Kitabı oku: «Ewige Stille», sayfa 2

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Jetzt werden sie bald kommen und alle ausquetschen, die etwas gesehen haben könnten, denkt der Mann am Bildschirm. Samuel Gordon, ein groß gewachsener, hagerer Mann, dem man das fortgeschrittene Alter zwar ansieht, jedoch nicht, dass er die achtzig bereits hinter sich gelassen hat, beobachtet das Treiben im Hof über eine Kamera, die er zur Überwachung seiner Eingangs­tür installieren ließ. Die Leiche ist abtransportiert, die Scheinwerfer gelöscht, Spurensicherung und Polizei sind abgezogen. Von den Zuschauern ist nur noch eine kleine Gruppe von Männern übrig geblieben, deren Lachen bis in den fünften Stock dringt. Er steht auf, lässt über eine Fernbedienung die Jalousien herunter und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Ein Dimmer hat die Helligkeit auf ein Minimum reduziert, gerade genug, um alles erkennen zu können, aber zu wenig, um auch die Ecken zu erleuchten.

Die Wohnung erstreckt sich auf zwei Stockwerken über die gesamte Fläche des Hauses, welches ihm gehört. Er ließ das Dach anheben, die ehemaligen Dienstbotenunterkünfte und den Speicher zu einer leicht rückversetzten Maisonette ausbauen, um sie selbst zu bewohnen. Von unten ist die Aufstockung nicht zu bemerken, was genau seinen Wünschen entspricht.

Seine Wohnung ist geschmackvoll und teuer eingerichtet. Solchen Luxus würde man nicht in diesem Haus erwarten, dessen Glanzzeiten schon lange ­vorbei sind. Bei seiner Fertigstellung war es gewiss ein Schmuckstück mit der reich verzierten Gründerzeitfassade, den hohen, von Giebeln gekrönten Fenstern. Der Zahn der Zeit hat jedoch deutliche Spuren hinterlassen. Schmutzablagerungen vieler Jahre lassen kaum noch Rückschlüsse auf die ursprüngliche Farbgebung zu, die schmiedeeisernen Gitter der Balkone sind an einigen Stellen verrostet, die steinernen Ornamente ­tragen deutliche Spuren von Verwitterung, sodass man die Kunstfertigkeit der Steinmetze nur noch ­erahnen kann. Die Stelle der reich geschnitzten, schweren Eichen­tür nimmt nun eine Metall-Glaskonstruktion aus den Siebzigern ein. In die Fassungen der Schilder über den Klingelknöpfen sind kleine Zettel mit den Namen der Bewohner geschoben, einige kaum leserlich, andere in Blockbuchstaben, die sich in verschiedene ­Richtungen neigen, eines in ungelenker Schreibschrift, zwei Computer­ausdrucke. Alles deutet darauf hin, dass das Haus von einfachen Leuten teilweise ausländischer Herkunft bewohnt wird. Keines weist auf den Mann ganz oben hin.

Im großzügigen Treppenhaus relativiert sich der etwas heruntergekommene Eindruck des Hauses. Es wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert, die Stufen sind mit Teppich belegt. Zudem wurde ein Aufzug eingebaut, gerade ausreichend für zwei Personen und kaum bemerkbar, da er in einem geschlossenen Schacht verläuft und sich lediglich im fünften Stock öffnet. Der Zugang erfolgt über eine gesicherte Tür zum Hinterhof. Für die übrigen Bewohner ist Gordon so fast ein Unbekannter. Wenn sich ihre Wege doch einmal kreuzen, wird er mit Respekt gegrüßt, aber mit Ausnahme seiner kleinen Freundin im Erdgeschoss finden keine Gespräche statt. Der Hausverwalter Jens Rosenzweig, der ein paar Häuser weiter wohnt, kümmert sich um alle Anliegen der Bewohner. Er ist ein enger Freund und entfernter Verwandter Gordons, ihre Verbunden­heit rührt noch aus der Kindheit. Das Naziregime überlebte Rosenzweig in Frankfurt, während ein ­großer Teil der Familie in letzter Sekunde nach Amerika übersetzte. So auch Gordons Mutter mit dem kleinen Samuel, nachdem sein Vater verhaftet und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war. Sie heiratete später einen Börsenmakler, der den Jungen ­adoptierte, und kehrte nach dem Krieg mit der kleinen Familie nach Frankfurt zurück, da ihr Gatte einem lukrativen Angebot folgte.

