlig teilnahmst los dastand, erwiderte:
»Ich kann – und will nichts mehr denken.«
»Würde ich ihm denn sagen, wer ich bin, wenn ich mit Harvey im Komplott wäre?«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich weiß ja nicht, was du damit bezweckst. – Ich will auch nichts mehr wissen.«
»So raff dich auf!« rief Dorothée ihm zu. »Wenn Harvey uns verraten hat – es geht um deinen Kopf!«
»Hetzen Sie den Mann nicht auf!« befahl der Wächter – und da im selben Augenblick draußen an der Tür geschlossen wurde, so sagte er: »Da sind sie!« – trat dicht an Voisin heran, legte die Hand auf seine Schulter und redete ihm zu: »Jetzt Kopf hoch, Voisin!«
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In die Zelle traten Staatsanwalt Dubois, der Anstaltsdirektor und zwei Beamte.
Dorothée stürzte auf Dubois zu und rief:
»Herr Staatsanwalt, ich will alles gestehen!«
»Dann sind Sie also beteiligt?«
»Nein! – Aber der Mann« – und sie wies auf Marot – »den Sie hinrichten wollen, ist nicht Henri Voisin.«
»Sondern?«
»Mein Mann!«
»Was bezwecken Sie mit einer so sinnlosen Behauptung?«
»Es läßt sich beweisen.«
»Es ist bewiesen, daß der Verurteilte Voisin ist.«
»Durch wen?«
»Durch die eigene Mutter, die alte Voisin, die in der Hauptverhandlung als Zeugin aufgetreten ist.«
»Sie hat nicht gesagt, daß es ihr Sohn ist.«
»Sie hätte es bestrittcn, wenn es nicht ihr Sohn gewesen wäre. Sie hat ihn geküßt und ihm ihre Kette um den Hals gelegt.«
»»Weil Frau Turel ihr suggerierte, daß der Angeklagte aus irgendeinem Grunde die Schuld für einen andern auf sich nahm. Frau Voisin glaubte natürlich: für ihren Sohn. Um ihn zu retten, klärte sie den Irrtum nicht auf.«
»Wissen Sie, daß Sie damit abermals Frau Turel verdächtigen?«
»Ich behaupte, daß sie ein bezahltes Werkzeug Mister Harveys ist.«
»So! – Und wenn Frau Turel den Irrtum nicht aufklärte, warum haben Sie es dann nicht getan? – und zwar schon früher?«
»Weil ich damals noch an Mister Harvey glaubte.«
»Und weil er sein Wort nicht gehalten und Sie nicht geheiratet hat, versuchen Sie nun aus Rache, ihm den Mord aufzuhalsen.«
»Harvey hat mir niemals die Ehe versprochen.«
»Sie waren doch verlobt.«
»Das hatte andere Gründe.«
»Verlangen Sie im Ernst, daß ich Ihnen das glaube?«
»Es ist so! Ich beschwöre es!«
Dubois kehrte Dorothée den Rücken und wandte sich an Marot.
»Was haben Sie zu diesem mehr als phantastischen Märchen, das uns Frau Marot da auftischt, zu sagen?«
Es herrschte Totenstille, als Marot völlig teilnahmslos erwiderte:
»Nichts!«
Noch einmal versuchte es Dorothée. Sie trat an Marot heran und bettelte:
»Andrée! Sage die Wahrheit!«
Marot sah nicht einmal zu ihr auf und der Staatsanwalt sagte zu Dorothée, die schluchzend auf einen Schemel sank:
»Begeben Sie sich in ärztliche Behandlung, Frau Marot. – Ihre Nerven haben den Aufregungen der letzten Wochen nicht standgehalten.«
Draußen schlug die Uhr kurz zweimal hintereinander.
Atemlose Stille herrschte in der Zelle. Nur das unterdrückte Schluchzen Dorothées brach hin und wieder durch.
