Kitabı oku: «Ewige Stille», sayfa 3

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Bei den zwei anderen Wohnungen hat sie ebenfalls keinen Erfolg. Es scheinen auffallend wenige Bewohner zu Hause zu sein oder man hat kein Interesse, Besuch zu empfangen. Auf der Treppe zum nächsten Stock bemerkt sie ein leises Zischen und schaut sich irritiert um. Nichts, was für das Geräusch verantwortlich sein könnte. Ihr Blick fällt auf den weiß lackierten, geschlossenen Schacht in der Mitte des Treppenhauses, dem sie bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie legt die Hand daran. Kein Zweifel, da ist ein leichtes Vibrieren. Was könnte das sein? Ein Versorgungsschacht vielleicht? Aber für was? Merkwürdig, notiert sie im Geist, das muss ich Thomas erzählen.

Im dritten Stock öffnet ein alter Mann, unsicher auf seinen Stock gestützt. Ein riesiger Hund drängt sich an ihm vorbei und knurrt Iris warnend an, woraufhin diese sofort respektvoll einen Schritt zurück tritt. Es dauert eine Weile, bis der Mann ihr Anliegen verstanden hat, denn mit seinem Hörgerät kommt er nicht zurecht. Es pfeife. und sei schon ein paar Mal neu eingestellt worden, ohne jeden Erfolg. Es müsse halt ohne gehen. Nein, er habe nichts bemerkt, das weiterhelfen könnte. Das Schlafzimmer gehe zwar nach hinten, aber trotz seines schlechten Gehörs müsse er Ohrstöpsel nehmen, weil seine Frau so schnarche. Die sei einkaufen, jetzt wo der Ansturm auf die Geschäfte vorbei sei, aber mitbekommen von dem Mord habe sie bestimmt nichts, sonst wüsste es schon die ganze Nachbarschaft.

In den beiden anderen Wohnungen rührt sich wiederum nichts. Das scheint eine magere Ausbeute zu geben und bedeutet einen weiteren Besuch am nächsten Tag. Im vierten Stock wird die Tür von einer hübschen Frau um die vierzig geöffnet, die ihr Kopftuch zurechtzieht. Kinderlachen dringt aus der Wohnung und gleich da­rauf erscheint ein Mädchen neben ihrer Mutter.

»Frau Yilderim«, Iris hat vorher das Türschild mühsam entziffert, »ich bin von der Polizei.« Sie streckt ihr den Ausweis entgegen. »Es geht um den Vorfall in Ihrem Hof. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Fragen Sie lieber mich.« Die Kleine drängt sich in den Vordergrund. »Mama spricht nicht so gut Deutsch. Ich kann ihr aber übersetzen.«

Die Frau nickt. »Samira, meine Tochter.«

»Samira, das ist aber schön, dich zu treffen, und das«, sie deutet auf das andere Mädchen, welches gerade hinzukommt, »ist bestimmt Yasmin.«

»Woher wissen Sie das?« Ein erstaunter, aber auch vorsichtiger Blick gleitet über die Polizistin.

»Keine Zauberei. Ich kann nicht wahrsagen. Aisha hat mir von euch erzählt. Bei der war ich nämlich schon.«

Samira kichert. »Und Sie waren auch bei Charly.«

»Charly, wer ist das denn?«

»Na Charlotte und Inge, wir sagen Charly zu ihr. Sie macht uns manchmal einen Tee. Sie ist sehr nett. Und sie weiß eine Menge.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, wer mein Fahrrad geklaut hat. Nicht den Namen, aber wie er aussieht. Und dann habe ich ihn auf der Straße wiedererkannt. Ich bin ihm nachgegangen und als er sich in ein Café setzte, hab’ ich einen Polizisten angesprochen. Die gehen hier rum.«

»Und?«

»Er hat gefragt, ob ich sicher wäre und da hab’ ich ja gesagt, weil Charly ihn ja genau beschrieben hat. Aber er hat gesagt, da kann man nichts machen, wenn ich ihn nicht selbst gesehen hätte. Und dann noch, ich soll nicht einfach jemanden verdächtigen, nur weil eine Spinnerin mir diese Idee in den Kopf gesetzt hätte. Aber Charly ist keine Spinnerin. Sie hat auch gesagt, dass Papa wieder zurückkommen würde und dann war er auch wieder da. Mama hat viel geweint in dieser Zeit, aber jetzt ist alles wieder gut.«