Im Nachlass seiner Eltern befand sich auch das Haus, in dem Gordon nun lebt. Er erhöhte den Mietzins im Laufe der Jahre nur gering, Kündigungen werden nicht ausgesprochen, solange es keinen triftigen Grund dafür gibt. Dies geschieht allerdings nicht aus schierer Menschenfreundlichkeit, wie es die Mieter mutmaßen, sondern aus einfachem Kalkül. Je unauffälliger, desto besser. Nichts an die große Glocke hängen, niemandem Anlass zu Neid oder Misstrauen geben. Keineswegs liegt es in seiner Absicht, jemanden von der Polizei hereinzubitten, um Fragen zu beantworten. Sollten sie herausbekommen, dass hier jemand lebt, würde er selbstverständlich aufs Präsidium kommen, seine Aussage machen und ihnen mitteilen, dass ihm leider nichts Ungewöhnliches aufgefallen sei.

In seine Wohnung jedoch würde er sie nicht lassen. Denn Zutritt zu dieser erlangt nur ein ganz spezielles Klientel, welches eine gemeinsame Leidenschaft eint, das Sammeln alter Handschriften. Weniger ganze Bücher, da diese kaum noch zu bekommen sind, sondern hauptsächlich einzelne Seiten, manches Mal sogar nur Fragmente von Seiten, die doch den ganzen Zauber des Gewesenen im Sein vereinigen. Gordon ist einer der Großen dieser Branche, Sammler, ­Sachverständiger und Händler zugleich. Einige schöne Blätter schmücken unter entspiegeltem Glas die Wände. Es sind nicht die wertvollsten, aber sie geben einen Vorgeschmack auf das Sortiment. Damit dem Betrachter keine noch so kleine Nuance entgehen kann, liegen Lupen mit starker Vergrößerung bereit.

Die übrigen Stücke befinden sich in einem Safe. Gordon hat ihn exakt einpassen lassen, fast unsichtbar für das ungeübte Auge, denn das schmale Streifenmuster der Tapete verläuft in einer Linie mit der Fuge. Zusätzlichen Schutz vor unerwünschten Blicken bietet ein Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert. Dargestellt ist eine Venus im Bade, ausgeführt in feinster Stickerei. Er erwarb ihn aufgrund der passenden Größe und dem moderaten Preis für ein solch typisches Werk seiner Epoche. Inzwischen jedoch denkt Gordon immer öfter darüber nach, es gegen ein anderes auszutauschen, denn jedes Mal wenn sein Blick darauf fällt, stört er sich an den Proportionen. Die Formen der nackten Schönheit sind üppig, die Brüste dagegen fast winzig. Kleine feste Halbkugeln mit kaum angedeuteten rosigen Spitzen, dem Schönheitsideal des Barock folgend, welches jedoch durchaus nicht seinem eigenen entspricht.

Gordon hat ausgesprochen wertvolle Stücke im Angebot, auch solche, die nicht auf dem Kunstmarkt registriert sind, was sie umso begehrenswerter für Menschen macht, die sie weniger als Geldanlage, sondern vielmehr als eine Herzensangelegenheit betrachten. Genau wie Gordon. Für ihn ist es die größte Freude, nein nicht nur Freude, sondern tiefstes Glück, Schriftzüge, Symbole oder exquisite Malereien zu betrachten, die menschliche Hände vor Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden auf Papyrus, Pergament oder Holz­tafeln hinterließen. Welch Privileg, sie ansehen zu können und mit ihnen in die Vergangenheit zu reisen, sich vorzustellen, wie ein ägyptischer Schreiber im ­Schatten einer Sykomore oder in einer lichtdurchfluteten Säulen­halle der Nachwelt Kunde von wichtigen Ereignissen hinterließ, ein Mönch des Mittelalters am Fenster oder im Garten des Klosters seine ganze Kunstfertigkeit darauf verwendete, Gott zu preisen.

Es ist nicht einfach, immer wieder Nachschub zu erhalten. Natürlich bieten zuweilen Auktionen gute Gelegenheiten dazu, aber interessant ist vor allem das private Klientel. In dessen Hand befinden sich Artefakte, die nicht auf dem offiziellen Markt kursieren, sondern hin und wieder aufgrund von Geldmangel verkauft werden oder aus Nachlässen stammen. Bereits als ­junger Student der Kunstgeschichte hatte er sich selbst auf die Suche nach solchen Stücken gemacht. Sicherer Instinkt sowie Verhandlungsgeschick brachten ihm bald erste Erfolge ein.