Als es ausgeschlagen hatte, sagte der Staatsanwalt:
»Es ist so weit.«
Der Wächter, der neben Marot stand, flüsterte ihm zu:
»Jetzt könnten Sie es schon hinter sich haben.«
»Wie ist es mit einem Geistlichen?« fragte Dubois – und der Direktor erwiderte:
»Er hat ihn abgelehnt.«
Der Staatsanwalt gab den Beamten ein Zeichen. Sie faßten Marot am Arm, und der traurige Zug setzte sich in Bewegung.
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Sie waren eben im Begriff, durch die Tür zu treten, als Frau Turel in die Zelle stürzte und rief:
»Setzen Sie die Hinrichtung aus!«
Alle wandten sich gespannt zu Frau Turel.
»Was bedeutet das?« fragte Dubois.
»Ich beantrage Wiederaufnahme des Verfahrens.«
»Auf Grund welcher neuen Tatsachen?«
Frau Turel erklärte mit großer Bestimmtheit:
»Harvey ist der Mörder!«
»Ihre Beweise?«
»Sein eigenes Geständnis!«
Marot, der die ganze Zeit über völlig teilnahmslos dagestanden hatte, hob den Kopf und rief:
»Das ist nicht wahr!«
Frau Turel wandte sich zu ihm um und erwiderte:
»Und Sie sind Marot!«
»Ich sagte es ja«, rief Dorothée, die schnell wieder zu sich kam.
»Sie haben sich für den Amerikaner geopfert!« fuhr Frau Turel fort.
»Glauben Sie ihr!« bettelte Dorothée.
»Ihre Beweise!« wiederholte Dubois.
»Ich hatte Voisin – das heißt Marot«, verbesserte sie schnell, »eben verlassen, fuhr nach Hause und fand diesen Zettel« – erst jetzt sahen die andern, daß sie ein Stück Papier in der Hand hielt – »den Harvey, da er mich nicht antraf, zurückgelassen hatte.«
»Harvey ist da!« rief Marot beinahe übermütig.
»Was steht auf dem Zettel?« fragte Dubois. lang=FR Frau Turel las:
Liebe Turel!
Da mir an Ihrer Karriere liegt, so will ich Ihnen verraten, daß sich in dem Schrankkoffer, den wir von Marseille nach Nizza mit uns führten, die Leiche Henri Voisins befand. Alles Weitere überlasse ich Ihrem bewährten Scharfsinn.
Ihr
Harvey.
Unbewußt betonte Frau Turel die beiden letzten Worte.
»Die Leiche Voisins?« fragte Dubois verständnislos und sah den Direktor an, der ungläubig lächelte und den Kopf schüttelte.
»Ganz klar«, erwiderte Frau Turel. »Voisin ist von Harvey in Marseille getötet worden Vermutlich im Streit. Vielleicht auch aus Notwehr. – Die Art, die Tat zu verbergen und von sich abzulenken, ist echt amerikanisch. Er arrangiert einen Ausflug mit dem Ehepaar Marot. Unter dem Gepäck befindet sich der Schrankkoffer mit der Leiche Voisins. Die wird im Hotel Excelsior Regina in Marots Bett gelegt. Die Ähnlichkeit Voisins und Marots, die ihn gewiß erst auf den Gedanken brachte, ist unverkennbar. – Marot gibt des Nachts den Schuß ab – und verschwindet als Voisin, als der er später verhaftet und verurteilt wird.«
»Und aus welchem Grund hat Marot sich zu dieser Rolle hergegeben?«
»Harvey wird ihm große Versprechungen gemacht haben.«
»Haben Sie seine Verhaftung veranlaßt?«
Frau Turel wies auf Marot und sagte:
»Mir war es wichtiger, erst einmal dies Leben hier zu retten.«
»Und Harvey?«
»Der befindet sich vermutlich in einem Flugzeug schon über dem Ozean.«