»Und wo ist dein Papa jetzt?«

»Noch bei der Arbeit, aber er muss bald kommen.«

»Aisha wartet auch auf ihre Mama.«

»Ja, die kommt auch ungefähr um diese Zeit. Manchmal etwas früher, manchmal etwas später, je nachdem, wie viele da sind.«

Das ist die Chance, Näheres zu erfahren. »Was macht sie eigentlich genau?«

»Hat Aisha Ihnen das nicht erzählt? Sie hat eine Schule für Bauchtanz. Sie kann das nämlich ganz toll. Hat sie von unserer Oma gelernt. Mama auch, aber sie darf das nicht machen. Papa sagt, was er verdient, reicht für uns.«

Na, die Lösung des Rätsels ist ja doch ziemlich unspektakulär, darauf hätte sie auch selbst kommen können. Zwar ist ihre Neugier befriedigt, aber zur Lösung des Falles hat dieses Gespräch nichts beigetragen und auch die weitere Befragung ergibt keine neuen Erkenntnisse. Es ist wohl am besten, ins Präsidium zurückzukehren und ein Protokoll anzufertigen, solange noch alles frisch und präsent ist.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der gleich um die Ecke geparkt ist, kommt Iris ein junger Mann entgegen, breit grinsend, mit wiegenden Hüften und berührt leicht ihre Schulter. Automatisch zieht sie die Tasche eng an sich. Nordafrikaner, ist sie sich sicher. ­Antänzer. Entweder will er Geld oder Handy oder beides. Er will anscheinend beides, denn als er merkt, dass sie sich nicht irritieren lässt, geht er sofort aufs Ganze und versucht, die Tasche an sich zu reißen. Offenbar erwartet er keinen Widerstand von einer kleinen, zierlichen Person. So nicht mein Lieber, denkt Iris, diesmal hast du dich verrechnet. Sie packt seinen Arm, zieht ihn zu sich und bringt ihn mit einem Schulterschwung mühelos zu Boden. Dort dreht sie den Arm auf den Rücken, kniet sich auf ihn und ruft Verstärkung. Mittlerweile sind Passanten stehengeblieben, ohne Anstalten zu machen, ihr zu helfen, obwohl sie ihre Marke gezogen hat. Im Gegenteil, drei weitere junge Männer, offenbar Freunde des am Boden Liegenden, überqueren die Straße mit drohendem Gesichtsausdruck. Die Sache wird mulmig. Ohne lange zu überlegen zieht Iris die Waffe und richtet sie auf die Näherkommenden. »Sofort stehenbleiben! Polizei. Ich ziele auf die Beine. Sollten Sie sich bewegen, kann ich für nichts garantieren.«

Niemand regt sich. Die Szene ist wie festgefroren. Wahrscheinlich vergeht keine Minute, aber Iris kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis sie das Martinshorn und gleich darauf hastige Schritte hört. Zwei Kollegen der Streife sind eingetroffen und nur kurze Zeit später hält auch ein Mannschaftswagen der Polizei.

Iris ist froh, dass die Sache so glimpflich verlaufen ist, macht sich aber keine Illusionen über den Ausgang der Sache. Ein paar Stunden später werden alle wieder auf freiem Fuß sein und ihren Geschäften nachgehen. Das ist gang und gäbe, treibt viele der Kollegen, die im Bahnhofsviertel Dienst tun, zur Verzweiflung. Dealer, vor allem aus Nordafrika und zu einem hohen Prozentsatz Asylbewerber, verkaufen in aller Öffentlich­keit ihre Drogen, begehen Taschendiebstähle, ­Körperverletzungen, werden festgenommen und stehen wenig später wieder am gleichen Platz. Das Misstrauen der Ordnungshüter gegenüber der Justiz nimmt immer größere Ausmaße an. Die einen fühlen sich allein­gelassen, die anderen sind chronisch überlastet durch Stellenabbau und immer mehr Bürokratie, sehen zudem oft keine gesetzliche Handhabe, strenger vorzugehen. Da braut sich einiges an Konflikten zusammen.