Da ihm klar wurde, dass er sich eine Menge ­Wissen würde aneignen müssen, um sicher urteilen zu ­können, belegte er Latein und Griechisch als weitere Studien­fächer. Nach der Promotion wurde das Hobby zum Beruf. Auf der Suche nach verborgenen Schätzen bereiste er ganz Europa und knüpfte ein weit gespanntes Netz von Kontakten. Nachdem er das Reisen vor einigen Jahren der Gesundheit zuliebe aufgegeben hat, erledigen das nun Scouts für ihn, die auf Dachböden, in privaten Archiven oder abgelegenen Klöstern unterwegs sind. Die Quellen dieser Schätze bleiben im Verborgenen und dies ist der Grund, weshalb auch Gordon im Verborgenen zu bleiben trachtet. Ansonsten könnte man ihm den Vorwurf der Hehlerei machen – absurd aus seiner Sicht, aber so liegen die Dinge nach geltendem Recht nun einmal.

Es ist nur eine kleine Gemeinde, die sich für alte Handschriften interessiert. Alle sind bestens ­untereinander und mit dem Geflecht der Informanten vernetzt, die im grauen Kunstmarkt ihr Auskommen finden. Selbstverständlich sind sämtliche Stücke mit Expertisen versehen, die deren Echtheit verbürgen. Unter der kleinen Zahl von Experten ist Gordon einer der angesehensten und hat nicht Schriften selbst zertifiziert. Lange Jahre des Lernens waren nötig, um die Sicher­heit zu erwerben, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden, und immer wieder gab und gibt es bei dem einen oder anderen Objekt Zweifel. Nur wenn alle Bedenken ausgeräumt sind, stellt er die Beglaubigung aus. Diese Vorgehens­weise hat ihm große Autorität und Anerkennung eingebracht, dazu ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das er keineswegs beabsichtigt, einer Gefährdung auszusetzen, denn offiziell verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gutachten, Schätzungen und gelegentlichen Verkäufen aus Auktionen. Ansonsten ein gesetzestreuer Bürger, hat er nur ungern mit der Polizei zu tun, um kein Risiko einzugehen. Außerdem kann er zur Aufklärung des Mordes ohnehin nichts beitragen, denn die Kamera läuft nur in seiner Anwesenheit zur Überprüfung von Besuchern.

Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass noch genügend Zeit bleibt, um sich ein Vergnügen zu gönnen, das, so oft er es auch wiederholt, immer etwas Besonderes ist. Um sich darauf einzustimmen, nimmt er einen großen Schwenker und geht zu einem schön gearbeiteten Tisch an der Wand. Es ist ein exquisites, handgefertigtes Stück, die Beine aus Ebenholz, die Platte aus hochglanzpoliertem Vogelaugenahorn. Darauf liegt ein schmaler schwarzer Samtläufer, auf dem mehrere aufwendig geschliffene Karaffen stehen. Aus einer von ihnen gießt er sich eine kleine Menge Cognac ein, lässt das Glas kreisen, führt es dann an die Nase, um den Duft einzusaugen. Man braucht nicht viel von diesem Cognac, der in den Dreißigerjahren in einige wenige kleine Fässer gefüllt wurde und nur sporadisch, der Nachfrage entsprechend, auf Flaschen gezogen und verkauft wird. Lange wird dieser Zaubertrank nicht mehr auf dem Markt sein, umso mehr schätzen ihn seine Liebhaber, zu denen auch Gordon gehört. Er führt in eine vergangene Zeit, lässt Geschehnisse wieder auferstehen und den Herbst, in dem die Trauben geerntet wurden. Es ist dasselbe wie bei den großen, langlebigen Weinen, die zuweilen erst nach Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreichen und von denen eine stattliche Anzahl in seinem Klimaschrank bei optimaler Temperatur und Luftfeuchtigkeit lagert.