Zurück im Präsidium holt Iris sich einen Kaffee und startet den Computer. Ihr persönliches Postfach enthält eine Nachricht von Jenny: »Ich muss mit dir sprechen. Komm bitte nicht zu spät.«

Das klingt ziemlich dringend. Augenblicklich beschließt Iris, das Protokoll auf später zu verschieben. Sie hat Herzklopfen und Pudding in den Knien. Offensichtlich ist ihre Freundin zu einer Aussprache bereit. Die schlimmsten Befürchtungen schießen ihr durch den Kopf. Jenny hat jemand Neues gefunden und will die Trennung. Jenny hat die Diagnose einer gefährlichen Krankheit erhalten. Jenny kommt mit ihrem Studium nicht zurecht und will abbrechen oder sich einen neuen Platz im Ausland suchen.

Sie findet ihre Gefährtin im Bett, zwar blass, aber mit einem Buch in der Hand. Iris atmet auf. So dramatisch kann die Situation also nicht sein, wenn sie sich für Lesestoff interessiert. Als sie allerdings den Titel sieht, kehren ihre Befürchtungen zurück: »Das tibetanische Totenbuch.« Sie setzt sich auf die Bettkante. »Was ist passiert?« Nur ein Blick von unten herauf, keine Antwort. Iris nimmt die Hände ihrer Freundin. »Bitte sag mir, was los ist, ich muss es wissen. Wenn es mit mir zusammenhängt …«

»Nein, nicht mit dir. Oder doch, irgendwie. Du wirst es mir sowieso nicht verzeihen.«

»Ich glaube kaum, dass es etwas gibt, das unverzeihbar wäre. Ich dachte, du vertraust mir.«

Wieder dieser Blick. »Ja, natürlich.«

»Also los, dann lass es raus.«

»Ich habe noch mal mit Gernot geschlafen. Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Du weißt ja, wie schlecht es ihm damals ging. Er konnte es einfach nicht ­verkraften, dass ich ihn verlassen habe und schon gar nicht wegen einer Frau. Er rief immer mal wieder an, fragte, wie es mir ginge, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich alles nur als Irrtum herausstellen würde. Vor ein paar Wochen ließ ich mich darauf ein, ihn zu besuchen, um noch einmal über alles zu sprechen. Das war einer der Abende, wo ich wusste, dass du lange arbeiten musst. Wir haben ein paar Gläser Wein getrunken und er war so ­wahnsinnig unglücklich, fing an zu weinen. Ich nahm ihn in den Arm, um ihn zu trösten. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es dazu kam, aber es passierte eben. Ich bin dann weg, sagte ihm vorher, dass ich die Sache bereue und er sich keine weiteren Hoffnungen mehr machen solle.«

Iris zögert einen Augenblick. »Na ja, begeistert bin ich nicht grade, Offenheit wäre mir lieber gewesen.«

»Zuerst wollte ich es dir ja auch sagen, habe mich aber nicht richtig getraut und es immer vor mir hergeschoben. Und dann ging es gar nicht mehr.«

Iris hebt die Augenbrauen.

»Ich wurde an diesem Abend schwanger.«

Jetzt allerdings verschlägt es ihr die Sprache. Schwanger. Von ihrem Ex. Das hat grade noch gefehlt! Sie versucht, sich das künftige Leben zu dritt vorzustellen, aber es will ihr nicht gelingen.

»Kamst du denn nicht auf die Idee, zu verhüten?«

»Nein, kam ich nicht. Weißt du, wir haben nie verhütet.«

Iris ist verblüfft. »Aber warum denn nicht?«

»Ich hatte dir ja gesagt, dass Gernot ein ganzes Stück älter ist als ich. Seine frühere Freundin wünschte sich ein Kind und er war damit einverstanden. Es klappte aber nicht. Also beschlossen sie, der Sache auf den Grund zu gehen und es stellte sich heraus, dass der größte Teil von Gernots Spermien nicht lebensfähig ist und eine Schwanger­schaft an ein Wunder grenzen würde. Seine Freundin wurde tatsächlich in den sechs Jahren ihrer Beziehung nicht schwanger und ich glaube, dass dies auch der Trennungsgrund war. Als wir uns kennenlernten, verheimlichte er die Geschichte nicht und ehrlich gesagt war ich nicht unglücklich darüber. Ein Kind kam für mich zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht in Frage und ich war froh, nicht die Pille nehmen zu müssen.«

»Aber jetzt hat sich das geändert?«

Jenny schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin mit dir glücklich, so wie es ist und über den Nachwuchs musst du dir auch keine Gedanken mehr machen.«

»Du hast abgetrieben?«

»Ja, heute. Und die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Den Ausschlag gab der Befund, dass aufgrund einer Beckenfehlstellung die Schwangerschaft mit großen Risiken behaftet sei und damit die Indikation zum Abbruch vorläge.«

»Aber warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«

»Ich wollte dich nicht damit belasten und denke auch, dass es gut so war. Damit musste ich allein klar kommen.«

Beide schweigen eine Weile und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Dann zieht Iris ihre Freundin an sich. »Wie konntest du nur glauben, dass ich dir nicht verzeihen würde? So oder so, auch bei der Entscheidung, das Kind zu behalten, hätten wir eine Lösung gefunden. Wichtig ist doch, dass wir einander lieben und zusammen bleiben wollen. Alles andere ist sekundär. Eins möchte ich aber noch wissen: Wieso das tibetanische Totenbuch?«

»Um Abschied zu nehmen. Dort stehen Worte, die den Verstorbenen auf dem Weg ins Jenseits begleiten und vor Gefahren schützen. Es ist mir ein Trost, sie zu lesen.«

5

Es ist kurz vor fünf, etwas zu früh, als Laura im Restaurant eintrifft, dem ehemaligen Salon eines Herren­hauses, malerisch auf einer kleinen Anhöhe einige Kilometer nördlich von Frankfurt im Vordertaunus gelegen. Der letzte wichtige Umbau erfolgte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, das Haus jedoch ist wesentlich älter und geht auf eine mittelalterliche Klosteranlage zurück. Einem verheerenden Brand während des Dreißigjährigen Krieges fielen Kirche und Nebengebäude zum Opfer, das Haupthaus mit den Unterkünften, dem Dormitorium und ­Refektorium blieben jedoch erhalten, wurde säkularisiert und in den folgenden Jahrhunderten immer wieder verändert und zu unterschiedlichen Zwecken genutzt.

Laura hat sich für ein Taxi entschieden und erreicht über eine geschwungene Auffahrt den Haupteingang, wo der Wagen halten und anschließend direkt weiterfahren kann. Ursprünglich für Kutschen angelegt, um ihnen das Wenden zu ersparen, bietet sich nun Autofahrern eine bequeme Möglichkeit, Insassen, die nicht gut zu Fuß sind, aussteigen zu lassen und dann den nahegelegenen Parkplatz anzusteuern.

Wie jedes Mal, wenn sie hier eintrifft, bleibt sie zunächst im weitläufigen Vestibül stehen, um sich am Anblick der Kristalllüster, der Samtportieren und des Stucks zu erfreuen. Hier ist sie noch zu spüren, die Welt des Großbürgertums, dessen Einkommensverhältnisse solch einen Empfangsraum gestatteten. Mit Sicherheit wäre in früheren Zeiten sofort ein distinguierter Butler erschienen, der sich zunächst der Garderobe angenommen hätte, um dann vorauszuschreiten und die Ankömmlinge den Herrschaften anzukündigen. Nun, das ist Geschichte, heute kümmern sich Mitglieder des Servicepersonals um die Gäste. Wäre Laura später erschienen, hätte man sie sofort in Empfang genommen, aber jetzt wird noch niemand erwartet und so macht sie sich allein auf den Weg ins Restaurant. Nur wenige Schritte ist sie gegangen, als ihr bereits Johannes Lindner, der Sommelier, entgegenkommt. Ein Signalgong, der beim Überschreiten der Schwelle vor der regulären Öffnungszeit ertönt, hat ihm ihre Anwesenheit angezeigt. Die beiden kennen sich schon viele Jahre, ja, man kann sagen, sie sind zusammen alt geworden. Er arbeitet seit einer Ewigkeit in diesem Haus, ohne jemals den Drang verspürt zu haben, sich eine andere Stelle zu suchen. Auch die Stammgäste würden es als großen Verlust empfinden, nähme jemand anderes seine Position ein – genau wie Laura. Obwohl man sich nicht häufig sieht, ist ein freundschaftliches Verhältnis entstanden.