Vorsichtig setzt er das Glas auf den Tisch, um keine Schramme zu hinterlassen und schiebt ein kleines, als Dekoration getarntes Paneel zur Seite. Nach dem Eintippen eines Zahlencodes in die dahinter erscheinende Tastatur gleitet eine Schublade wie von Geisterhand gezogen hervor. In ihr bewahrt er jene Exponate auf, für die sich bereits feste Interessenten gefunden haben. Die Trennung von einigen Stücken fällt ihm äußerst schwer, so auch bei diesem. Gordon atmet tief ein, schließt die Augen, um sich für den bevorstehenden Anblick sammeln, und öffnet sie nach einem kurzen Moment wieder. Vor ihm liegt ein leicht gewelltes Pergament, mit vollendeten Minuskeln beschriftet. Der Großbuchstabe zu Beginn jedes Absatzes ist herrlich illuminiert mit verschlungenen Pflanzen, Blüten und Arabesken in leuchtenden Farben, vorherrschend rot, blau, grün und gold. Den größten Teil des Blattes nimmt das Miniatur­gemälde einer Jagdgesellschaft ein, die von Hunden und Dienern begleitet wird. Zwei Pferde tragen Herren in höfischer Tracht mit Falken auf ihren behandschuhten Fäusten. Sie sind nach der neuesten Mode gekleidet, mit eng anliegenden, verschiedenfarbigen Beinkleidern und knappen Wämsern, deren geschlitzte Ärmel weit herabfallen. Hinter dem Reiter des vorderen Pferdes hat eine vornehme Schönheit im Damensitz Platz genommen, deren elegantes Kleid in strahlendem Blau fast den ganzen Leib des Pferdes bedeckt. Im Hintergrund befindet sich ein herrschaftliches Gebäude, eines der Schlösser des Jean de Valois, Duc de Berry.

Das Blatt, schon lange als verschollen geltend, stammt zwar nicht vom berühmtesten Stundenbuch, das der Herzog von den Gebrüdern Limburg erwarb, dem Très Riches Heures, sondern einem anderen, fast ebenso kostbarem Werk, dem Très Belles Heures de Notre Dame. Die hochbegabten Brüder Paul, Jean und Herman, unangefochtene Protagonisten ihrer Zunft um die Wende zum 15. Jahrhundert, illuminierten um die 300 Handschriften und wurden von dem Duc, einem jüngeren Sohn des Königs Jean II, so geschätzt, dass er sie zu Mitgliedern des Hofes machte und als begeisterter Sammler mit immer neuen Aufträgen versah.

Nicht ohne Grund, denkt Gordon, denn weder vor noch nach ihnen wurde eine derartige Meisterschaft erreicht. Vor allem in den Stundenbüchern ist ihr überragendes Können bis heute zu bewundern. Allzu schade, dass diese große Epoche ein solch abruptes Ende fand. 1416 starben die Gebrüder Limburg und Jean de France, vermutlich an der Pest, und ein anderer Stil setzte sich durch.

Gordon bewundert den sicheren Geschmack des Herzogs, dem größten Mäzen seiner Zeit. Er empfindet es als großes Privileg, dass ihm vor einigen Jahren erlaubt wurde, eine der außerordentlich wertvollen Plastiken zu berühren, die einst den Sockel seines Grabmals schmückten. Zu gerne hätte er sie erworben, aber der Preis überstieg seine Mittel bei Weitem. Von den ursprünglich vierzig virtuos gestalteten, trauernden Mönchen aus Alabaster wurden viele zerstört, andere gestohlen. Was übrig blieb, ist in Museen auf der ganzen Welt verstreut. Gordon erstaunte es nicht zu lesen, dass der Louvre bei der Auktion zweier Pleurants erst bei 4,4 Millionen Euro den Zuschlag bekam. Ja, der große Duc hatte nur die Besten seiner Zeit beschäftigt und sein Andenken dadurch über die Jahrhunderte sichergestellt.

Gordon kehrt von seinem Ausflug in die Vergangenheit zurück und legt seufzend das Vergrößerungsglas zur Seite, unter dem er die feinen Striche, die exquisiten Farben bewundert hatte. Es wird Zeit ­aufzubrechen, man erwartet ihn.

4

Iris ist es durchaus nicht unangenehm, etwas länger zu arbeiten, denn das lenkt vom Grübeln ab. Zum Grübeln gibt es nämlich genug. Jenny, mit der sie seit knapp zwei Jahren zusammen lebt, benimmt sich in letzter Zeit sonderbar, zieht sich zurück, gibt keine oder nur ausweichende Antworten, wenn Iris nachfragt, ob etwas nicht stimmt. Kein fröhliches Grübchen­lachen mehr, keine schwungvolle ­Umarmung beim Nachhause­kommen, keine Lust auf gemeinsames Kochen, gemeinsame Ausflüge, keine Lust auf gar nichts. Seit einem Monat geht das nun schon so und gestern fand sie ihre Lebensgefährtin weinend vor. Eine Klausur sei schief gegangen, das könne ein ganzes ­Semester kosten. Die Versicherung, es sei einfach nur der Stress des Studiums, es habe nichts mit ihr und der Beziehung zu tun, kommt ihr wenig plausibel vor. Es muss mehr dahinter stecken. Klar ist, dass etwas nicht stimmt und dass eine Aussprache ansteht. Iris hat sich für das Wochen­ende vorgenommen, ihre Freundin zum Reden zu bringen, denn so kann es nicht weitergehen. Besser, sich bis dahin mit anderen Sachen zu beschäftigen, als selbst Trübsal zu blasen.