Jetzt kommt er mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Wie schön, dass du wieder der Einladung gefolgt bist. Jetzt haben wir etwas Zeit, ein paar Worte miteinander zu wechseln, bevor der Sturm losbricht. Wie geht es dir?« Und gleichzeitig abwinkend: »Diese Frage brauche ich nicht zu stellen. Dein Aussehen spricht für sich. Über das Alter einer Dame zu sprechen, gehört sich nicht, aber sei versichert, dass du in deiner Liga nicht viel Konkurrenz hast.«

»Ich würde dir das gerne zurückgeben, wenn es nicht so klänge wie: für dein Alter siehst du aber noch gut aus“, neckt sie ihn, „denn das empfinde ich nicht gerade als Kompliment.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen?« Er zieht sie an sich und küsst beide Wangen. »Du weißt doch, dass ich immer ein glühender Verehrer von dir war.«

Jetzt lacht Laura laut auf. »Lass das bloß nicht André hören, sonst reicht er noch die Scheidung ein.«

»Wird etwa von mir gesprochen?« Unbemerkt ist Johannes’ Gatte durch eine Seitentür hinzugetreten. »Was soll ich nicht hören?«

Laura lächelt ihn an. »Alles im grünen Bereich. Es ging nur um die überaus liebenswürdige Feststellung, dass Alter und Attraktivität sich nicht notwendigerweise ausschließen müssen.«

»Nun, das steht ja wirklich außer Frage.« Anmutig tänzelt er ein paar Schritte zurück, stützt die rechte Hand auf eine Konsole, die Linke in die Hüfte. »Allerdings muss man auch etwas dafür tun.« Er wirft den Kopf zurück, deutet auf sein Haar. »Hier fängt es schon an.« Und mit einem Augenzwinkern zu Laura: »Wie gut, dass wir zu den Menschen gehören, die niemals ergrauen.«

»Da kann ich nur beipflichten, obwohl Christoph mir immer das Lied vom Akzeptieren des Alters sang. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um mein Äußeres zu optimieren. Wobei ich betone in meiner Macht, denn unters Messer lege ich mich bestimmt nicht.«

»Gut, dass du das erwähnst. Ich habe nämlich manchmal das Gefühl, dass André darüber nachdenkt. Und das«, er legt seinem Partner liebevoll die Hand auf die Schulter, »hat er ja nun wirklich nicht nötig.«

Ein merkwürdiges Paar. Laura verkneift sich mit Mühe ein Grinsen. Johannes, ein hoch gewachsener Mann, ­seinem Namensvetter Hans Albers nicht unähnlich, mit sorgfältig gescheitelten, silbergrauen ­Haaren, vermittelt in seinem tadellos sitzenden, schwarzen Anzug, an dessen Revers die goldene Traube, das Erkennungs­zeichen der Sommeliers, steckt, den Eindruck eines Gentleman der alten Schule, während André, unablässig in Bewegung wie ein Kolibri, auch dessen leuchtende Farben übernommen hat. Dunkelbraune Haare umrahmen in weichen Locken das schmale Gesicht, geschmückt von einem längst aus der Mode gekommenen Menjoubärtchen. Ein Seidenschal in sattem Violett ist um seinen Hals geschlungen und verschwindet im fliederfarbenen Hemd. Das Jackett ist weiß mit azurblauem Einstecktuch, einzig die Hosen sind als Zugeständnis an seine Position in klassischem Schwarz gehalten. Mittelgroß von Statur hat er sich eine geschmeidige Schlankheit bewahrt und ist vom Alter her kaum einzuschätzen. Wenn Laura nicht wüsste, dass das Paar gleichaltrig ist, würde sie ihn für jünger halten.

Die beiden sind nun schon seit über acht Jahren zusammen. Es war Liebe auf den zweiten Blick. Obwohl sie sich bereits einige Jahre kannten, funkte es erst als André, letzter Abkömmling einer ehemals verzweigten und wohlhabenden Familie, nach dem Tod seiner Mutter das Anwesen übernahm. Sie hatten nun oft miteinander zu tun und kamen sich zu ihrer eigenen Überraschung, sowie dem großen Erstaunen der Mitarbeiter, näher als vermutet. Letzteren war zwar Andrés sexuelle Orientierung durch seine häufigen Besuche nicht verborgen geblieben, da er nie einen Hehl daraus machte, aber niemals hätte jemand die gleiche bei Johannes vermutet. André war es auch zuzuschreiben, dass die Beziehung öffentlich wurde, da es keinesfalls in seiner Absicht lag, sich zu verstecken. Es hatte eine Weile gedauert Johannes, der sein Privatleben konsequent abschirmte, davon zu überzeugen, dass Offenheit der bessere Weg sei, um Gerüchten von vornherein die Grundlage zu nehmen. Wie sich bald herausstellte, war die Entscheidung goldrichtig, denn ihr Ansehen wurde in keinster Weise geschmälert. Auch den Mitarbeitern wäre es im Traum nicht eingefallen, eine despektierliche Bemerkung zu machen, denn es ist ein Privileg, in diesem Haus zu arbeiten und Diskretion ist ohnehin oberstes Gebot.

Allerdings wissen nur ganz wenige Gäste, die zum Freundeskreis zählen, von der Verbindung. Obwohl das Paar sie nicht verschweigt, wird sie auch nicht an die große Glocke gehängt, zumal ihre ­Aufgabenbereiche ohnehin unterschiedlich sind: Andrés Mutter, in deren Händen alle Fäden zusammenliefen, hatte ihren Sohn nach der Diagnose eines fortgeschrittenen Leberkarzinoms gebeten, die Geschäftsführung von Restaurant und Hotel zu übernehmen und er hatte es nicht übers Herz gebracht, abzulehnen. Keine einfache Entscheidung, denn als Geschichtswissenschaftler war er für die Redaktion des Feuilletons einer überregionalen Zeitung zuständig. Die Zusage, im Status eines freien Mitarbeiters weiter an deren Gestaltung mitwirken zu können, hatte den Ausschlag gegeben. ­Glücklicherweise blieb Zeit für eine gründliche Einarbeitung, sodass er nach dem Ableben seiner Mutter für die Aufgabe gerüstet war.

Johannes berührt Laura leicht am Arm. »Nun, wie sieht es aus, wollen wir ein Gläschen Champagner nehmen, bevor wir in die Unterwelt hinabsteigen?«

Sie winkt ab. »Nein, lieber nicht. Es gibt nachher noch genug Alkohol. Ich bin leider nicht diszipliniert genug, den Probeschluck wieder auszuspucken, wenn mir ein Wein besonders gut gefällt. Außerdem freue ich mich auf die Privatführung zu den Kostbarkeiten.«

Gut, dass wir nicht wirklich hinabsteigen müssen, denkt Laura, als der geräumige Aufzug ein Stockwerk tiefer gleitet, meinem Knie wäre das nicht gut bekommen. Kühle Luft schlägt ihnen entgegen, als sich die Tür öffnet und Laura zieht unwillkürlich ihren Mantel etwas enger um sich. Mehr als fünfzehn Grad werden es wohl nicht sein. Ein Glück, dass sie mit der Kleidung vorgesorgt hat, auch wenn die Temperatur im Probierraum etwas höher liegen dürfte.

Johannes hat die Führung übernommen. Seine weit ausholende Geste umfasst das ausgedehnte Gewölbe. »Mein Reich.« Stolz schwingt in seiner Stimme mit. »Du kennst es ja bereits.«

Ja, Laura kennt es und kann seinen Stolz nachvollziehen. Die Anzahl der Flaschen ist atemberaubend, aber noch atemberaubender ist, dass ihr Begleiter jede einzelne kennt, sie in der Hand gehalten, das Etikett betrachtet und Rückschlüsse auf den Inhalt gezogen hat. Er ist für den Einkauf und die optimale Lagerung verantwortlich. Weine aus ganz Europa sind hier versammelt, aber auch solche aus Kalifornien, ­Argentinien, Brasilien, Chile, Australien, Südafrika und Neuseeland, wo in den letzten Jahren riesige Kulturflächen mit Reben entstanden sind. Wenn auch ein großer Teil der Produktion zu gefälligen Industrieweinen verarbeitet wird, so sind doch auch Tropfen von ausgezeichneter Güte dabei, wie selbst Christoph zugeben musste, der oft genug monierte, dass ein großer Teil der Rotweine ›marmeladig‹ schmecke. »Die reinsten Fruchtbomben«, war sein häufig wiederkehrender Kommentar, »längst nicht so facettenreich wie die hiesigen Gewächse.« Laura jedoch konnte sich damit anfreunden, ihr gefallen die schweren Geschütze ausgesprochen gut zu kräftigen Fleischgerichten. Dies mag allerdings auch darauf beruhen, dass ihr kein so differenzierter Geschmacks- und Geruchssinn wie ihrem verstorbenen Mann und Johannes gegeben ist. Die beiden jedenfalls waren sich in ihrer Einschätzung einig und öffneten im privaten Rahmen nur in Ausnahmefällen einen Wein aus Übersee.