»Nein, es macht mir wirklich nichts aus«, wendet sie sich an Thomas, »du hast doch auch schon Arbeiten für mich übernommen, wenn ich in ­Terminschwierigkeiten war.« Sie stößt ihn leicht in die Rippen. »Los Kumpel, verschwinde. Ich halte hier die Stellung und fange schon mal mit den Befragungen an.« Mit einer ­Handbewegung scheucht sie Thomas fort, der zunächst noch zögert, dann das Angebot dankend annimmt.

Prüfend gleiten ihre Blicke über die Hausfassade des Hinterhofs. Alle Fenster sind mittlerweile wieder geschlossen, die Sensation ist vorbei. Aus dem Augenwinkel kommt es ihr so vor, als bewege sich die Gardine am Fenster einer der Erdgeschoss-wohnungen. Sie tritt näher und bemerkt eine schmale Gestalt hinter dem Vorhang, die offenbar ihren Beobachtungsposten noch nicht aufgegeben hat. Sie überlegt kurz und pocht dann gegen die Scheibe. Irgendwo müssen die Befragungen ja ihren Anfang nehmen, vielleicht gibt es hier schon Antworten.

Mit einem kleinen Zögern öffnet sich ein Flügel. Neun Jahre, höchstens zehn, überschlägt Iris, älter dürfte sie nicht sein. Das Gesicht ist noch ganz kindlich, aber die großen dunklen Augen blicken ernst und wissend. Neben ihr auf der Fensterbank sitzt eine schwarze Katze mit ebenso ernsthaftem, ungerührtem ­Gesichtsausdruck, bewegungslos wie eine Statue. »Die ist aber mal schön.« Iris deutet auf das Tier. »Wie heißt sie denn?«

»Das ist keine Sie, er heißt Sam, eigentlich Samuel, aber ich nenne ihn Sam, weil das kürzer ist«, folgt die Belehrung auf dem Fuß, »und er ist der schönste Kater der Welt.«

Iris nickt. »Das glaube ich auch. Darf ich ihn streicheln?«

»Versuchen Sie’s.«

Das klingt nicht gerade ermutigend, aber wenigstens nicht ablehnend. Vorsichtig nähert sie ihre Hand dem Kopf des Katers und krault sanft das Fell hinter den Ohren. Einen Moment lang trifft sie ein grün-goldener Blick, dann schließen sich die Augen. Sam neigt den Kopf zur Seite und fängt an zu schnurren.

»Das macht er nicht bei jedem.« Anerkennung schwingt in der Stimme des Mädchens mit. »Sie ­kennen sich mit Katzen aus.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Stimmt. Ich hatte mal zwei, die uralt geworden sind. Sie bekamen alle Krankheiten, die bei alten Menschen auch vorkommen, und kosteten ein Vermögen an Tierarztkosten, aber ich habe sie heiß und innig geliebt.«

»Sam ist noch jung, noch nicht mal ein Jahr alt. Im April saß er plötzlich auf unserer Fensterbank und ­miaute, da war er noch ganz klein. Mami sagte, ich soll ihn nicht reinlassen, er würde bestimmt nach einem Zuhause suchen, aber er blieb einfach sitzen und ­miaute und miaute. Die ganze Nacht hörten wir ihn und am Morgen ließ Mami ihn rein und gab ihm was zu essen. Jetzt gehört er zu uns. Da«, sie deutet auf ein fragiles Holzgebilde, »wir haben eine Leiter gebaut, damit er nicht so hoch springen muss und sich vielleicht wehtut. Wenn er raus will, springt er innen auf die Fensterbank, wenn er rein will außen und kratzt am Glas.«

»Ein schlaues Tier.« Der Kater hat mittlerweile den Kopf gehoben und lässt sich das Kinn kraulen. »Bist du oft mit ihm am Fenster?«

»Wollen Sie wissen, ob ich im Hof was gesehen habe?«

Erstaunt blickt Iris die Kleine an und fühlt sich durchschaut. Da wollte sie sich ganz behutsam dem springenden Punkt nähern und nun das. Ein kluges Kind. Nicht schlecht, da kann man sich Umwege sparen.