Als sie den größten Teil des Kellers durchschritten haben, deutet Johannes nach rechts. »Hier entlang. Um die Ecke gibt es ein kleineres Nebengewölbe, von dem man vermutet, dass es früher als Eiskeller diente.«

Nur wenige Schritte sind sie gegangen, als der Sommelier so abrupt innehält, dass seine Begleiterin fast gegen ihn prallt. »Was zum Teufel …« Er beugt sich vornüber. »Das darf doch nicht wahr sein! Sieh dir diese Bescherung an.«

Laura drängt sich an ihm vorbei und nimmt die Bescherung in Augenschein. Direkt hinter dem Eingang der offen stehenden, schmiedeeisernen Tür liegen in einer riesigen Pfütze die Überreste einer Weinflasche, von der nur das untere Drittel mit dem dicken Boden heil geblieben ist. Vorsichtig, um sich nicht die Schuhe zu beschmutzen, tritt sie hinzu und dreht mit spitzen Fingern eine Scherbe mit dem größten Teil des Etiketts nach oben.

»Ach du lieber Himmel!« So viel versteht sie von Wein, um einschätzen zu können, dass hier eine Menge Geld vernichtet wurde. »La Tache, Jahrgang 1961. Das ist ja wirklich ein Malheur. Burgund, wenn ich mich nicht irre?«

Es dauert einen Moment, bis Johannes die Sprache wieder findet. »Ja, Côte de Nuits, einer der teuersten Weine überhaupt. Viele dieses Jahrgangs gibt es nicht mehr. Wir wollten ihn irgendwann auf einer Auktion versteigern lassen. Einige Tausender hätte er auf jeden Fall gebracht.« Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare, sucht nach Worten. »Er war mir anvertraut, ich bin für ihn verantwortlich. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie das passieren konnte. Nur ganz wenige haben einen Schlüssel. Ich natürlich, André und ­Marcel, der Küchenchef. So viel ich weiß, war keiner von beiden in der letzten Zeit hier und bei mir ist es auch schon eine Weile her.«

»Wieso Marcel? Der hat doch eigentlich hier unten nichts verloren.«

»Eigentlich nicht, aber auch er schätzt edle Tropfen und kauft ab und zu einen, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet. Sein Keller eignet sich nicht zur Lagerung und so bot ich ihm an, die Flaschen hier aufzubewahren.« Er deutet auf ein kleineres Regal. »Die gehören ihm. Es sind interessante Sachen dabei.«

Vorsichtig die Pfütze umgehend nähert sich Laura den Flaschen und betrachtet die Etiketten ohne sie zu berühren. »Überwiegend Bordeaux und viele aus den 80er Jahren«, stellt sie fest.

Johannes nickt. Er hat die Fassung wiedergewonnen. Das Gespräch über sein Lieblingsthema gibt ihm Sicherheit zurück. »Ja, das beste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Außer 1984 – und auch der ist teilweise noch gut in Form, obwohl gegenteilig prognostiziert – alles sensationelle Jahrgänge, im tradierten Stil ausgebaut.«

Sie erinnert sich daran, dass auch Christoph von einem neuen Stil sprach, der sich Ende des ­vergangenen Jahrhunderts durchgesetzt habe, war aber nicht weiter in die Materie eingedrungen. Jetzt allerdings ergreift sie die Gelegenheit, nachzufragen. »Was ist heute anders?«

»Um die Weine dunkler und dichter zu machen, konzentriert man den Most durch Wasserentzug. Das bedeutet, dass nicht nur der Zuckergehalt höher ist, sondern auch die Säure, die Inhalts-, Farb- und Aroma­stoffe. Die Bordeaux früher Zeiten wiesen niemals den intensiven, fast ins Violette spielenden Rotton auf, sondern waren wesentlich heller. Engländer, als große Liebhaber dieser Weine, bezeichneten sie als ›Claret‹ und bis heute hat sich dieses Synonym für Bordeaux im anglophonen Raum erhalten.«

»Ich verstehe. Allein daran kann man also schon mal eine grobe Datierung vornehmen.«

»Genau. Es gibt natürlich eine ganze Menge weiterer Kriterien der Zuordnung.«

»Von denen mir zumindest eines geläufig ist«, fügt Laura an. »Meistens erkenne ich, ob ein Wein rechts oder links der Rhone angebaut wird. Die von der rechten Seite mag ich lieber, weil der Merlotanteil höher ist.«

»Ich weiß, was du meinst. Sie sind etwas gefälliger, sanfter. Viele Damen sind der gleichen Meinung, was wohl damit zusammenhängen mag«, er lächelt charmant, »dass euch die gleichen Attribute auszeichnen.«

Laura ist noch immer mit dem Studium der Etiketten beschäftigt, als ihr plötzlich etwas auffällt. »Schau mal.« Sie deutet auf eine Flasche. »Die muss erst letztens rausgenommen worden sein. Ihre Staubschicht ist völlig verwischt.«

»Tatsächlich. Es sieht Marcel überhaupt nicht ähnlich, so unvorsichtig mit seinen Preziosen umzugehen. Château Canon 1947. Ausgezeichneter Jahrgang. Könnte durchaus noch gut trinkbar sein. Vielleicht hat er die Flasche neu verkorkt und deshalb herausgenommen. Das ist die einzige Möglichkeit, die mir einfällt. Aber wie dem auch sei, wenigstens ist sie noch heil und wird ihm irgendwann Freude machen, egal ob er sie selbst öffnet oder weiterverkauft. Ich frage mich nur, was mit dem Burgunder geschehen ist. Von allein ist er mit Sicherheit nicht aus dem Regal gerutscht. Irgendjemand hatte seine Hand im Spiel. Wer und warum ist mir allerdings ein Rätsel.«

»Vielleicht, um ihn zu stehlen«, schlägt Laura vor. »Ich denke an jemanden, der sich sehr gut mit Wein auskennt. Schließlich hat er zielstrebig mit zum ­teuersten gegriffen, der hier unten zu finden ist. Und das wiederum weist auf jemanden hin, der mit der Materie vertraut ist. Wie viele kennen sich denn hier aus?«

»Du hast in allen Punkten recht und genau das ist es auch, was mich so irritiert. Natürlich hat das Servicepersonal Zutritt, denn wir verkaufen jeden Abend einiges an Flaschenweinen und ich habe nicht immer die Zeit, sie heraufzuholen. Aber dieser Teil wird durch eine Tür gesichert, die immer verschlossen ist.«

»Und wenn die Tür durch ein Versehen nicht verschlossen war? Dann hätte jeder hineinspazieren und sich bedienen können. Nein«, Laura ignoriert die abwehrend erhobenen Hände, »sag nicht, das ist unmöglich. Wie oft ist man total davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben und das Gegenteil ist der Fall. Mir ist das vor ein paar Tagen so gegangen. Ich hätte schwören können, mein Auto wie immer abgeschlossen zu haben und als ich einsteigen wollte, waren alle Türen offen. Nur ein Glücksfall, dass nichts weggekommen ist. Was hast du jetzt vor? Willst du die Polizei informieren?«

Johannes zuckt unschlüssig mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau, vielleicht sollte ich zunächst versuchen, die Sache intern zu klären.«

»Das würde ich dir ehrlich gesagt nicht empfehlen. Jetzt können noch Spuren gesichert werden. Eigene Recherchen dauern eine Weile. Du müsstest die Tür wieder verschließen, was bedeutet, dass Scherben beiseite geschoben werden, deren Lage möglicherweise Hinweise geben. Ein paar tausend Euro sind ja schließlich kein Pappenstiel. Ihr seid doch versichert?« Johannes nickt. »Selbstverständlich.«

»Also, dann muss auf jeden Fall Anzeige erstattet werden, ansonsten wird es Schwierigkeiten mit der Versicherung geben. Wenn ich es richtig sehe, kann das Debakel auch noch nicht lange her sein.« Sie bückt sich, um mit dem Zeigefinger in die Lache zu tupfen. »Siehst du, frisch. Da ist noch nichts eingetrocknet.« Sie zögert einen Moment. »Obwohl Luftfeuchtigkeit und Temperatur natürlich Einfluss haben. Ich will mich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, vielleicht sind doch schon ein oder zwei Tage vergangen. Übrigens sieht es so aus, als hätte jemand halbherzig versucht, den Boden zu säubern«, sie deutet auf Wischspuren, »es aber dann wieder aufgegeben. Und schau mal, hier ist sogar der Teil eines Schuhabdrucks. Vielleicht kann der ja auch weiterhelfen.«

»Wenn auch ungern, muss ich zugeben, dass mir deine Argumente einleuchten. Auch im Ruhestand kannst du deinen früheren Beruf nicht verleugnen. Außer­dem ist mir gerade noch etwas aufgefallen. Es riecht irgendwie merkwürdig.«

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