Sie neigt zustimmend den Kopf. »Hast du?«

Ein bedauerndes Achselzucken. »Nein, heute nicht.«

»Was heißt heute?«, hakt Iris nach.

»Na ja, manchmal sind Leute hier, auch nachts.«

»Die was machen?«

»Ach, das ist ganz unterschiedlich. Ein paar kommen zum Kiffen her, manche spritzen sich was, manche knutschen … oder so.«

Nicht nur ein schlaues, sondern auch ein aufgeklärtes Kind, das schon einiges mitbekommen hat, von dem die meisten Altersgenossen noch nichts ahnen, denkt Iris. Wie lange mag sie schon in dieser ­Umgebung wohnen?

»Schon lange«, beantwortet die Kleine ihre Frage. »Bestimmt zwei Jahre. Nachdem der Papa nicht mehr da war, sind wir hierher gezogen. Meine Tante wohnt auch hier im Haus, mit Samira und Yasmin. Das ist gut, ich kann sie besuchen, wenn Mami arbeitet. Früher war sie immer zu Hause, aber jetzt ist sie Tänzerin. Ganz in der Nähe. Sie ist wunderschön und hat wunderschöne Kostüme.«

Wunderschöne Kostüme? Merkwürdig. Hier im Bahnhofsviertel sind Kostüme doch eher überflüssig. Um was für eine Art von Tanz mag es sich wohl handeln? Vielleicht bekommt sie es ja heraus, ohne direkt nachzufragen.

»Wie dumm von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich arbeite …«

»Bei der Polizei, ich weiß. Können Sie mir mal Ihren Ausweis zeigen, ich habe so was noch nie gesehen.«

Mit großem Ernst studiert sie das Dokument von beiden Seiten. »Iris Kirchner, ein schöner Name. Passt gut zu Ihnen.«

»Du kannst mich Iris nennen, wenn du möchtest. Sagst du mir auch deinen Namen?«

»Aisha«, kommt die bereitwillige Antwort, »Aisha Gülen, aber ich bin in Frankfurt geboren.«

»Warum aber? Ganz viele Menschen, deren Eltern von weit her zugereist sind, sind hier geboren.«

»Weil der Name nicht hierher passt. Ich mag ihn auch nicht besonders. Ich würde lieber Marie oder Sofia oder Emma heißen wie die Mädchen in meiner Klasse, aber Mami sagt, er sei was ganz Besonderes und ich soll stolz auf ihn sein.«

»Da hat deine Mami aber ganz recht. Er ist wirklich etwas Besonderes. Auf welche Schule gehst du denn?«

»Auf die Kant-Schule.«

»Aber das ist doch die Privatschule am Holzhausenpark. Ganz schön weit weg.«

»Ja.« Aisha nickt. »Jetzt schon, aber früher haben wir in der Nähe gewohnt. Mami wollte, dass ich dort bleibe.«

»Und du?«

»Ich auch. Meine ganzen Freundinnen gehen da hin, obwohl sie nicht mehr zu mir kommen können. Mami will das nicht, aber ich darf sie besuchen und zu meinem Geburtstag irgendwohin einladen.«

Iris überlegt. Ein sozialer Abstieg also, der kaschiert werden soll, damit dem Kind keine Nachteile entstehen. »Und was sagt dein Papa dazu?«

Aishas Gesicht verdüstert sich. »Er ist im Paradies. Ich soll deswegen nicht traurig sein, sagt Mami immer, es wäre sehr schön da und er würde auf uns aufpassen, aber ich hätte ihn lieber bei uns.«

»Ja, das verstehe ich. Mir ging es genauso, als mein Vater starb, obwohl ich schon viel älter war als du. Und deine Mami muss nun allein für euch beide sorgen?«

Aisha nickt. »Sie tanzt. Und viele Frauen tanzen mit ihr. Aber nicht alle sind so schön wie Mami. Es sind auch ziemlich alte dabei und auch hässliche.«

Alte, hässliche? Wie passt das denn nun zusammen? Alte und hässliche Frauen bekommen doch normalerweise kein Engagement als Tänzerin. »Dann bist du abends wohl oft allein zu Hause?«

Ein erstaunter Blick trifft sie. »Nein, wieso? Abends ist Mami immer daheim. Es dauert nicht mehr lange, bis sie kommt.«

Das wird ja immer komplizierter! Iris beschließt, die Angelegenheit zunächst auf sich beruhen zu lassen und zum Ausgangspunkt zurückzukommen. »Du hast also nichts Besonderes bemerkt heute früh zum Beispiel?«

»Nein.«

»Und gestern?«

»Gestern auch nicht.« Sie zögert einen Moment. »Aber in der Nacht fuhr ein Auto rein. Das passiert nicht so oft.«

Iris ist ganz Ohr. »Um wie viel Uhr war das?«

»Ziemlich spät. Ich bin dauernd wach geworden, weil Sam noch nicht da war. Ich hatte Angst, dass ihm etwas passiert ist, aber dann habe ich ihn gehört.«

»Und du bist aufgestanden, um das Fenster zu öffnen?«

»Ja, und da fuhr das Auto in den Hof.«

»Hast du das Kennzeichen gesehen?«

»Nein, es war zu dunkel und ich habe auch nicht darauf geachtet.«

»Und was geschah dann?«

Aisha hebt bedauernd die Achseln. »Weiß ich nicht. Ich war so froh wegen Sam. Ich habe ihn nur reingelassen und bin dann wieder ins Bett.«

»Weißt du, was das für ein Auto war?«

»Nicht genau, aber es war ein SUV, dunkel, ziemlich groß. Er passte gerade so durch die Einfahrt.«

»Bist du mit dem SUV sicher? Kennst du solche Fahrzeuge?«

»Klar, mit denen holen doch die meisten Mütter ihre Kinder von der Schule ab. Aber bei der Marke bin ich mir nicht ganz sicher, vielleicht ein Honda.«

Na bitte, freut sich Iris, das ist doch schon mal ein Anfang. Eine Spur haben wir jetzt. In der Nacht könnte die Leiche durchaus abgelegt worden sein.

»Du hast mir wirklich sehr geholfen«, bedankt sie sich bei Aisha und legt ihre Visitenkarte auf die Fensterbank. »Falls dir noch etwas einfallen sollte. Du kannst mich immer über diese Telefonnummer erreichen. Und grüß deine Mami von mir. Auch sie kann mich jederzeit anrufen.«

»Ich sag’s ihr. Und auch, dass Sie nett sind. Und hübsch. So blaue Augen hätte ich auch gern«, fügt sie bedauernd hinzu, »dann sähe ich aus wie die anderen.«

Ermutigt von ihrem Erfolg beschließt Iris, die Befragungen fortzusetzen. Jedes Stockwerk hat drei Wohnungen. In den beiden anderen Erdgeschosswohnungen meldet sich niemand, aber ihr Klingeln im ersten Stock hat Erfolg. Laut Türschild wohnt hier »Charlotte de Montfort (Inge Stark)«. Stark ist auch der erste Eindruck. Und ziemlich bunt. Die orangefarbenen Haare der fülligen Dame quellen in üppigen Locken aus einem kunstvoll drapierten, türkisblauen Turban hervor. Eine Art Kaftan, grün mit goldenen Bordüren, reicht fast bis zu den Füßen, die Mitte umschlingt eine violette Schärpe mit gelben Fransen. Der ziemlich enge Flur ist in sanftem Gelb gehalten, aus der halboffenen Tür an seinem Ende dringen schwebende Sitartöne und ein Duft von Sandelholz.

»Ich dachte schon, Sie kämen gar nicht mehr«, wird Iris in einem tiefen, weichen, wohlklingenden Alt gegrüßt, das so gar nicht zu der grellen Erscheinung passen will. »Sie hätten anrufen sollen, dass Sie sich verspäten, denn es ist schwierig, die Konzentration der vorbereitenden Meditation aufrechtzuerhalten. Aber gut, jetzt sind Sie ja da, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Hier läuft etwas schief. Anscheinend liegt eine Verwechselung vor. Iris zieht ihren Ausweis. »Ich fürchte, dass ich nicht der erwartete Gast bin. Mein Anliegen ist dienstlich. Wir müssen alle Anwohner befragen, ob ihnen etwas aufgefallen ist.«

»Aufgefallen? Was sollte mir denn aufgefallen sein?«

Iris mustert ihr Gegenüber erstaunt. »Es geht um die Leiche im Container. Wir wollen erfahren, ob jemand eine Beobachtung gemacht hat.«

»Welche Leiche in welchem Container?«

»Wollen Sie sagen, dass Sie von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen haben? Im Altpapiercontainer des Hinterhofs wurde ein Toter gefunden.«

Ein entschiedenes Kopfschütten ist die Antwort. »Meine Fenster gehen nach vorn. Und wissen Sie was: Irgendwo ist hier immer Trubel. Wenn ich mich jedes Mal darum kümmern würde, hätte ich viel zu tun.«

»Vielleicht Ihre Mitbewohnerin? Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen, Charlotte de Montfort oder Inge Stark?«

Ein tiefes, glucksendes Lachen. »Mit beiden. Wir sind nämlich ein und dieselbe Person. Die Montfort war ich früher, jetzt bin ich eben die Stark und im nächsten Leben wer weiß wer.«

Oh je, das kann schwierig werden. Zumindest sind Zweifel angebracht, ob der Dame nicht eine Tasse im Schrank fehlt. Iris denkt einen Moment daran, das Gespräch zu beenden, wird aber von Frau Stark mit dem Hinweis überrascht, dass sie ihr vielleicht trotzdem helfen könne. Für ihren Gast sei es jetzt ohnehin zu spät, selbst wenn er noch käme, würde sie ihn nicht mehr empfangen. Sie habe also etwas Zeit für eine Tasse Tee und eine kleine Unterhaltung.

Warum nicht? Neugierig ist Iris schon und man weiß ja nie, ob sich nicht doch noch ein Steinchen für das Mosaik findet. Also akzeptiert sie dankend und folgt Frau Stark. Der dezente, warme Farbton des Flurs findet sich auch im Wohnzimmer, allerdings weder die Quelle der Musik noch des Duftes. Auch die gesamte Erscheinung von Frau Stark wirkt in dieser Umgebung mit dem modernen Mobiliar merkwürdig deplatziert. Diese hat offenbar die Überraschung ihres Gastes gespürt und deutet auf ein Sofa. »Setzen Sie sich doch bitte. Sie überlegen gerade, wie das alles zusammenpasst. Habe ich recht?«

»Stimmt. Sieht man es mir an?«

»Überhaupt nicht. Ein Pokergesicht ist nichts gegen das Ihrige. Das bringt der Beruf wohl mit sich. Nein, ich kann Gedanken lesen.«

Iris zieht die Brauen hoch. »Tatsächlich?«

Wieder dieses glucksende Lachen. »Tatsächlich. Nicht immer, aber ziemlich oft, wenn ich mich entsprechend konzentriere. Bei Ihnen ist es allerdings nicht schwer, da brauche ich nur eins und eins zusammenzählen. Zwischen meinem Aussehen und der Umgebung besteht eine Diskrepanz. Und das gibt Ihnen zu denken.«

»Stimmt. Würden Sie mir den Grund dafür verraten?«

»Ganz einfach. Ich habe jemanden erwartet, der erwartet, dass ich so aussehe, wie ich jetzt aussehe. ­Wissen Sie, manche Menschen verbinden ein bestimmtes Erscheinungsbild mit einer Wahrsagerin.«

Sie blickt zu Iris, die jedoch keine Miene verzieht. »Ich sage Wahrsagerin, weil diese Menschen mich so bezeichnen und für sie bin ich in dieser Aufmachung einfach glaubwürdiger. Meine Klientin, die hätte kommen sollen, gehört dazu und wäre auch in ein Zimmer geführt worden, das ihren Vorstellungen entspricht.«

Eine gewiefte Scharlatanin, denkt Iris, eine, die ihr Handwerk versteht, die genau weiß, wie sie vorgehen muss, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

»Sie halten mich für eine Betrügerin, ich spüre es deutlich, aber ich sage Ihnen, so ist das nicht. Mir wurde die Gabe in die Wiege gelegt, hinter das zu schauen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, denn hinter unserer Realität existieren andere Welten. Mit Hilfe von Konzentration und Meditation kann ich sie betreten, Zusammenhänge herstellen, die sonst im Verborgenen blieben und Menschen, die sich mir anvertrauen, beim Bewältigen von Lebenskrisen helfen. Wie gesagt, vielleicht kann ich auch Ihnen bei der Aufklärung des Verbrechens helfen. Wenn Sie möchten, werde ich mich damit beschäftigen.«

Du lieber Himmel! Auf was hatte sie sich da eingelassen? Diese Frau scheint wirklich von ihren Fähigkeiten überzeugt zu sein, wohingegen Iris mehr denn je davon überzeugt ist, dass es bei ihr wohl nicht ganz richtig tickt. Ihr Besuch war anscheinend verlorene Zeit. Sie beschließt, dem Gespräch ein Ende zu machen, bedankt sich höflich für das überaus freundliche Angebot, lässt ihre Karte zurück und ist froh, als die Wohnungstür hinter ihr zufällt.

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9783948972011
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